Montagsdemonstration in Leipzig im Jahr 1989 / dpa

Cicero-Buch „Im Demokratielabor“ - Ostdeutschland zwischen Freiheit und Populismus

Im Cicero-Buch „Im Demokratielabor – Ostdeutschland zwischen Freiheit und Populismus“ befassen sich renommierte Autorinnen und Autoren in pointierten Essays mit dem Osten als Seismograph gesellschaftlicher und politischer Umbrüche. Lesen Sie hier den Beitrag von Marko Martin.

Autoreninfo

Marko Martin, geboren im mittelsächsischen Burgstädt, verließ im Mai 1989 als Kriegsdienst-Totalverweigerer die DDR und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Soeben erschienen: „Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober“ (Tropen Verlag) / Foto: Anke Illing

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Seit Jahren beschäftigt sich die öffentliche Debatte in Deutschland mit der Frage nach der besonderen politischen Verfassung des Ostens. Meistens jedoch in Form einer Defizitbeschreibung wegen hoher Wahlergebnisse der AfD oder allgemein fehlendem Demokratieverständnis. Doch ist das wirklich die richtige Herangehensweise zur Beschreibung und zum besseren Verständnis des Ostens? Das Cicero-Buch „Im Demokratielabor – Ostdeutschland zwischen Freiheit und Populismus“ (Verlag Herder) befasst sich in pointierten Essays renommierter Autorinnen und Autoren mit dem Osten als Seismograph gesellschaftlicher und politischer Umbrüche im Schlechten wie im Guten und mit der Frage, wie diese ostdeutschen Erfahrungen produktiv genutzt werden können. Hier lesen Sie den Beitrag „Widerstands-Travestie – Von wahren und falschen Dissidenten“ von Marko Martin. 

Gegen Ende seines Lebens zeigte sich der britisch-polnische Soziologe Zygmunt Baumann (1925–2017) skeptisch, ob Erfahrungen über Generationen hinweg tatsächlich vermittelbar seien – und gar das Potenzial besäßen, auch in Gegenwart und Zukunft hineinzuwirken. „Nachgeborene wissen besser (anders) als ich, was ihre Welt ist; sie wissen nicht so gut (oder anders), was sie nicht ist. Aber ihnen ihre Welt mit einem Verweis auf die Vergangenheit beschreiben zu wollen, die ich erlebt habe, ist, wie ihnen zu erklären, was Wasser ist, indem man ihnen eintrichtert, dass es keine feste Substanz ist.“ Mit Blick auf die sogenannten neuen Bundesländer würden haupt- oder freiberufliche Identitätsstifter hier vermutlich sogleich Widerspruch anmelden. Denn hatten dort nicht „wir alle im Herbst 1989 Revolution gemacht“, worauf man nicht nur zu Recht stolz sein könne, sondern deshalb sogar in der Lage sei, die einstige Widerständigkeit als emanzipatorisches Erbe weiterzugeben?

Wünschen, die sich als Schlussfolgerungen ausgeben und darüber hinaus auf Projektionen beruhen, sollte indessen mit Vorsicht begegnet werden – gerade dann, wenn man mit ihnen sympathisiert. Denn was wäre tatsächlich bezirzender, käme zur alt-bundesdeutschen Geschichte einer erfolgreichen Westbindung nun die emanzipatorische ’89er-Erfahrung des Ostens? Umso mehr in löblich motivierenden Sonntagsreden auch kaum je der Hinweis darauf fehlt, dass sich „die“ Ostdeutschen – im Unterschied zu „den“ Westlern, die Dank Marshall-Plan, Re-Education, Nato und damaliger EWG quasi in die Demokratie hineingetragen worden waren – ihre Freiheit selbst erkämpft hatten, damals auf den Straßen von Leipzig, Dresden und Ostberlin. Außerdem: Hatte es jene berühmten Montagsdemos, die das SED-Regime schließlich implodieren ließen, nicht sogar in kleinen Städten gegeben – etwa im vogtländischen Plauen, dessen Straßen voller Menschen gewesen waren, die sich nun erstmals in ihrem Leben trauten, ihre Bürgerrechte öffentlich einzufordern?  

Wohl wahr. Die politische, aber auch emotionale Energie jener Wochen und Monate, die plötzliche Angstfreiheit in den Gesichtern und in der gesamten Körperhaltung der Menschen, das Gewitzte der Plakat-Aufschriften, ja der gesamte move zählen zweifellos zu den schönsten und bewahrenswertesten Momenten in der bisherigen deutschen Geschichte. Umso größer deshalb die Herausforderung, all dies nicht in wohlmeinend paternalistischem Kitsch zu ertränken. Da im Herbst ’89 eben keineswegs „wir alle auf den Straßen gewesen waren“. Die Proteste gegen die gefälschte Kommunalwahl im Frühjahr jenes Jahres, quasi der erste Akt zum Zusammenbruch der Diktatur, waren von mutigen, doch verhältnismäßig wenigen Bürgerrechtlern initiiert worden; auch die nachfolgenden Demonstrationen, in denen Menschen ihre Ausreise aus der DDR forderten bzw. unter dem Slogan „Wir bleiben hier!“ für demokratische Reformen stritten, war alles andere als eine „Volksbewegung“. 

Und die Zehn- ja Hunderttausende, die sich danach bei den Montagsdemonstrationen auf die Straßen wagten, in Akten ungeheuren Muts ihre Angst überwanden, die in den ersten Oktobertagen ’89 noch von Polizei und Stasi-Kräften eingekesselt wurden, viele von ihnen zusammengeschlagen und brutal „zugeführt“? Ihnen kann die wiedervereinigte Bundesrepublik gar nicht dankbar genug sein – war zum damaligen Zeitpunkt doch keineswegs vorauszusehen, dass die Sowjetunion unter dem expansionsmüden KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow diesmal ihre Panzer in den Kasernen belassen und ihre ostdeutschen Satrapen ebenfalls vom Blutvergießen abhalten würde.

Hinter den Gardinen

Was danach geschah – und was aus heutiger Perspektive fälschlicherweise als „völlig logisch“ erscheint –, ist deshalb ohne die Initialzündung jener ersten Massendemonstrationen gar nicht vorstellbar. Doch zur Erinnerung: Die DDR besaß damals knapp 17 Millionen Einwohner. Deren überwältigende Mehrheit hatte also damals nicht demonstriert und war dann selbst bei den (nun gefahrlos gewordenen) Groß-Manifestationen nach dem Mauerfall, in denen eine zügige Wiedervereinigung gefordert wurde, nicht in der Öffentlichkeit sichtbar. 

Diese Tatsache zu konstatierten, impliziert keine moralische Wertung. Es könnte jedoch dabei helfen, sich von allzu romantisierenden Deutungen zu verabschieden und stattdessen den Blick auf Tiefenschichten – sowohl jene des Engagements wie jene des Abwartens – zu schärfen. Zwar ist es wahr, dass gesellschaftliche Umbrüche und Veränderungen immer zuerst von einer Minderheit angestoßen werden. Ebenso unbestreitbar indessen, dass es nicht Jahre, sondern Jahrzehnte braucht, um verinnerlichte Verhaltensmuster zu verändern (und zwar nicht „nachhaltig“, wie das Modewort lautet, sondern in einem der lebendigen und das heißt auch immer: konfliktuösen Demokratie immanenten work in progress).

Zur weiteren Erinnerung: Von Ende 1932 bis zur ersten und letzten freien Volkskammer-Wahl im Frühjahr 1990 hatte es auf diesem Territorium keine Möglichkeit demokratischer Abstimmungen gegeben. Dafür jedoch zwei Diktaturen, eine davon völker- und massenmörderisch, die keineswegs nur als Opfer-Historie erzählbar sind, sondern auch Millionen Täter- und Mitläufergeschichten mit in den Blick nehmen müssen – inklusive unzähliger Mischformen in den individuellen Biografien. 

Nicht zu vernachlässigen auch der ebenfalls Millionen zählende Brain Drain: Eine Massenflucht jener häufig besonders aktiven Bürger und „Leistungsträger“, welche bereits in den ersten Tagen der damaligen Sowjetischen Besatzungszone begonnen hatte, sich bis zum Mauerbau 1961 fortsetzte und selbst in den Ausreisewellen der Achtziger Jahre und in der Bewegung der Botschaftsflüchtlinge vom Sommer ’89 noch nicht zum Ende gekommen war. In der kühlen Sprache der Bevölkerungsstatistik: „Durch Wanderungsverluste haben die ostdeutschen Bundesländer im deutschen Einigungsprozess rund 1,7 Millionen Bürger verloren.“ Und die übergroße Mehrheit der dennoch „Dagebliebenen“? Summarische Urteile – ob nun harmonisierend-gesundbeterisch oder vom westlichen Podest politischer Korrektheit abwertend herabgesprochen – müssten sich eigentlich von selbst verbieten: Jede Pauschalaussage trägt ihre eigene Fehlerquote bereits in sich.      

Zur Abwechslung deshalb einmal einer jener treffsicheren Ost-Aphorismen, populär geworden in der Zeit vor und nach der Wiedervereinigung und mitunter noch heute von manch Älterem zu vernehmen. „Dafür hammor im Herbst ’89 nisch hinner den Gardinen gestandn.“ Was weit mehr ist als der berühmte „sächsische Mutterwitz“: Als Travestie des pathetisch gegenwarts-nöligen „Dafür sind wir damals nicht auf die Straße gegangen ...“ liefert der Spruch nicht nur die kluge selbstironische Einsicht in damalige Passivität, sondern auch in heutiges Kompensationshandeln, wie es etwa bei den sogenannten „Montagsspaziergängen“ und den lautstarken Protesten gegen die Corona-Auflagen sichtbar geworden war. Ein quasi nachgeholter Widerstand, nunmehr allerdings völlig risikolos und gegen die temporären Entscheidungen demokratisch gewählter Amtsträger gerichtet. Doch hätten sich deren zum Teil durchaus fragwürdige Verordnungen nicht anders kritisieren lassen als mit der absurd geschichtsrevisionistischen Behauptung, man lebe ja längst wieder in einer „DDR.2000“?

Eine solche Nachfrage wäre indessen ebenfalls sinnvoller, würde sie nicht andauernd im Tremolo moralischer Empörung gestellt, sondern mit Blick auf die Effizienz und Plausibilität diverser Forderungen und Haltungen. Denn in der Tat: Eine bis in unsere Tage hinein empfundene (nicht selten auch lautstark imaginierte) Ohnmacht rührt nicht zuletzt aus einer 1989-Erinnerung, die sich eben nicht aus gemeinsam überwundener Angstfreiheit speist, sondern im Gegenteil aus jenem mürrisch-abwartenden Stehen hinter den Dederongardinen der Neubaublocks, Reihen- oder Einfamilienhäuser. 

In letzteren wohnen häufig noch immer die gleichen Besitzer bzw. deren Kinder, während viele der damaligen heruntergekommenen Altstadthäuser inzwischen bezirzend restauriert sind – und, den gängigen Gentrifizierungs-Legenden zum Trotz, keineswegs allein finanziell potente westdeutsche Zuzügler beherbergen. Und nicht etwa wie in den Neunziger Jahren Massenarbeitslosigkeit, sondern fortgesetzte Massenabwanderung und Arbeitskräftemangel bedroht ganze Regionen. Gleichzeitig spricht vieles dafür, dass jener „Gefühlsstau“, den der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz 1990 in einem gleichnamigen, zum kontrovers diskutierten Bestseller gewordenen Buch seinen Landsleuten bescheinigte, auch drei Jahrzehnte später noch immer wirkungsmächtig ist.

Das Opfer-Narrativ

Das kollektiv eruptive Aufbrausen, wie es die östlichen Wahlerfolge zuerst der SED-Nachfolger der PDS/Linkspartei und seither der AfD suggerieren, steht zu diesem „Gefühlsstau“ nur vordergründig in Widerspruch – unabhängig davon, dass noch immer eine (fragile) Mehrheit der bei den jeweiligen Wahlen Abstimmenden nicht für diese Parteien votiert. Denn sowohl Linke – und nunmehr die Wagenknecht-Vereinigung BSW – wie auch die AfD bewirtschaften auf durchaus autoritäre Weise ein Opfer-Narrativ, das den angeblich seit 1990 „nach Strich und Faden betrogenen“ Ostdeutschen eine einzige Form des Widerstandes offeriert: Wählt uns!

Unter den linken Forderungen nach noch mehr etatistischer „sozialer Gerechtigkeit“ und dem ultrarechten Appell „Vollende die Wende!“ (der bei der AfD häufig mit der Nostalgie nach einer zumindest ethnisch homogenen DDR-Volksgemeinschaft und einem kargen, jedoch autarken Wirtschaftsraum einhergeht) wird nicht etwa der mündige, sondern der in Wut versetzte Bürger angesprochen – und dabei mit einer erfolgversprechenden Behauptung umgarnt: „Wir im Osten haben doch schon einmal ein Regime gekippt!“

Widerstands-Travestie hat somit ganz verschiedene Gesichter, wenn selbstverständlich auch nicht jeder Protest darunter zu subsummieren ist. Mag nämlich die auf öffentlichen Kundgebungen ebenso wie im privaten und semi-privaten Gespräch häufig zu hörende Formel „Wir im Osten lassen uns eben nüscht gefallen“ zwar geflissentlich verdrängen, dass man/frau sich eben bis 1989/90 sehr wohl und sehr viel hat gefallen lassen – sie besitzt dennoch ein Realitätssediment, das nicht allein aus Ressentiments besteht und ernst zu nehmen ist. 

Tatsache ist nämlich, dass in den sogenannten alten Bundesländern noch immer kaum ins Bewusstsein gesickert ist, welche Lebensleistung Millionen Ostdeutsche nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes vollbracht haben – unabhängig von der Frage, ob sie während der damaligen Demonstrationen auf der Straße waren oder hinter jenen Gardinen verharrt hatten. Oft bereits in der Mitte ihres Lebens, mussten sie sich „neu erfinden“, Arbeitsplätze wechseln oder verlieren, Weiterbildungen besuchen, Unternehmen aufbauen (mit ihnen dann reüssieren oder auch wieder bankrott gehen), sich mit einem völlig anders strukturierten Gesundheits-, Verwaltungs- und Schulsystem ins Benehmen setzen, neues Miet- und Versicherungsrecht pauken, usw. usf. Wobei gerade hinter diesen zwei Kürzeln Millionen Biografien stehen, Lebenswege des Gelingens oder auch Scheiterns, einschließlich einer Unzahl an hoch-ambivalenten Mischformen der Erfahrung.

Es ist deshalb keine polemische Überspitzung, wenn man konstatiert, dass just diese Lebensleistungen im Westen noch nicht einmal ansatzweise begriffen, geschweige denn emotional wertgeschätzt wurden. Dabei ließe sich gerade mit Blick auf diese Transformationserfahrung – ohne Gegenläufiges zu ignorieren – schließlich doch noch eine östliche Erfolgsgeschichte des Widerständigen erzählen: eine Geschichte von Fleiß und Gewitztheit, von (im Westen ebenfalls eher unbekanntem) Improvisations- und Bastlergeschick, von einem geradezu ungeheuren Lebensmut, der sich zwar nunmehr nicht mit einer allmächtigen Staatspartei messen musste, so aber doch mit den nicht minder einflussreichen „Dingen des Lebens“, mit tausendundeiner neuen Alltagsherausforderung.

Die ostdeutsche Selbstermächtigung

Mehr als jene ohnehin nur Behauptung gebliebene Rede vom „Revolutionsvolk“ könnten damit die Erinnerungen an solch ostdeutsche Selbstermächtigung gewiss so etwas wie eine positive Identitätserzählung stiften. Dass es dazu (noch) nicht gekommen ist, liegt freilich nicht zuletzt an jenen mentalen Altlasten, die weiter oben beschrieben sind.     

Irritierende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Eine nun bereits dreieinhalb Jahrzehnte währende und generationsübergreifende robuste oder auch vorsichtig wägende (Wieder-)Entdeckung individueller Entscheidungsmöglichkeiten und ein trotziges Sich-Einigeln in einem imaginären Opferkollektiv, das ebenfalls beinahe alle Altersschichten umfasst. Überaus berechtigter, bei Nachfragen gern auch äußerst detailliert Gründe aufzählender Stolz auf all das inzwischen selbst Geschaffene und die immer wieder überraschend pauschale Klage, „man kann ja nüscht machen – weder damals noch heute“.

Spekulation: Stammt dieses quasi prophylaktische Sich-Klein-Machen womöglich noch aus jener Zeit, in der man glaubte, man gehe am besten mit gesenktem Kopf umher – „falls wieder mal der Hammer kommt“? In der Eigenwahrnehmung – sowie in der Interpretation so mancher mit derlei „Osttrotz“ sympathisierender Westler – hört es sich freilich ganz anders an. Denn nicht nur in der DDR, sondern auch in der Gegenwart würde es staatliche Übergriffe geben – siehe die Corona-Maßnahmen 2020/21. Auch hätten gestern wie heute „die da oben“ diverse Großprojekte, „um uns umzumodeln“. Zwar sei nun nicht mehr der „neue sozialistische Mensch“ das Ziel, sondern ein multi- und willkommenskulturell EU-kompatibles Wesen, das volkspädagogisch penetrant – und bei Androhung gesellschaftlichen Banns – verpflichtet würde auf ökologische Nachhaltigkeit und semantische Achtsamkeit. Möchte man es sich leicht machen (viele andere, und wiederum im Westen, tun es), könnte man hier mühelos so einige ultrarechte Narrative und Verschwörungstheorien aufspüren und herausfiltern. Allerdings: Und dann? Wo wäre der weitergehende Erkenntnisgewinn?

Hausmeister-Schlauheit in der globalisierten Gesellschaft

Was ja jedenfalls eine Binsenweisheit ist: Das Land besteht nicht nur aus grün wählenden Großstadtvierteln, und konkrete Skepsis gegenüber unkontrollierter (und häufig vor Ort direkt erfahrener) Immigration ist ebenso wenig per se rassistisch wie ein Spott über die Miniatur-Verästelungen des Genderns und universitärer Identitätspolitik der Ausweis ist für gewaltbereites Machotum. Widerrede, sofern zivilen Standards entsprechend, gehört zur Demokratie, und das alltagsnahe, gern auch sarkastische Hinterfragen politischer Zielvorgaben ist nun tatsächlich etwas, für das die Menschen 1989 auf die Straße gegangen waren – in welcher Zahl auch immer.

Freilich – und zwar ohne folgenlos zu moralisieren, sondern dem Pragmatismus eine Gasse bahnend: Was bringt’s wirklich jenem Teil der Wählerschaft, die ihr Kreuz ausgerechnet bei der AfD abladen? Der von dieser Partei propagierte Anti-EU-Kurs würde als Konsequenz zur Verarmung ganzer Landstriche führen, die schon heute unter Facharbeitermangel leiden, die Lieferketten ortsansässiger Unternehmen kämen ins Stocken und dergleichen mehr. Der zur Begründung für AfD-Präferenz oft ins Feld geführter Überdruss gegenüber Berliner Schulmeisterei und Brüsseler Regelungsübermut mag in vielen Dingen gerechtfertigt sein. Allein jedoch eine vermeintlich „typisch östliche“ Hausmeister-Schlauheit, die sich selbst konzediert, stets genau zu wissen „wie der Hase wirklich läuft“, wird den Lebenswirklichkeiten ausdifferenzierter, hochkomplexer und (natürlich längst auch im Osten) globalisierter Gesellschaften nicht im mindesten gerecht. 

Weshalb aber bleiben dann die ostdeutschen Unternehmensverbände so seltsam defensiv angesichts der irren Vision eines autarken, von der EU abgekoppelten Deutschland, einem Phantasma, das sich in seinem Schwärmen von einer homogenen Volksgemeinschaft in einem hortus conclusus nun tatsächlich ausnimmt wie eine braungetönte „DDR.2000“? Und weshalb dringen die Ost-Ministerpräsidenten, denen parteiübergreifend doch ein erfreulich hemdsärmelig-bürgernaher Habitus eignet, mit ihren ganz konkreten Warnungen nicht durch? Wobei wir schließlich wieder am Ausgangspunkt angelangt wären: It´s the mentality, stupid.

Was nämlich, wenn – und zwar im Unterschied zu den alten Bundesländern – jenseits der partiell überaus berechtigten Klagen über undurchdachte Heizungsgesetze, überquellende Flüchtlingsunterkünfte etc. hier noch etwas ganz anderes eine Rolle spielt? Denn so ist es ja landauf-landab zu hören: „Ukraine, Öko, Ausländer – und wo bleiben wir?“ Eine pauschalisierende Quengelei und ein narzisstisches Gefühl permanentes Gekränktseins, das wie selbstverständlich davon ausgeht, dass „der“ Westen sich in Abstand immer neue Problemlagen ausdenke, um „dem“ Osten jene Allein-Aufmerksamkeit zu entziehen, der ihm doch angeblich zustünde. 

Ein absurd imaginierter und aggressiv jegliche Eigenverantwortlichkeit leugnender Opfer-Status („Erst kam Hitler über uns, dann die Russen, nach ’89 die Treuhand und jetze die Ausländer und die Ökopaxe“) wird auf diese Weise repetiert – und sogar von manch Konservativen im Westen publizistisch beifällig begleitet – ganz so, als handele es sich hier um gesunde bürgerliche Skepsis anstatt um ein besorgniserregendes, weil letztlich apolitisches Flächen-Ressentiment. Auch derlei schwächt die liberale Demokratie. Ähnliches gilt für die unkritische Übernahme jener besonders von dem kreml-affinen BSW Sahra Wagenknechts verbreiteten Behauptung, der Osten habe zumindest eine besondere „Osteuropa-Kompetenz“ – und sei, was für eine infame Volte, deshalb gegen eine militärische Hilfe für die angegriffene Ukraine.

„Im Demokratielabor“ / Verlag Herder

Dabei gab es einst in der DDR vor allem dies: eine breite Abneigung gegen „die Russen“, die sich allerdings eher in gewisperten rassistischen Witzen offenbarte denn in klarer Sicht auf den bereits seit 1917 imperialistischen Charakter des Moskauer Regimes. Was die Oppositionsbewegungen im Ostblock betrifft, so schüttelten deren intellektuelle Vertreter eher ungläubig den Kopf über DDR-Schriftsteller wie Volker Braun, Christa Wolf oder Heiner Müller, die weiterhin einer nebulösen „sozialistischen Alternative“ anhingen anstatt Klartext zu sprechen über die (spät-)totalitären Strukturen des SED-Regimes. Ohnehin galt den regimekritischen Polen, Balten, Tschechoslowaken und Ungarn die DDR (zusammen mit Bulgarien) als die „treueste Baracke im Moskauer Lager“. Nicht wenige von deren ehemaligen Bewohnern zeigen nun der Ukraine, die unter entsetzlichem Blutzoll einer neuerlichen Kremlherrschaft zu widerstehen versucht, die kalte Schulter und nennen es – erneut unter so manch westlichem Beifall – „Friedenssehnsucht“ oder halt eben „unsere Osteuropa-Kompetenz“.

Wer nun glaubt, die Kritik an solch abstrusen Verdrehungen mit dem Vorwurf eines westlichen Paternalismus überziehen zu müssen und (dabei selbst paternalistisch argumentierend) „mehr Zeit und Verständnis“ anzumahnen, sei an eine schlichte Tatsache erinnert: Es waren weder vor noch nach 1989 zuvörderst Westdeutsche, die die ostdeutsche Gesellschaft kühl analysierten. Im Gegenteil. Von Schönrednern des Regimes wie dem einstigen Zeit-Chefredakteur Theo Sommer war noch 1987 zu lesen, die DDR Bürger brächten Erich Honecker „so etwas wie stille Verehrung“ entgegen, während nach Mauerfall Günter Gaus, der ehemalige bundesdeutsche Vertreter in Ostberlin, als Publizist nicht müde wurde, die DDR als „Nischengesellschaft“ zu verharmlosen und dabei jede Kritik am Fortleben autoritärer Verhaltensmuster abzubügeln mit beträchtlicher Arroganz.

Der Widerstand, den in der DDR geborene Bürgerrechtler und nicht-korrumpierte Schriftsteller diesem quasi gesamtdeutschen Verharmlosen entgegensetzten, war deshalb sogar ein zwei-, wenn nicht gar dreifacher: gegen das SED-Regime und dessen toxische Hinterlassenschaften in den Köpfen der Beherrschten – und gegen ein westliches Verharmlosen, das sich übrigens keineswegs allein aus hartleibiger DDR-Nostalgie speiste, sondern ebenso aus linksliberaler Ignoranz und dem konservativen Stabilitätswunsch, es müsse am besten Ruhe herrschen im Lande.

Wahre Widerständler

Das Insistieren auf individueller Verantwortlichkeit und das Hinterfragen gesellschaftlicher Passivität hat deshalb sehr wohl eine Tradition im Osten – und gerade an sie würde es sich lohnen anzuknüpfen. Viele, die 1989 tatsächlich „auf der Straße“ gewesen waren – und häufig zuvor auch schon in der Opposition aktiv –, hatten in der ersten Jahren nach der Wiedervereinigung Bürgerinitiativen und Vereine gegründet, die häufig noch immer existieren und das Rückgrat einer reflektiert kritischen Zivilgesellschaft bilden. Dazu zählen auch jene Gedenkorte – ehemalige Gefängnisse oder Jugendwerkhöfe –, an denen die Erinnerung an das SED-Unrecht wachgehalten und versucht wird, einer jüngeren Generation den existenziellen Wert eines Rechtsstaates sinnfällig zu vermitteln. (Wie erfolgreich/erfolglos derlei war, müsste angesichts der aktuellen Wahlergebnisse mit Sicherheit diskutiert werden. Tatsache aber ist, dass viele der engagierten „89er“ und ihre Nachfahren noch immer die besten und glaubwürdigsten Botschafter der liberalen Demokratie sind.)    

Dabei nicht zu vergessen: Die Chronik der Versäumnisse und Verdrängungen – sie wurde (und wird) ja ebenfalls von Ostlern geschrieben. Sind die Prosa-Miniaturen des 1977 aus Stasi-Haft in den Westen ausgebürgerten und 1999 an einem mysteriösen Blutkrebs verstorbenen Jürgen Fuchs in ihrer präzisen Darstellung des DDR-Alltags auch heute noch von Belang, um die Mechanik des Wegduckens und Schönredens zu verstehen, so haben mittlerweile auch jüngere Autoren jenes „Gestern im Heute“ eindrucksvoll thematisiert. 

Denn was wüsste man über die desorientierten „Baseballschläger-Jahre“ der Neunziger, als der böse Geist der rassistischen Pogrome von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda flächendeckend geworden zu sein schien, gäbe es nicht die Bücher von Manja Präkels und Daniel Schulz? Was Freya Klier 1990 in ihrer Untersuchung „Lüg Vaterland“ über die desaströsen Hinterlassenschaften des autoritären DDR-Bildungssystems dokumentiert, findet sich aufgenommen und erfahrungsbiografisch bis in die Gegenwart erweitert in den Büchern von Ines Geipel und Anne Rabe. Hinzu kommen die Texte, Biografien und klugen aktuellen Einsprüche des 1967 in Ostberlin geborenen Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk. Nicht zufällig trägt dessen jüngste Veröffentlichung den Titel „Freiheitsschock“.

Jenen bis heute in den neuen Bundesländern andauernden und hoch ambivalente Resultate zeitigenden Schock zu beschreiben ist dabei bereits selbst ein Akt der Widerständigkeit – nämlich ein Aufkündigen jener gesamt-nationalen Gesundbeterei, nach welcher „irgendwann schon alles gut werden wird“. Das tut es nämlich nicht. Wobei die Herausforderung gerade darin bestünde, sich von diesem Befund nicht etwa entmutigen zu lassen, sondern ihn dazu zu nutzen, der Realität ins Auge zu schauen: Die Aufgaben, die nun auch die Nachgeborenen erwarten, sind enorm.

„Im Demokratielabor – Ostdeutschland zwischen Freiheit und Populismus“. Verlag Herder. 144 Seiten, 16 Euro 

 

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Stefan Jarzombek | Di., 10. Dezember 2024 - 18:27

Mehr wird so manchem im Westen dazu nicht einfallen.
Wer hat die Tesla Fabrik ???
Im Osten der Republik tut sich was.
So oder so.
Im Westen macht Thyssen die letzte Hütte dicht und bei Ford und VW geht langsam das Licht aus.
Und dann, ja dann wählt der Osten Blau und der Westen kann nicht fassen, daß trotzdem immer was geht.
Der Westen sagt an wie's laufen soll, Friedrich Merz, Olaf Scholz, doch der Osten hat sich seine Meinungsfreiheit hart erkämpft und die 68er dort sind mit gänzlich anderem Wasser gewaschen.
Trotz einem Mario Voigt und Kretschmer in Sachsen,bleibt stark und blau.
Alles andere wäre schlimmer.
Zitat:
"Viele, die 1989 tatsächlich „auf der Straße“ gewesen waren – und häufig zuvor auch schon in der Opposition aktiv –, hatten in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung Bürgerinitiativen und Vereine gegründet, die häufig noch immer existieren und das Rückgrat einer reflektiert kritischen Zivilgesellschaft bilden."
Das hat sich im Westen wohl erledigt das mit Rückgrat.

Volker Naumann | Di., 10. Dezember 2024 - 18:32

Auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone gab es eine freie Wahl am 20. Oktober 1946.

Das Ergebnis entsprach nicht den Erwartungen der Besatzer und der gerade gebildeten SED. Danach wurde das Wahlrecht geändert.

MfG

Manfred Sonntag | Di., 10. Dezember 2024 - 19:04

Viel Text, viele Lorbeerkränze für das eigene Ego! Und der folgende Text ist der Gipfel der Unverfrorenheit gegenüber "Andersdenkenden": "Der von dieser Partei propagierte Anti-EU-Kurs würde als Konsequenz zur Verarmung ganzer Landstriche führen, die schon heute unter Facharbeitermangel leiden, die Lieferketten ortsansässiger Unternehmen kämen ins Stocken und dergleichen mehr." Dafür benötigen die Deutschen weder die AFD noch die BSW. Das einzige Manko ist, dass es nur 2 Opponenten gibt, die anderen haben sich zu politischen Abkömmlingen des Totalitarismus entwickelt. Für den jetzigen wirtschaftlichen &gesellschaftlichen Absturz unseres Landes tragen die 5 grünen Blockparteien die Verantwortung. Dabei haben sie im gleichen Atemzug Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung und Grundgesetz bis zur Unkenntlichkeit ruiniert. Dieses Buch dient der Selbstbeweihräucherung des Autors und bringt sicher auch noch einige Literaturpreise von NGO's und anderen Hilfstruppen der heutigen Eliten ein.

Wolfgang Borchardt | Di., 10. Dezember 2024 - 19:24

Der Wählerschaft nutzen sie wenig. Denn die politischen Akteure bestimmen, was wahre Demokratie ist. Die Altparteien beanspruchen ein Demokratie-Monopol. Auch wenn in gleicher demokratischer Wahl bestimmt, mag man die "Neuen" nicht und erklärt sie zu auszugrenzenden Undemokraten. Hierauf reagieren (die allmählich aussterbenden) ehemaligen DDR-Bürger empfindlich. Sie haben eine historische Erfahrung mehr als Westdeutsche. Sie glauben, dass der Alleinverfügungsanspruch auf die Demokratie, den einige machtbesorgte Parteien vertreten, weder ehrlich noch demokratisch ist.

Tomas Poth | Di., 10. Dezember 2024 - 20:03

Müßte es nicht eigentlich heißen, oder ein Buch geschrieben werden, mit dem Titel: Deutschland im Spannungsfeld von Nato und EU-Politik.
Solange wir als EU und Nato-Vasall funktionieren wird uns in diesem Rahmen "Freiheit" gewährt. Eine eigene Politik unserer Eigeninteressen, außerhalb dieses Rahmens ist uns verwährt!
Sobald wir an den Zwängen der EU und Nato rütteln werden die Halteriemen umso stärker nachgezogen.
Grüne und Teile der CDU gehen sogar soweit uns sogar in das Feuer gegen Russland werfen zu wollen, nur um die so verstandene Freiheit des Zwangssystems zu "verteidigen".
Opfertod und Zerstörung für die Geo-Politik des "Westens", das was wir gerade auch in der Ukraine vorgespielt bekommen oder auch im arabischen Raum.

Günther Anderer | Mi., 11. Dezember 2024 - 09:05

Mich stört, dass Lebensleistung bevorzugt im Osten gesehen wird. Auch im Westen hat es wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbrüche gegeben, die eine ständige Neuorientierung verlangt haben. Der Wohlstand musste nicht nur erarbeitet sondern auch durch Gewerkschaften im Arbeitskampf erstritten und bewahrt werden. Natürlich kann man beides nicht gleichsetzen. Aber der allgemeine Wohlstand in der Bundesrepublik war kein Geschenk, sondern das Ergebnis teils harter sozialer Konflikte Auseinandersetzungen.

<<Der Wohlstand musste nicht nur erarbeitet sondern auch durch Gewerkschaften im Arbeitskampf erstritten und bewahrt werden. >>

Das mit den Gewerkschaften war nur möglich, weil sie mit in der ersten Reihe der streikenden Arbeiter standen. Heute sind es Parteifunktionäre, die der Partei und deren Programm, dass diese vertreten Rechnung tragen müssen

Rainer Dellinger | Mi., 11. Dezember 2024 - 11:18

Ein Dankeschön an den Cicero für eine Sicht der westdeutschen Intellektuellen auf den Osten. Aber um die Menschen zu verstehen, würde ich vorschlagen, den Osten zu bereisen, bis nach Russland, so wie es früher Gerd Ruge und Peter Scholl-Latour getan haben. Das Verhängnis der gesellschaftlichen Entwicklung in Osteuropa begann schon zum Ende des 1.WK. Die Ossis hatten von 1933-1989 eine Diktatur, seit 1949 Planwirtschaft nach sowjetischem Muster. D.h. keine freie Entfaltung der Persönlichkeit. In dieser Zeit haben die Osteuropäer ein Gespür dafür entwickelt, wohin die Reise zur Zeit geht. Ein kleiner Ausflug zurück nach 40 Jahre Planwirtschaft hier aus einer Sendung der ARD https://www.youtube.com/watch?v=TCH2Q8zJb9A
Stimmt, viele Menschen verließen + verlassen nach 1990 das Land. Kein Wunder, denn die politischen Rahmenbedingungen sind seither nicht besser geworden. Und Montagsdemonstrationen finden immer noch statt.

Ernst-Günther Konrad | Mi., 11. Dezember 2024 - 12:17

Das Buchcover in AFD blau? Zufalle oder versteckte Hoffnung? Allein schon wegen der Grundfarbe weckt das Buck Kaufinteresse.

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