Die EU in diesem Jahr mit einer weiteren Flüchtlingskrise konfrontiert werden: Migranten und Polizei auf Lampedusa / dpa

Ausblick auf 2024 - Europas Schicksalsjahr

Die Europäische Union steht in diesem Jahr vor zahlreichen Herausforderungen: Proteste von Bauern und Arbeitnehmern, einer neuen Migrationswelle und russischer Einflussnahme. Das wird auch die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni beeinflussen.

Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Streiks und Demonstrationen sind in Europa nichts Neues, aber zwei Faktoren kennzeichnen den jüngsten Ausstand: sein länderübergreifender Charakter und seine Konzentration auf bestimmte Wirtschaftszweige. Landwirte protestieren oder protestierten kürzlich in Bulgarien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Polen und Rumänien, während Beschäftigte der Bahn und anderer öffentlicher Verkehrsmittel in Bulgarien, Deutschland, Polen und Rumänien gestreikt haben. Dies erhöht das Potenzial für eine europaweite Koordinierung der verärgerten Arbeitnehmer und damit für anhaltende und weit verbreitete wirtschaftliche und politische Störungen. Darüber hinaus ist die Souveränität in der EU auf verschiedene Regierungsebenen verteilt, was die öffentlichen Bemühungen um eine Reaktion auf die Unruhen erschwert.

Das vielleicht wichtigste geopolitische Risiko betrifft die Einigkeit der EU gegenüber der Ukraine, die in das dritte Jahr ihrer Verteidigung gegen die russische Invasion geht. Eine Schlüsselkomponente von Russlands Plan für den Sieg besteht darin, Spaltungen unter den westlichen Unterstützern der Ukraine zu schaffen oder zu verschärfen, ohne deren Unterstützung Kiew stark unterlegen wäre. Der Zufall will es, dass der europäische Wahlkalender 2024 so voll ist, dass sich dem Kreml zahlreiche Gelegenheiten bieten, Desinformationen und andere hybride Angriffe zur Unterstützung der von ihm bevorzugten Wahlergebnisse einzusetzen. Hinzu kommt, dass mehrere der Länder, in denen gewählt wird, geografisch verhältnismäßig nahe an der russischen Grenze liegen, wie Österreich, Finnland, Litauen, Rumänien und die Slowakei.

Die wichtigsten Wahlen für Russland sind jedoch die Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni. Das Parlament selbst ist schwach, aber es bestimmt mit über die Zusammensetzung der EU-Exekutive, nämlich der Europäischen Kommission. Die derzeitige Kommission lehnt Russlands Aggression gegenüber der Ukraine entschieden ab und hat sich für die Aufrechterhaltung des europäischen Zusammenhalts eingesetzt, indem sie Kiew unterstützte. Als Russland versuchte, der Ukraine den Zugang zum Schwarzen Meer zu versperren, schlug die Kommission Mittel für eine neue Infrastruktur vor, um den ukrainischen Handel zu erleichtern. (Das Projekt trägt auch dazu bei, die neue Eindämmungslinie der Nato gegen Russland von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zu konsolidieren.) Die EU ist auch dabei, ihren Mehrjahreshaushalt neu zu verhandeln, um Mittel für den Wiederaufbau der Ukraine einzuplanen, so dass die Mitgliedstaaten bereits investieren können, bevor der Krieg beendet ist. Russland wird alles tun, um die sozioökonomischen Probleme in Europa auszunutzen, so dass mit mehr Protesten und politischer Instabilität als üblich zu rechnen ist, insbesondere in der ersten Hälfte des Jahres 2024.

Landwirte in ganz Europa beschweren sich über steigende Umweltstandards

Ein Grund dafür, dass Europa jetzt langfristige Finanzmittel für die Ukraine bereitstellen will, ist, dass es der wachsenden Kriegsmüdigkeit und den damit verbundenen Kosten zuvorkommen möchte. Die Proteste der Bauern sind ein Paradebeispiel für diese Kosten. In Polen, Rumänien und anderen an die Ukraine angrenzenden Ländern haben die Landwirte Handelsschutz gefordert und zeitweise Grenzübergänge blockiert, um den Zustrom billiger ukrainischer Produkte einzudämmen. Außerhalb der EU müssen die bereits sehr wettbewerbsfähigen ukrainischen Erzeugnisse nicht den hohen Standards der EU entsprechen und landen daher häufig auf dem grauen Markt. Viele Lastwagenfahrer haben sich den Protesten der Landwirte angeschlossen, weil sie sich darüber ärgern, dass die ukrainischen Fahrer ihre Löhne unterbieten. Und das, obwohl die polnischen und rumänischen Landwirte 2023 von der Europäischen Kommission Finanzhilfen erhalten haben, um mit der ukrainischen Konkurrenz fertig zu werden, und der Transportsektor in den letzten zwei Jahren stark gewachsen ist, da sich der ukrainische Handel auf den Landweg verlagert hat.

Auch wenn hier politische Tricksereien und russische Manipulationen im Spiel sind, stehen die europäischen Unternehmen vor echten Herausforderungen. In Deutschland zum Beispiel, wo die Regierung nach einem Gerichtsurteil, das sie zwang, ihre Ausgabenpläne für 2024 und darüber hinaus zu überarbeiten, händeringend nach Einsparungen sucht, war es die Entscheidung Berlins, eine Dieselsubvention zu streichen, die die Proteste auslöste. Landwirte in ganz Europa beschwerten sich bereits, dass die steigenden Umweltstandards, die Bürokratie und die Freihandelsabkommen der EU ihre Wettbewerbsfähigkeit bedrohten.

 

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Tatsächlich schrumpfte die deutsche Wirtschaft im Jahr 2023 zum ersten Mal seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie insgesamt. 2024 sieht es nicht besser aus. Unter dem Druck der USA versucht Berlin, seine strategische Verwundbarkeit gegenüber China zu verringern, aber die weitreichende und tiefe Abhängigkeit von chinesischem Handel und Investitionen sowie der Mangel an guten Ersatzprodukten bedeuten, dass dieser Prozess nur langsam vonstattengehen wird. In der Zwischenzeit werden die schleppende deutsche Wirtschaft und die von der EU wieder eingeführten strengen Regeln für die öffentlichen Ausgaben neben anderen Faktoren das europäische Wachstum insgesamt belasten.

Frankreichs Hauptaugenmerk wird 2024 auf dem Mittelmeer liegen

Nebenan in Frankreich läutete Präsident Emmanuel Macron das neue Jahr mit einer Regierungsumbildung ein. Dieser Schritt deutet weniger auf einen Strategiewechsel hin als vielmehr auf den Wunsch, die politischen Turbulenzen des Jahres 2023 zu beenden, die mit Massenprotesten gegen die Rentenreform begannen und mit Protesten gegen ein Einwanderungsgesetz endeten. Paris hofft, sich 2024 auf andere Themen konzentrieren zu können, wie die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung. Noch wichtiger ist, dass es der steigenden Popularität der extremen Rechten unter Marine Le Pen entgegenwirken will, die ihren Einfluss im nächsten Europäischen Parlament ausbauen möchte. Mit den umstrittensten Veränderungen im Rücken und neuen Gesichtern im Elysée hofft Frankreich, das Schlimmste der Proteste im Jahr 2023 hinter sich zu haben.

Jenseits seiner Grenzen kann Frankreich aufgrund seiner komplexen Beziehungen zu Russland – einschließlich des Wettbewerbs um Einfluss in Afrika – die Ukraine nicht ignorieren. Gleichzeitig wird Paris aufgrund seiner weit entfernten Territorien und Militärbasen im Indischen und Pazifischen Ozean weiterhin gezwungen sein, sich in globalen Fragen mit Washington abzustimmen. Frankreichs Hauptaugenmerk wird 2024 jedoch auf dem Mittelmeer liegen. Nach Angaben der EU-Grenzschutzagentur wurden im vergangenen Jahr mehr als 355.300 illegale Grenzübertritte in die EU verzeichnet, die höchste Zahl seit dem Höhepunkt der Migrantenkrise im Jahr 2016. Angesichts der aktuellen Lage im Nahen Osten und in Teilen Nordafrikas und der Sahelzone könnte die EU in diesem Jahr mit einer weiteren Flüchtlingskrise konfrontiert werden.

Die Migration wird somit in ganz Europa zu einem kritischen politischen Thema werden, das künftige Wahlen, einschließlich der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni, erheblich beeinflussen wird. Die wachsende Unzufriedenheit mit dem politischen Establishment deutet darauf hin, dass die etablierten Parteien einige der radikalen Vorschläge sowohl der extremen Rechten als auch der extremen Linken übernehmen könnten, insbesondere in Bezug auf die Einwanderung. Gleichzeitig hat die jüngste Welle von Bauernprotesten gegen Ende 2023 eine Reihe von Themen im Zusammenhang mit der EU-Politik ins Rampenlicht gerückt, darunter auch die grüne Agenda der Europäischen Kommission. Während die politischen Parteien in der gesamten Union ihre Kampagnen für die Wahlen 2024 intensivieren, sind die europäischen Konservativen und Anti-Establishment-Parteien bereit, diese Unzufriedenheit mit der grünen Politik zu nutzen. Es wird erwartet, dass die Debatten über die Umwelt- und Migrationspolitik die politische Landschaft im Jahr 2024 dominieren werden und dass ihre Ergebnisse möglicherweise die strategische Ausrichtung der nächsten Europäischen Kommission bestimmen werden.

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Tomas Poth | Do., 18. Januar 2024 - 13:28

Die EU muß sich komplett neu strukturieren, weg vom EU-Sozialismus und Subventionismus, hin zu ausschließlicher Eigenverantwortung der Länder innerhalb des Staatenbundes.
Das gilt ebenso für europäische Länder die nicht der EU angehören.
Die Selbstverantwortung bindet dann auch das Risiko des Regierungshandeln und die daraus entstehenden Konsequenzen in den Ländern.
Die Konsequenzen aus Fehlern einzelner Länder dürfen nicht automatisch auf andere abgelastet werden.
Der Beitritt neuer Länder in die EU darf erst nach Reform derselben stattfinden.

Henri Lassalle | Do., 18. Januar 2024 - 14:23

und die Unfähigkeit der Eindämmung wird Frankreich ganz sicher intensiv weiterhin beschäftigen und sich natürlich auch den Resultaten der Europa-Wahl zeigen.
Interessant wird auch die Frage der Finanzierungen und der Risiken der Ukraine-Unterstützung, zumal ein Ende nicht absehbar ist. Medjedew hat neulich betont, dass die Ukraine entweder zerstört, oder ein Teil des russischen Imperiums sein wird - eine Alternative schloss er also aus. Vielleicht wird Putin nach seiner Wiederwahl die allgemeine Mobilmachung fordern.
Man sieht eine wachsende Zurückhaltung bezüglich europäischer Hilfen für dieses Land, das spürte man auch letzthin in Davos.
Ich nehme an, dass auch die USA nach den Wahlen ihr Ukraine-Engagement überdenken werden, zumal sich immer klarer die Aussichtslosigkeit der Ukraine abzeichnet. Und das Interessengebiet des pazifischen Oceans hat absolute Priorität.

Was sie davon halten echte Europäer zu werden anstatt unter Herren wie dem von Ihnen angesprochenen Medjedew als Volk zu dienen geehrter Herr Lasalle! Denn anscheinend ist dieser und andere ja weniger an der in Mehrzahl störrischen Bevölkerung interessiert als an dem großen Flecken Land, welches es wieder "einzugemeinden" gilt wenn ich mir die Angriffe auf die zivile Infrastruktur anschaue mit der Absicht die Menschen zu zermürben oder ggf. aus ihrem Lebensraum zu vertreiben. Sollte er wirklich seine Absichten in die Tat umsetzen können mangels externer Unterstützung, also entweder Kapitulation oder das Gebiet platt machen samt Mann und Maus, gibt es eigentlich nur eine Alternative für ukrainische Menschen, die sich einer Übernahme entziehen möchten. Sie verlassen, 2020 waren es ca. 44 Millionen ihre Heimat und verteilen sich auf die jetzigen 27 EU-Länder, was laut meinem Taschenrechner um die 1.629.629 Aufnahme von Neubürgern je Land ausmachte. Und alle leben glücklich u. zufrieden...

Ingofrank | Do., 18. Januar 2024 - 20:16

„Schicksalsjahren“ hinter uns. Es wird sich im Großen & Ganzen nicht viel ändern.
Nun ja, die EU Wahl wird traditionell mit der Abrechnung der Regierungen in den Mitgliedsstaaten verbunden. Schub wir mal, wer im Buntland die größten Zuwächse erreicht. Die Ampelparteien werden abgestraft das ist sicher, die Frage ist nur wieviel % es nach unten geht.
Die Kommunalwahlen werden hier & da einen AfDler ins Amt spülen und das hoffentlich nicht ausnahmslos im Osten. Bei den 3 östlichen LT Wahlen wird die AfD wohl die stärkste Kraft werden, aber an keiner der drei Koalitionen beteiligt sein. Es wird wohl analog wie im Bund, Koalitionen gebildet werden, die von Haus aus nicht zusammen passen
Die Brandmauer gegen die Linke wird zusammenbrechen, und der Parteitagsbeschluss der CDU wird „vergessen“
und das Koalitions- Gestümer wird analog der Ampel sein, und Lern- Resistent weiter gehen.
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Ernst-Günther Konrad | Fr., 19. Januar 2024 - 08:44

Mein Hauptargument ist dies, dass in den europäischen Ländern immer mehr konservative bis rechte Regierung an die Macht gekommen sind und sich anschicken, in Regierungen zu kommen. Damit dreht sich auch der Wind in der EU. Das sieht man gerade in der Migrationspolitik, wo etliche Staaten den Hebel umgelegt haben und sich von Deutschland nichts mehr vorschreiben lassen. Im Gegenteil. Wir isolieren uns selbst immer mehr. Und bald können wir auch nicht mehr zahlen, weil uns selbst das Geld fehlt. Die EU ist längst dabei zu zerbröseln. Mal schneller und mal langsamer. Gerade so wie der politische Wind das Gemäuer dieser wackeligen EU streift und das Gestein durch das "EU-Klima" zerstört wird. Mich persönlich erfreut es, mir kann es nicht schnell genug gehen. Warum? Die haben sich zu einem illegalen Bürokratiemonster aufgeblasen, jede Reform abgelehnt und wollen die Nationen alle gleichmachen. Das wird und das kann nicht gut gehen. Und der Eurozerfall wird sein übriges tun.