Indiens Premierminister Narendra Modi (r) beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew, 23.08.2024 / picture alliance

Indiens Premier besucht die Ukraine - Modis wohlkalkulierter Schachzug

Der Besuch des indischen Regierungschefs in der Ukraine zeigt: Die Länder des sogenannten globalen Südens nehmen nationale Interessen wichtiger als internationale Bündnisse. Für den Westen ist das keine gute Entwicklung – für Russland allerdings auch nicht.

Autoreninfo

Antonia Colibasanu ist Analystin bei Geopolitical Futures und Dozentin an der rumänischen National Defence University mit Sitz in Bukarest.

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Der Besuch des indischen Premierministers Narendra Modi an diesem Freitag in Kiew, wo er mit Präsident Wolodymyr Selenskyj zusammentrifft, ist ein kalkulierter diplomatischer Schachzug, der Indiens unerschütterliche Neutralität im Ukrainekrieg unterstreichen soll. Die Reise folgt auf Modis Besuch in Moskau im Juli, wo er mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammentraf, sowie auf die Ausrichtung des Gipfeltreffens „Voice of the Global South“ durch Indien am 17. August, bei dem China und Pakistan nicht anwesend waren.

Seit der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion im Jahr 1991 war kein indischer Premierminister mehr in der Ukraine. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern blühten in den Jahren unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf, kühlten jedoch ab, nachdem Kiew 1996 ein Abkommen über die Lieferung von Panzern an Pakistan unterzeichnet und 1998 UN-Resolutionen unterstützt hatte, in denen Indiens Atomwaffentests verurteilt und Wirtschaftssanktionen gegen das Land befürwortet wurden.

Wichtige Wirtschaftsverbindungen

Während ihre politischen Beziehungen stagnierten, wuchsen die wirtschaftlichen Beziehungen weiter. In den 1990er Jahren suchte der indische Verteidigungssektor die Ukraine als alternativen Lieferanten von Komponenten für MiG-29-Kampfflugzeuge und andere Waffen aus der Sowjetära, da Moskau seinen Verpflichtungen nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht nachkam. 1994 richteten Indien und die Ukraine eine gemeinsame Kommission für die wirtschaftliche, wissenschaftliche und industrielle Zusammenarbeit ein, die für die Festlegung der Agenda ihrer Wirtschaftsbeziehungen von entscheidender Bedeutung ist.

Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine war Indien der zweitgrößte Exportmarkt der Ukraine in Asien (nach China) und der fünftgrößte Markt des Landes insgesamt mit einem Anteil von 4 Prozent an den Gesamtexporten. Militär und Technologie waren die Schlüsselbereiche der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die indische Marine nutzt mehr als 150 Gasturbinentriebwerke, die von der staatlichen ukrainischen Firma Zorya-Mashproekt im Rahmen eines Vertrags aus den frühen 1990er Jahren hergestellt werden. Indien hofft, in Zukunft seine eigenen Triebwerke herstellen zu können, doch der Prozess ist komplex und zeitaufwändig. Um die Abhängigkeit von ukrainischen Herstellern zu verringern, hat sich Indien mit globalen Unternehmen wie GE Marine zusammengetan und versucht, das Knowhow des US-Unternehmens in der Gasturbinentechnologie zu nutzen. Indien und die Ukraine arbeiten außerdem seit 2009 gemeinsam an einem Projekt zur Modernisierung von 105 AN-32-Flugzeugen der indischen Luftwaffe. Das Projekt hat sich aufgrund des Ukrainekonflikts verzögert, macht aber dennoch Fortschritte, wobei der Großteil der Arbeiten in Indien durchgeführt wird.

Was die indischen Exporte in die Ukraine betrifft, so gehörten pharmazeutische Produkte vor dem Krieg zu den wichtigsten. Indische Generika-Hersteller bauten eine starke Präsenz im Land auf, und Indien gehörte zu den drei wichtigsten ukrainischen Lieferanten von pharmazeutischen Erzeugnissen. Für Indien eröffnet die offizielle Kandidatur der Ukraine für den Beitritt zur Europäischen Union, die Kiew einen breiteren Zugang zum EU-Markt ermöglicht, potenzielle neue Investitionsmöglichkeiten. Auch der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg dürfte für indische Unternehmen vielversprechende Geschäftsmöglichkeiten bieten.

Indiens Russlandbeziehungen stehen jetzt im Weg

Das Potenzial für einen Ausbau der bilateralen Beziehungen wird jedoch durch die Tatsache erschwert, dass Neu-Delhi seit langem enge Beziehungen zu Moskau unterhält, die auch während Russlands Militärkampagne in der Ukraine nicht ins Wanken geraten sind. Indien bezieht mehr als 40 Prozent seines Öls und 60 Prozent seiner Waffen aus Russland, hinzu kommen erhebliche Mengen an Kohle, Düngemitteln, Pflanzenöl und Edelmetallen. Erst diese Woche besuchte der Oberbefehlshaber der russischen Marine Indien, um die Aussichten für eine verstärkte bilaterale Zusammenarbeit zu erörtern, während Russland seine Marine ausbauen und seine Präsenz im Indischen Ozean verstärken will. In diesem Jahr hat Russland im Rahmen eines Abkommens von 2018 zwei Kriegsschiffe an Indien geliefert. Die beiden Länder haben trotz des zunehmenden Drucks durch die westlichen Sanktionen Zahlungen in Rupien und anderen alternativen Währungen, einschließlich VAE-Dirhams, getätigt. Eine Währung, die sie zu vermeiden versucht haben, ist der chinesische Yuan, weil China Indiens Hauptkonkurrent in Asien ist.

Im Großen und Ganzen hat Neu-Delhi sogar von den westlichen Sanktionen profitiert, die Moskau ermutigt haben, engere Beziehungen zu dem Land zu suchen. Allerdings verfolgt Indien in Bezug auf Russland einen vorsichtigen Ansatz: Es muss gute Arbeitsbeziehungen zum Westen aufrechterhalten, möchte aber auch eine engere Beziehung zu Russland unterhalten, um zu verhindern, dass sich Moskau bei Peking einschmeichelt. Indien weiß auch, dass der Westen ein Interesse daran hat, den Einfluss Neu-Delhis auf den Kreml zu erhalten, damit es als Gegengewicht zu China fungieren kann. Es ist eine heikle Strategie, aber mit seinem Besuch in Kiew möchte Modi zeigen, dass Indien kein Interesse daran hat, den Westen zu verprellen, und die Beziehungen zur Ukraine langfristig aufrechterhalten will.

Indiens Ansatz ist sinnbildlich für einen breiteren Trend unter den Ländern des globalen Südens, die nationalen Interessen Vorrang vor internationalen Bündnissen einräumen. Diese Länder navigieren durch die zunehmend schwieriger werdenden Gewässer der internationalen Diplomatie, indem sie ihre Neutralität wahren, aber dennoch versuchen, kurzfristige Vorteile zu nutzen und sich langfristig günstige Beziehungen zu sichern. Diese Strategie stellt eine Herausforderung für China und Russland dar, die beide aktiv versuchen, Bündnisse zu schmieden, die den vom Westen dominierten Gruppierungen wie der G7 entgegenwirken. Peking und Moskau fördern verschiedene internationale Plattformen, darunter die BRICS und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, um das Gleichgewicht in der Weltpolitik wiederherzustellen. Obwohl Indien Mitglied beider Organisationen ist, hat es sich entschieden, auf Distanz zu bleiben und seine eigene Plattform, den „Voice of the Global South Summit“, zu gründen, anstatt sich einer von China oder Russland geführten Initiative anzuschließen.

Multipolare Welt als neue Wirklichkeit

Die globale Ordnung ist insofern zunehmend durch ein komplexes Geflecht nationaler Interessen gekennzeichnet, da die Regierungen immer weniger bereit sind, sich auf eine Seite zu stellen. Paradoxerweise spiegelt dies die lang gehegte Vision des russischen Präsidenten Wladimir Putin von einer multipolaren Welt wider. Vor dem Ukraine-Konflikt wurde die geopolitische Landschaft von Großmächten wie den Vereinigten Staaten, China und Russland beherrscht, die erheblichen Druck auf kleinere Nationen ausüben konnten. Die zunehmende Unbeständigkeit zwischen den Ländern des Ostens und des Westens hat die Grenzen dieser Machtdynamik aufgezeigt.

Viele dieser Grenzen haben mit dem Verlust der globalen Stellung Russlands und seiner allgemeinen Schwächung zu tun. Die russische Wirtschaft wurde nicht nur durch die westlichen Sanktionen, sondern auch durch das Versäumnis, eine funktionierende Kriegswirtschaft aufzubauen, schwer getroffen. Die von Moskau veröffentlichten Wirtschaftsdaten scheinen zwar vielversprechende Ergebnisse zu zeigen, spiegeln aber lediglich die Umstellung des Landes auf eine Wirtschaft wider, die sich auf die Deckung des militärischen Bedarfs und die inländische Produktion von Gütern konzentriert, die aufgrund der Sanktionen unzugänglich geworden sind. Die Beschränkungen für Energieexporte, Finanztransaktionen und Technologietransfers haben nicht nur dazu geführt, dass Russland alternative Märkte finden musste, sondern auch dazu, dass die einheimischen Verbraucher gezwungen waren, die Politik „Made in Russia“ zu akzeptieren und sich an die konstant hohen Inflationsraten anzupassen, die die russische Zentralbank noch immer nicht in den Griff bekommen hat. Der Krieg hat auch die Versorgungswege unterbrochen, so dass Russland gezwungen ist, seine Beziehungen zu den Weltmärkten neu zu ordnen.

Unabhängige Außenpolitik statt eindeutiger Parteinahme

Aus militärischer Sicht hat der Konflikt in der Ukraine bemerkenswerte Schwachstellen bei den russischen Streitkräften offenbart: bei der Militärstrategie, der Logistik und bei der Moral, welche insgesamt Russlands Status als militärischer Hegemon untergraben und Fragen nach seinen langfristigen Fähigkeiten aufgeworfen haben. Russlands Ansehen in der Welt hat dauerhaften Schaden erlitten, der seine Fähigkeit zur globalen Einflussnahme einschränkt und es zwingt, sich auf den Ausbau seines Einflusses im globalen Süden zu konzentrieren, wo es ebenfalls zu scheitern scheint.

Die meisten Länder haben es vorgezogen, dem Beispiel Indiens zu folgen und eine unabhängige Außenpolitik zu betreiben. Indiens Reaktion auf den Ukraine-Konflikt war pragmatisch und vorsichtig, da es seine strategische Autonomie verteidigt. Es hat versucht, seine Außenpolitik zu diversifizieren und gleichzeitig seine Beziehungen sowohl zu Russland als auch zum Westen weiter zu pflegen. Und indem es sich als Vorbild für andere etabliert, positioniert es sich als wichtiger Akteur auf der Weltbühne.

 

GPF

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Karl-Heinz Weiß | Fr., 23. August 2024 - 17:23

Im Beitrag kommt klar zum Ausdruck, dass Indien von der aktuellen Situation profitiert und deshalb wenig Interesse an einer Vermittlerrolle hat. Und Modi versteht es bisher gut, seine religiös-nationalistische Innenpolitik als "bevölkerungsreichste Demokratie der Welt“ anzupreisen.

Albert Schultheis | Fr., 23. August 2024 - 17:40

"Die russische Wirtschaft wurde nicht nur durch die westlichen Sanktionen, sondern auch durch das Versäumnis, eine funktionierende Kriegswirtschaft aufzubauen, schwer getroffen. Die von Moskau veröffentlichten Wirtschaftsdaten scheinen zwar vielversprechende Ergebnisse zu zeigen, spiegeln aber lediglich die Umstellung des Landes auf eine Wirtschaft wider, die sich auf die Deckung des militärischen Bedarfs und die inländische Produktion von Gütern konzentriert" - Nachdem was man aus Russland hört, scheinen die Sanktionen die Russen geradezu anzuspornen, selber zu produzieren - sowohl im militär. Bereich als auch bei den Konsumgütern. Überall hört man von Bautätigkeit, die Städte sind auf Hochglanz, die Straßen topp, zu kaufen gibt es alles, auch Wohnungen - und zwar noch zu günstigen Preisen. Das Vertrauen in die Regierung ist unerschüttert, die Russen stehen zusammen - gerade wegen des Krieges.
Ich weiß, das sind keine guten Nachrichten für den Westen und seine Geschichtenerzähler.

Gerhard Lenz | Fr., 23. August 2024 - 19:21

kümmern sich ganz offensichtlich einen feuchten Kehricht um die Befindlichkeiten von West und Ost. Ihnen geht es vor allen Dingen um wirtschaftliche Entwicklung und den Anschluss an die führenden Wirtschaftsmächte.
Das in der westlichen Welt so wichtige Eintreten für Demokratie und/oder Menschenrechte ist für sie dagegen verhältnismäßig unwichtig. Andererseits ist aber auch Putin für diese Staaten kein interessanter Partner, das russische Modell ist abgewirtschaftet und übt keinerlei Anziehungskraft auf andere Staaten aus.
Putin ist aber durchaus ein sehr nützlicher "Idiot" - eine angedrohte engere Zusammenarbeit mit dem russischen Kriegsverbrecher soll natürlich die eigene Position bei Verhanndlungen mit den USA und der EU verbessern. Praktisch ist Russland höchstens noch für Waffenlieferungen interessant. Wirtschaftlich haben China, Indien oder Brasilien das höchst marode Putin-Regime längst überholt.
Das macht diese Staaten natürlich ein Stückchen unberechenbar

Mehr kann man eigentlich dem westlichen Bullschitt und der Billig-Propaganda nicht mehr auf den Leim gehen, Lenz! Gratulation!
Wenn ich schon sowas lese: "Das in der westlichen Welt so wichtige Eintreten für Demokratie und/oder Menschenrechte", dann weiß ich, ich habe es entweder mit einem politischen Anal-phabeten zu tun oder mit einem stalinistischen Scharlatan! Sie wissen, ich schätze Sie als den Verschlageneren von beiden!
Oder der Knaller: "das russische Modell ist abgewirtschaftet und übt keinerlei Anziehungskraft auf andere Staaten aus" - Momentan ist der Zustrom von jungen Russlanddeutschen eher wieder gegenläufig! Woran das wohl liegt? Ich hab russlanddeutsche Nachbarn, die haben sich hier was aufgebaut. Die fragen mich immer wieder, wie es mir im Exil ergeht. Die haben die Nase gestrichen voll von Deutschland, dabei haben die lange in der Ukraine gelebt und gearbeitet. Machen Sie sich doch mal schlau über das "abgewirtschaftete" Leben in Russland - während des Krieges!

Henri Lassalle | Fr., 23. August 2024 - 19:43

Politikprinzip, eine intelligente Lösung. Allerdings muss man dann auch mit wachsendem Nationalismus rechnen, der schon überall zu beobachten ist, nicht nur in China und Russland. Auch in Afrika wird Russland an Grenzen stossen. Zur Zeit profitiert es noch dort von den kleptokratischen wie kurrupten Regime.

Christoph Kuhlmann | Fr., 23. August 2024 - 20:05

Besser gefragt, sind die Werte des Westens oft nichts weiter als kultureller Imperialismus? Und dessen Bündnisse nur eine Form von koordiniertem nationalem Egoismus zur besseren Durschsetzung gemeinsamer Interessen, zum Beispiel im globalen Süden? Sowohl China als auch Indien quetschen Russland nach Strich und Faden aus. So macht man das halt mit unzuverlässigen Rohstofflieferanten, die nicht mal an Swift angeschlossen sind. Russland wird in Rupien bezahlt, für die es in Indien einkaufen muss und hat bereits große Mengen davon bei indischen Banken liegen, die zu klein sind, um von den US sanktioniert werden zu können. Inzwischen denkt man darüber nach, den Tauschhandel einzuführen. Was ist mit den Europäern, die nach wie vor Erdgas aus Russland importieren und gleichzeitig Waffen an die Ukraine liefern. Ich finde es gut, wenn der Westen gelegentlich auf die Doppelbödigkeit seiner Moral hingewiesen wird. Verglichen mit China ist Indien sehr demokratisch. Die Demokratie der Massen.

Klaus Funke | Sa., 24. August 2024 - 14:50

Der muss im Verständnis des Westens und seiner Medienhalunken ein Freund Putins sein und damit quasi ein Kriegsverbrecher. Immer schön Dreck ins Getriebe streuen, verleumden, schlecht machen. Nur nichts Positives sehen und sagen. Nirgends wird so gelogen wie nach einer Jagd und während eines Krieges. Selensky, der Lump, hat Modi nur empfangen, weil er nicht anders konnte. Ach, mich widert das alles an. Warum nur nimmt Putin nicht den großen Knüppel? Earum ist er trotz Kursk so zurückhaltend? Kann er nicht mehr oder wird da was Größeres vorbereitet? Ich kenne meine Russen: Da kommt noch was, und zwar etwas, das den Westen und die USA sehr erschrecken wird. Im eigenen Land kriegt Putin zunehmend Ärger und Druck, weil er nicht hart genug zurückschlägt. Ich denke, er wird seinen Russen zeigen, dass er noch stark ist. Selensky, der Lump, sollte sich nicht zu freuen. Die Russen werden ihm ein schönes Abschiedsgeschenk machen...