Zwei ukrainische Soldaten auf einem eroberten Panzerfahrzeug der russischen Armee an der Einfahrt von Zirkuny / Moritz Gathmann

Abendpost aus der Ukraine - 72 Tage im Keller

Rund um Charkiw im Osten der Ukraine erobert die Armee Ort um Ort zurück. Die Menschen kommen nach zweieinhalb Monaten aus den Kellern – und fürchten die Rückkehr der Russen.

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die breite Hauptstraße, die in nordöstlicher Richtung aus der Millionenstadt Charkiw herausführt, ist gezeichnet von zweieinhalb Monaten Beschuss: Die Russen, in den ersten Tagen des Krieges auf dem Vormarsch in die Innenstadt gestoppt, hatten die „zweite Hauptstadt“ der Ukraine in einem Halbkreis umzingelt, sich in den Siedlungen außerhalb des Autobahnrings um die Stadt festgesetzt – und schossen seitdem Tag und Nacht besonders in die nordöstlichen Stadtbezirke.

Die Straßen sind übersät mit kleinen Kratern, viele Wohnhäuser links und rechts der Straße haben Treffer von Granatwerfern und Mehrfachraketenwerfern abbekommen, manche Geschosse stecken im Asphalt. Durch Kontrollpunkte, streng bewacht von ukrainischen Soldaten, bahnen sich einige wenige Autos den Weg die Straße entlang.

Weiter Artilleriebeschuss auf Charkiw

Aber ist Vergangenheit überhaupt die richtige Zeitform? Die Ukrainer haben zwar rund um Charkiw in der vergangenen Woche Siedlung um Siedlung von den Russen zurückerobert, an manchen Stellen die feindlichen Truppen fast bis an die russische Grenze zurückgedrängt: Von Charkiw bis nach Russland sind es nur knapp 40 Kilometer. Aber auch heute schlagen in Wohnhäusern im nördlichen Teil der Stadt wieder russische Granaten ein, und selbst in der Innenstadt hört man den Gefechtslärm.

Dort, wo die Ausfahrtstraße den Autobahnring kreuzt, stehen mehrere zerstörte russische Panzer und Truppentransporter, von den meterhohen Metallbuchstaben „CHARKIW“, die die Einfahrt in die Stadt markieren sind nur noch Bruchstücke übrig. Einen Kilometer weiter standen bis Donnerstag noch die Russen: Die 7000 Einwohner zählende Kleinstadt Zirkuny war seit dem ersten Kriegstag in russischer Hand.

An der Einfahrt bringen zwei ukrainische Soldaten gerade ein russisches Panzerfahrzeug in Fahrt: Der Buchstabe Z ist gut zu sehen, an der Seite haben die russischen Soldaten mit weißen Lettern „Babaljub“ geschrieben, „Frauenliebhaber“. Jetzt weht über dem Panzer eine ukrainische Flagge. „Gerade erobert“, ruft der Panzerfahrer, bevor das Gefährt mit Getöse in Richtung Charkiw davonbraust.

Links der Straße liegen in sich zusammengesunkene Lagerhallen, die Dächer offenbar nach einem Brand geschmolzen, am Straßenrand zerstörte russische Versorgungsfahrzeuge.

Zerstörte russische Versorgungsfahrzeuge an der Straße nach Tsirkuny / Moritz Gathmann
Zerstörte russische Versorgungsfahrzeuge an der Straße nach Zirkuny / Moritz Gathmann

Zu Gott gebetet

Gleich am Ortseingang von Zirkuny steht Anatolij, ein 72-Jähriger mit weißem Bart, in Pulli und Turnhose vor der Metalltür seines Grundstücks: „Hier sind Menschen“, hat er darauf in großen Buchstaben geschrieben. „Gottseidank haben sie uns befreit“, sagt er müde. „Wir haben zu Gott gebetet, und er hat unsere Gebete erhört.“ Er erzählt, dass es gleich von Beginn an keinen Handyempfang und Strom mehr gab in Zirkuny. Immerhin funktionierte bis vor einer Woche noch die Gasleitung. Seitdem kochen sie auf einem Feuer im Hof. Aber ohne Handyempfang wussten die Menschen hier seit Ende Februar nicht, was um sie herum vor sich ging. „Wir haben nur die Granaten, Raketen und Flugzeuge über unser Haus fliegen hören“, sagt er.

72 Tage saßen er und seine Frau im Keller. Am Donnerstag, spät am Abend, seien die Russen „sehr schnell abgehauen“. Offenbar fürchteten sie, von den Ukrainern umzingelt zu werden: Links und rechts von Zirkuny waren die ukrainischen Truppen schon weiter vorgestoßen.

Gemischte Meinungen über die Russen

Anatolij beschwert sich nicht über die Russen, sie hätten sich für ihn und seine Frau kaum interessiert, manchmal sogar Lebensmittel gebracht. Anders sein Nachbar Oleg, einige Häuser weiter: In seinem Nachbarhaus, einem edel ausgebauten zweistöckigen Wohnhaus, hatten sich die Russen einquartiert. Er, seine Frau und die zwei Töchter saßen im Keller, hörten aber, wie die Russen sich stritten und wild herumschossen, wenn sie sich betrunken hatten. Er erzählt, dass die Russen im Dorf immer wieder nach „Gras“, also Marihuana, gefragt hätten.

Beim Rundgang durch das ehemalige „Hauptquartier“ sieht man an mehreren Wänden den mit einer Spraydose an die Wand gesprühten Buchstaben Z, überall Reste der russischen Armeeverpflegung, durchwühlte Schubladen, im Wohnzimmer ein riesiger zerstörter Flachbildfernseher. „Da haben sie beim Abzug reingeschossen“, erzählt Oleg. „Und mir zugerufen: Als Andenken für den Hausbesitzer.“ Ob der zerstörte Computer vor der Haustür auch aufs Konto der Russen geht, ist schwer zu sagen: In den Tagen seit dem Abzug ziehen Plünderer durch die vielen verlassenen Häuser. Ähnliches trug sich in den ersten Tagen auch in den Kiewer Vororten zu, nachdem die Russen sie verlassen hatten.

Klauen, versauen, abkratzen

Igors Frau Ljuda, eine resolute Lehrerin Mitte 40, einen Anstecker mit der ukrainischen Flagge an der rosa Bluse, lässt ihrer Wut auf die Russen freien Lauf. „Ihr Z steht für klauen, versauen und abkratzen“ (alle drei Worte beginnen auf Ukrainisch mit „Z“) Um das zu demonstrieren, führt sie einen Kilometer die Straße hinunter in die Schule von Zirkuny, die mehrere Granattreffer abbekommen hat und schwer beschädigt ist. Auch hier waren die Russen einquartiert. „Die war frisch renoviert, alles neu“, sagt sie.

Ljuda, Oleg und die beiden Töchter auf der Hauptstraße von Zirkuny / Moritz Gathmann
Ljuda, Oleg und die beiden Töchter auf der Hauptstraße von Zirkuny / Moritz Gathmann

In den Klassenzimmern hängen anstatt von Tafeln „Whiteboards“, eins davon ist zerstört, auf das andere haben die Russen mit schwarzem Filzstift Positionspläne und Schimpfworte gemalt. Auf dem Boden liegen noch Militärstiefel der Russen verstreut, auch hier haben sie ihre „Z“-Markierungen an die Wände gesprüht. Besonders wütend ist Ljuda darauf, dass die Soldaten eine Gedenktafel für einen ukrainischen Soldaten zerschossen haben, der 2014 im Donbass gefallen war.

Rund um Zirkuny weiter Kämpfe

Als wir aus der Schule treten, hören wir Granatfeuer – ausgehend und eingehend. „Ich habe keine Angst mehr“, ruft Ljuda und läuft aus der Schule. Draußen fahren Soldaten vorbei und rufen uns Journalisten zu: „Hier ist es gefährlich, macht euch lieber aus dem Staub.“

Wir fahren einige hundert Meter zurück bis zur Kirche des Ortes, ein Backsteinbau, erst vor wenigen Jahren fertiggestellt. Dort bitten uns Menschen auf den Hof. Draußen sehen wir, dass in nördlicher Richtung jetzt eine dicke schwarze Rauchwolke aufsteigt. „Wahrscheinlich haben die Russen Lagerhallen getroffen“, sagen die Menschen. Es knallt immer wieder, deshalb gehen wir in das Kellergewölbe der Kirche, wo 35 Menschen, vor allem ältere Frauen, seit zweieinhalb Monaten auf Matratzen ausharren – Essen und Wasser gab es immerhin zur Genüge. Von den 7000 Einwohnern, erzählt der 68-jährige Wladimir, seien etwa 4000 geflohen, vor allem die Jüngeren mit Kindern – manche nach Russland, manche über Russland ins Baltikum und dann weiter nach Deutschland.

Gräueltaten wie in Butscha?

Gab es in Zirkuny Gräueltaten wie in Butscha bei Kiew? Auf den ersten Blick gibt es nur wenige Anzeichen dafür. Zwar wurden auch hier die jüngeren Männer wie Oleg auf Tätowierungen überprüft, die auf eine Teilnahme am Krieg im Donbass hinweisen. Die russischen Soldaten nahmen den Menschen die SIM-Karten weg, um zu verhindern, dass sie ihre Positionen an die ukrainische Armee weitergeben konnten. Mehrere Bewohner berichten zudem, dass die russischen Soldaten bei ihrem Abzug ihre Autos gestohlen hätten.

Oleg und der Pfarrer der Gemeinde erzählen auch unabhängig voneinander von einem Mann, den zwei russische Soldaten getötet hätten. Die beiden hätten aus Langeweile auf Hunde und Katzen geschossen, dagegen habe der Mann protestiert und sei erschossen worden. Die Soldaten hätten versucht, die Leiche zu verbrennen, seien aber von den anderen Bewohnern gestoppt worden. „Der Kommandeur der Russen hat die beiden dann aber bestraft. Wie genau, weiß ich nicht“, erzählt Oleg. „Jedenfalls waren sie von diesem Moment an nicht mehr in Zirkuny.“ Und Oleg erzählt von vier jüngeren Männern, die die Russen am Tag vor ihrer Flucht verschleppt hätten. Andere Bewohner konnten das nicht bestätigen.

Menschen begraben ihre Toten auf dem Hof

Der Pfarrer der Gemeinde weiß von 24 Toten in den 72 Tagen der russischen Besatzung. Allerdings gehe er davon aus, dass viele Tote erst jetzt gefunden würden: Die Menschen begruben sie in ihren Vorgärten, weil sie sich nicht auf den Friedhof trauten. Eine 72-Jährige im Kirchenkeller berichtet unter Tränen davon, wie sie ihren Mann, an einem Herzinfarkt gestorben, ganz alleine im Hof begraben musste.

 

Etwas schweigsam werden die Bewohner von Zirkuny, wenn man sie nach den Zerstörungen fragt: Vieles weist darauf hin, dass sie zum Großteil auf das Konto der ukrainischen Armee gehen, die versuchte, die russischen Positionen im Ort zu treffen. „Die Russen haben sich mit ihren Panzern zwischen den Häusern versteckt, oft mit Tarnnetzen abgedeckt, sind kurz auf die Straße rausgefahren, um zu schießen – und dann wieder zurück zwischen die Häuser“, erzählt die Lehrerin Ljuda. Die Ukrainer ließen ihre Drohnen über dem Städtchen fliegen – und zielten dann mit Artillerie auf die russischen Panzer. Oft genug, das zeigen die vielen zerbombten Dächer, schlugen die Geschosse in die umstehenden Häuser ein.

Kurz vor der Abfahrt sehen wir an der Kirche einen ukrainischen Truppentransporter in Richtung Charkiw vorbeifahren, darauf an die 20 ukrainische Soldaten. Die Menschen, die 72 Tage im Keller verbracht haben, schauen ihnen sorgenvoll nach. „Wechseln die sich nur mit einer anderen Einheit ab – oder ist das wieder ein Rückzug?“, fragt der 68-jährige Wladimir. „Nochmal unter den Russen leben wollen wir nicht.“

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Walter Bühler | Mo., 9. Mai 2022 - 09:16

... dass auch ukrainisch-westliche Waffen Zerstörungen anrichten: "Vieles weist darauf hin, dass sie zum Großteil auf das Konto der ukrainischen Armee gehen."

Herr Gathmann wagt es auch zu schreiben, dass sich nicht jeder russische Soldat als Bestie aufgeführt hat. Auch in der russischen Armee wurden Verbrechen geahndet. Das Kirchengebäude, ein Zufluchtsort für viele Menschen, wurde offenbar geschont.

Es wird auch berichtet, dass NACH dem Abzug der russischen Truppen Plünderer durch die vielen verlassenen Häuser gezogen sind. "Ähnliches trug sich in den ersten Tagen auch in den Kiewer Vororten zu, nachdem die Russen sie verlassen hatten."

Ich bedanke mich für einen solchen ausgewogenen Bericht aus einem furchtbaren Bruderkrieg.

Jeder Krieg ist furchtbar. Aber trotzdem wird dieser Krieg es hoffentlich nicht in alle Ewigkeit unmöglich machen, dass eines Tages Russen und Ukrainer wieder als friedliche Nachbarn leben können., so wie Deutsche und Franzosen.

Warum sollte es für einen Reporter, der seit ein paar Wochen wieder in einem Kriegsgebiet arbeitet, ein Wagnis darstellen, wenn er schreibt, dass „auch ukrainische Waffen Zerstörungen anrichten“? Was versuchen Sie damit anzudeuten?
Zum Sachverhalt ist zu sagen, dass sich die russischen Angreifer, die Charkiw zweieinhalb Monate lang beschossen haben, überraschenderweise nicht einfach so zurückgezogen haben, sondern mit Waffengewalt vertrieben werden mussten. Dass dabei in ZIrkuny Gebäude zerstört wurden, liegt auch an den von Herrn Gathmann beschriebenen Bewegungssmuster der russischen Panzer.
Der Bericht des Autors deckt sich mit anderen Beschreibungen, denen zufolge Putin eine z. T. ziemlich verlotterte Soldateska auf die Ukraine losgelassen hat, die systematisch Kriegsverbrechen begeht und plündert.
Das alles mit dem Begriff „Bruderkrieg“ zu umschreiben, wird der Realität in der Ukraine schon deshalb nicht gerecht, da Putin die Ukraine ja nicht einmal als Staat anerkennt.