- Joseph Czapski: Proust. Vorträge im Lager Grjasowez
Marcel Proust, den Entdecker der «unwillkürlichen Erinnerung», würde man eher mit gut geheizter mondäner Salonkultur assoziieren als mit dem kältestarren Universum eines sowjetischen Kriegsgefangenenlagers. Gerade deshalb ist dieses Buch von Joseph Czapski so verblüffend.
Marcel Proust, den Entdecker der «unwillkürlichen Erinnerung», würde man eher mit gut geheizter mondäner Salonkultur assoziieren als mit dem kältestarren Universum eines sowjetischen Kriegsgefangenenlagers. Gerade deshalb ist dieses Buch von Joseph Czapski so verblüffend. Czapski, 1896 als Spross einer österreichisch-polnischen Adelsfamilie in Prag geboren, war 1924 als junger Maler und wissbegieriger Kunststudent nach Paris gereist; 1926 erkrankte er an Typhus und verbrachte den Sommer seiner Genesung abgetaucht in Prousts «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit». Eine Lektüre fürs ganze Leben, wie sich herausstellen sollte. Beim Überfall der deutschen Truppen auf Polen wird Czapski als Reserveoffizier an die Ostfront kommandiert und gerät im September 1939 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Achtzehn Monate verbringt er in den Lagern von Starobjelsk bei Charkow und Grjasowez bei Wologda in stickiger Enge, auf wanzenverseuchten Pritschen, ringsum Krankheiten, Unterernährung, brutale Verhöre. Um den Geist wachzuhalten, organisiert er mit Mithäftlingen Lesungen und Vorträge; im Refektorium eines aufgelassenen Klosters soll jeder erzählen, was ihn im Leben am meisten beschäftigt hat. Czapski selber hält Vorträge über Proust – ohne irgendein einschlägiges Buch zur Hand zu haben. Dass die Mutter der Musen Mnemosyne ist, bewahrheitet sich hier: Man staunt über Czapskis lebendige Vergegenwärtigung des Proustschen Mehrfach-Universums. Er breitet keineswegs simple Allgemeinheiten aus, sondern füttert seine Erzählung mit zahllosen Details. Das Buch ist deshalb so berührend, weil es den eigentlichen Sinn der Kultur anschaulich vor Augen führt – und es ist die schönste Hommage an Proust, die man sich denken kann: ein geradezu surrealistisch anmutendes Literaturgespräch für Gefangene, und all dies, versteht sich, unter den Portraits von Marx, Engels und Lenin. «Unsere damaligen Herren betrachteten dies als konterrevolutionär, einige Redner wurden sofort deportiert, mit unbekanntem Ziel.» Dennoch wurden die Vorträge konspirativ weitergeführt, in einer flirrenden Irrealität. In seinem Vorwort schreibt Czapski: «Bewegt dachte ich damals an Proust in seinem überheizten Zimmer mit den Korkwänden, der sehr erstaunt und vielleicht gerührt gewesen wäre, dass zwanzig Jahre nach seinem Tod polnische Gefangene am Ende eines langen Tages im Schnee, bei einer Kälte von oft vierzig Grad, mit lebhaftem Interesse den Geschichten von der Herzogin von Guermantes, vom Tode Bergottes und all dem zuhörten, woran ich mich aus dieser Welt voll psychologischer Entdeckungen und literarischer Schönheiten erinnerte.» Das ist ein Proust, der aus der Kälte kam – und ein Buch, das die Wirkungsmacht der Literatur wie selbstverständlich erscheinen lässt. Es erinnert daran, was sie sein könnte: eine Wärmequelle, ein Lebensmittel. Nur 400 von 15.000 polnischen Offizieren und Soldaten überlebten das Inferno der sowjetischen Lager. «Vor diesem düsteren Hintergrund», notiert Czapski, «erscheinen mir die Stunden, die wir mit der Erinnerung an Proust oder Delacroix verbrachten, als Stunden reinen Glücks.»
Joseph Czapski
Proust. Vorträge im Lager Grjasowez
Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und mit einem Nachwort von Lore Ditzen.
Friedenauer Presse, Berlin 2006. 96 S., 14,50 €
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