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(picture alliance) Ganze Generationen nahmen an den Liaisons der „femme fragile“ Eleonora Duse teil.

Von Dichtern und Musen - „Durch dich will ich die Welt sehen“

Früher gehörten sie zum Leben der Schriftsteller wie Feder, Schreibmaschine und Papier. Nicht nur Goethe, Rilke, Werfel und Capote verfielen ihrem Charme. Bereits in der Antike riefen die Dichter ihre Musen in jedem Drama und jedem Epos an, das sie schrieben. Erinnerungen an eine in Vergessenheit geratene Figur.
 

Sie war blond und langmähnig und vor allem jung. Er war ein alter Mann. Aber dafür berühmt, einflussreich, wohlhabend. Max Frisch und seine amerikanische Freundin Alice Locke-Carey. Der alte Mann und seine Trophäe. Seine Muse? Höchstens ein fader Abklatsch. In Frischs autobiografischer Erzählung „Montauk“ von 1975 heißt sie Lynn, diese späte Liebe. In den posthum veröffentlichten Entwürfen zu einem dritten Tagebuch (2010) zeigt sich, wie die Dinge wirklich lagen. „Unsere Paarschaft ist ohne Zukunft“, heißt es da gleich auf den ersten Seiten über Alice-Lynn. Sie besitze zwar die Gabe der Unbeschwertheit, interessiere sich jenseits von Kreuzworträtseln und Psycho-Workshops aber für kaum etwas. Im Grunde haben sich Max Frisch und die Amerikanerin nichts zu sagen. Für eine Beziehung auf Augenhöhe, wie mit Ingeborg Bachmann, hatte der Anfang 70-Jährige vermutlich keine Kraft mehr. Also nahm er, was sich ihm anbot.

Auch die großen alten Männer der deutschen Gegenwartsliteratur, von Günter Grass bis zu Martin Walser, machen weniger durch Abenteuer mit Musen von sich reden als vielmehr durch die üblichen Ehen, Nebenbeziehungen und Seitensprünge auf Vorabendserienniveau. Jakob Augstein entpuppte sich kürzlich als Ergebnis einer Sommerliebe Martin Walsers mit der Ehefrau seines Freundes Rudolf Augstein. Mit einer anderen Verflossenen lieferte er sich ein kleines literarisches Scharmützel: 2003 schrieb die Fernsehredakteurin Martina Zöllner den Schlüsselroman „Bleibtreu“, und Walser parierte 2008 mit dem sehr viel besseren Buch „Der Augenblick der Liebe“. Musen haben ausgedient, denn junge Künstler wollen einen Partner und tun sich zu inspirierenden Lebensgemeinschaften zusammen. Statt Musen, so scheint es, gibt es heute Groupies. Groupies passen in die Konsumgesellschaft, in der Sex ein Fetisch ist und wie eine Ware vertrieben wird.

Ihre Hochkonjunktur hatte die Figur der Muse um 1900, als Sigmund Freud das Unbewusste entdeckte, die Sexualität als zentrale Triebkraft ins Spiel brachte und Frauen wie Lou Andreas-Salomé, Eleonora Duse oder Alma Mahler-Werfel einer Reihe von Dichtern den Kopf verdrehten. Die Muse bedeutete damals beides: Hingabe und Verweigerung. Aber auch die umschwärmten Fin-de-siècle-Damen standen in einer langen kulturgeschichtlichen Tradition.

In der Antike rief man die neun Musen als Schutzgöttinnen der Künste an und erbat ihre Hilfe. Im „Museum“, dem Musentempel, huldigen wir ihnen bis heute. Während die sogenannte „invocatio“ bei Vergil als Verzierung des Gedichtes galt und Höhepunkte vorbereitete, machte sich schon Horaz über das hochgestimmte Pathos lustig und parodierte den literarischen Musenanruf. Im Mittelalter, erklärt der Romanist Ernst Robert Curtius in seinem kanonischen Musenaufsatz, verbannten die christlichen Dichter die als heidnisch verschrienen Geschöpfe und vertrauten sich eher dem Heiligen Geist an.

Erst Dante hatte wieder die Größe, den Musen den ihnen gebührenden Platz zu verschaffen. Er nannte sie „unsere Ammen“, welche die Dichter mit ihrer süßen Milch ernähren. An allen entscheidenden Wendepunkten der „Göttlichen Komödie“ bittet er um ihre Inspiration. Gleichzeitig betrieb er aber eine Spiritualisierung der Liebe. In Dantes Beatrice vermischen sich ebenso wie in Petrarcas Laura die Sphären der Religion und der Liebe. Von nun an wurden Frauen aus Fleisch und Blut zu Musen auserkoren, ohne ihren Status als Göttinnen zu verlieren. Sie waren nie ganz von dieser Welt.

So flößten Johann Wolfgang von Goethe vor allem diejenigen Frauen Inspiration ein, die er nicht haben konnte. Ohne Charlotte Buff gäbe es den „Werther“ nicht, der Bankiersgattin Marianne von Willemer verdanken wir den „West-östlichen Divan“. „Nicht Gelegenheit macht Diebe/ sie ist selbst der größte Dieb/ denn sie stahl den Rest der Liebe/ die mir noch im Herzen blieb“, beschwor Goethe sie. Und als die 19-jährige Ulrike von Levetzow 1823 den Heiratsantrag des hochbetagten Dichterfürsten ablehnte, entstanden die „Marienbader Elegien“.

Außerhalb von Ehen hatten Frauen nur selten eine Chance. Mitunter gelang es ihnen, ihre Rolle als Muse an den Nagel zu hängen und zum Führungspersonal zu avancieren. Das war in der deutschen Romantik der Fall. Bettina von Arnim etwa, Caroline Schlegel, Karoline von Günderrode oder Rahel Varnhagen präsidierten in Salons, gründeten Lebensgemeinschaften und schrieben selbst. Was nicht hieß, dass die alten Muster überwunden waren. Ätherische Mädchen, Kindsmusen, ließen ihre Kollegen weiter­hin zu Höchstformen auflaufen. Novalis jugendliche Braut Sophie von Kühn gehörte zu dieser Kategorie. Er brauchte 1794 nur fünf Minuten, um dem zarten Wesen zu verfallen. Die knapp 13-Jährige willigte in das Verlöbnis ein, nannte seine Briefe „angenehm“, aber reagierte auf überschwängliche Liebesbekenntnisse mit einem stoischen „Sie“. Zwei Jahre später verstarb Sophie an einem Leberleiden. Außer sich vor Schmerz, verklärte Novalis sie in den „Hymnen an die Nacht“ (1800) als Mittlerin eines neuen, inneren Erlebens.

Die Muse kann man nicht besitzen – der Tod treibt diese Erfahrung auf die Spitze. Edgar Allen Poes „childwife“, seine 13-jährige Cousine Virginia Clemm, wurde zur Heldin angstvoller Todesvisionen und kam als „dark lady“ in mehreren unheimlichen Geschichten ums Leben, bevor sie auch in Wirklichkeit 1847 mit Mitte zwanzig starb. In einer der Erzählungen heiratet der Held seine Cousine Berenice und erlebt sie „nicht als ein irdisches Wesen von Fleisch und Blut, sondern als Abstraktion eines solchen Geschöpfes, nicht als Gegenstand der Bewunderung, sondern als ein Objekt der Analyse, nicht als ein Wesen geschaffen zur Liebe“.

Wieder ein typischer Museneffekt: Die Erotik ist mehr ein Versprechen als Wirklichkeit. Der unbewusste Liebreiz der Kindfrauen, ihr spielerisches Wesen und die nur in Andeutungen vorhandene Weiblichkeit scheinen besonders geeignet, einer bestimmten Sorte von Schriftstellern neue Ideen einzuflößen. Es sind die, die vor einem Zuviel an Wirklichkeit eher in Deckung gehen. Anders als erwachsene Frauen mit Ansprüchen emotionaler, materieller und sexueller Natur haben diese Musen nichts Furchteinflößendes, sondern eignen sich besonders gut als Projektionsfläche. Sie bleiben passiv, Knetmasse für Fiktionen. Die oft zitierte Alice Liddell, Adressatin des berühmten Kinderbuchs „Alice im Wunderland“ (1865), ist dafür ein Beispiel. Das Bündnis mit dem Verfasser empfand die Umgebung schon damals als befremdlich, zumal Lewis Carroll eine Fülle dezent erotischer Fotografien seiner kleinen Freundin anfertigen ließ. Immerhin schien er zur Sublimation fähig und überführte sein Begehren in Literatur. Als Alice in die Pubertät eintrat, entließ er sie in ein normales Frauenleben.

Umgekehrt konnte aber auch die Beherrschung durch eine übermächtige Muse etwas Lustvolles entfalten. Musen hielten sich nicht an gesellschaftliche Regeln. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, und wem gefiel das besser als Schriftstellern? Ihre größten Triumphe feierten die Musen auch deshalb in der Belle Époque, weil sich die bürgerliche Ehe oft als ein Gefängnis entpuppte, und gleichzeitig Liebe und Erotik als Befreiung von allen Zwängen des industriellen Zeitalters dienen sollten. Der Kult um die Liebe ließe sich als Reaktion auf die zunehmende Fremdbestimmung durch die äußeren Verhältnisse deuten, in denen sich die Frauen überhaupt erst einen Platz erobern mussten. Musen versprachen Erlösung.

Lou Andreas-Salomé, 1861 als Tochter eines Generals in Sankt Petersburg geboren, hielt über Jahre Männer wie Friedrich Nietzsche, Paul Rée und Frank Wedekind in Schach. Alle suchten ihre Nähe. Gerhart Hauptmann bettelte: „Liebe und teure Frau, ich muss kommen dürfen!“ Nichts. Die brillante Essayistin markiert auch deshalb eine Schnittstelle, weil sie mit ihrem scharfen Verstand den Verheißungen der Liebe nicht traute. Erotik auszustrahlen, aber Sex nicht zuzulassen, schien ihr zunächst ein Mittel, sich vor Abhängigkeiten zu schützen. „Von welchen Sternen sind wir einander zugefallen?“, sprach Nietzsche 1882 die damals 21-Jährige in Rom an. „Grüßen Sie diese Russin von mir, wenn dies irgendeinen Sinn hat“, schrieb er wenig später an den gemeinsamen Freund Paul Rée, ebenfalls Philosoph und Arzt. „Ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja, ich gehe nächstens auf Raub danach aus – in Anbetracht dessen, was ich in den nächsten zehn Jahren tun will, brauche ich sie.“ Aus seinen benutzerischen Absichten machte er keinen Hehl. Frauen waren schließlich dazu da, Männern zu dienen. Beide Freunde umgarnten Lou, und sie spannte die Professoren vor ihren Karren. Wortwörtlich. Damals entstand ein vielsagendes Foto, aufgenommen in Luzern; die Anregung kam von Nietzsche. Seine „Herrin“ Lou hockt in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid mit weißem Spitzenkragen auf einem Leiterwagen, in der einen Hand schwingt sie eine Peitsche, in der anderen hält sie die Zügel. Im Geschirr sind die beiden Galane, der Blick Nietzsches schweift in die Ferne, während Paul Rée ergeben wie Schlachtvieh in die Kamera schaut. Im Hintergrund ist das Jungfraujoch zu sehen, was kein Zufall gewesen sein dürfte. Rée machte ihr einen Heiratsantrag. Sie wies ab. Nietzsche machte ihr auch einen. Sie wies wieder ab. Aber für den schnurrbärtigen Philosophen blieb Lou „scharfsinnig wie ein Adler, mutig wie ein Löwe“, ein „Ideal auf Erden“, eine „Vision“ – Eigenschaften einer Göttin. „Wen er liebt, den lockt er gerne/ Weit hinaus in Raum und Zeit – / Über uns glänzt Stern bei Sterne,/ Um uns braust die Ewigkeit“, dichtete er für sie. Lou zog mit Rée zusammen, teilte Arbeits- und Wohnzimmer, aber nicht das Bett. Als sie den Orientalisten Friedrich Carl Andreas heiratete, nahm sie ihm das Versprechen ab, die Ehe nie zu vollziehen.

Ihre strenge Askese, der sie nach eigener Überzeugung intellektuelle Höchstleistungen verdankte, überwand erst Rainer Maria Rilke 1897, innerhalb von 14 Tagen. Der damals 21-jährige Nachwuchsdichter drehte den Spieß um und gab sich sehr weiblich. Briefe, Gedichte, schwärmerische Verehrung und bedingungslose Hingabe waren seine Rezepte. „Lösch mir die Augen aus: ich kann Dich sehn/ Wirf mir die Ohren zu: ich kann Dich hören/ Und ohne Fuß noch kann ich zu Dir gehn/ Und ohne Mund noch kann ich Dich beschwören.// Brich mir die Arme ab: ich fasse Dich/ Mit meinem Herzen wie mit einer Hand/ Reiß mir das Herz aus: und mein Hirn wird schlagen/ Und wirfst Du mir auch mein Hirn in den Brand/ So will ich Dich auf meinem Blute tragen//“, schrieb er nach einer Liebesnacht. Schon nach einigen rauschhaften Monaten begann allerdings das alte Spiel. Lou Andreas-Salomé tat das, was alle Musen auszeichnet, und entzog sich. Rilke betete die Freundin aus der Ferne an, erhöhte und idealisierte sie. „Ich hab Dich nie anders gesehen, als so, dass ich hätte beten mögen zu Dir. Ich hab Dich nie anders gehört, als so, dass ich hätte glauben mögen an Dich. Ich hab Dich nie anders ersehnt, als so, dass ich hätte leiden mögen um Dich. Ich hab Dich nie anders begehrt, als so, dass ich hätte knien dürfen vor Dir. Durch Dich will ich die Welt sehen; denn dann sehe ich nicht die Welt, sondern immer nur Dich, Dich, Dich!“, hieß es in einem Brief. 1900, kurz nach dem Ende der stürmischen Beziehung zu Rilke, veröffentlichte Lou Andreas-Salomé, die später bei Sigmund Freud auf der Couch lag und Psychoanalytikerin wurde, eine wissenschaftliche Studie. Der Titel: „Das Liebesproblem“. In dem Moment, in dem „der geliebte Gegenstand“ – also der andere Mensch – sich als „unendlich bekannt und verwandt und vertraut“ erweise, komme „der eigentliche Liebesrausch zum Abschluss“, konstatierte sie nüchtern. Indirekt sprach sie dabei auch von sich selbst.

Das Verführerische der Muse ist gerade ihre Fremdheit, ihre Distanz und ihre Unerreichbarkeit. Idealtypisch verwirklichte dies die drei Jahre ältere Eleonora Duse. Die „femme fragile“ mit dem leidenden Gesichtsausdruck riss eine ganze Generation zu Verzückungen hin – dass Rilke darunter war und ihr das Gedicht „Bildnis“ widmete, verwundert nicht weiter. Sie war eine Muse der Massen, eine Folie für alle Wünsche. Abend für Abend trat sie als Kameliendame, Hedda Gabler oder Nora auf die Bühne, und zwar überall in Europa, den USA und Südamerika. Sie wusste genau, woraus sich ihre Wirkung speiste. Sosehr sie in ihren Rollen seelische Nöte zur Schau stellte, so strikt achtete sie darauf, nichts von ihrem Inneren preiszugeben – sie lehnte Interviews ab, mied Empfänge, ließ niemanden in ihre Garderobe vor und nahm keine Mahlzeiten außer Haus ein. Ihre Liebschaft mit dem eher mittelmäßigen Schriftsteller Arrigo Boito hielt sie geheim. Aber als der fünf Jahre jüngere, legendenumwitterte Dichter Gabriele D’Annunzio die weltberühmte Schauspielerin 1894 zu seiner Muse machte, war es mit der Diskretion vorbei. Die turbulente Liaison beschäftigte halb Europa. Ein weiterer Schritt – die Muse wurde zum Medienphänomen. D’Annunzio kam die öffentlichkeitswirksame Affäre sehr zupass, denn Eleonora Duse sollte seine Stücke auf die Bühne bringen. Sie tat es, auch mit großem finanziellen Engagement. „Da Du die einzige Offenbarung bist, die eines Dichters würdig ist, und da ich ein großer Dichter bin, ist es notwendig – vor den heiligen Gesetzen des Geistes –, dass Du Deine Kraft meiner Kraft übergibst – Du Eleonora Duse mir Gabriele D’Annunzio“, umschmeichelte der in Schulden ertrinkende Vielschreiber seine Geliebte und gebärdete sich wie ein Renaissancefürst. Was passiert, wenn eine Muse allzu irdisch wird und sich als gewöhnliche Liebende Blöße gibt, zeigt sich in D’Annunzios pathostrunkenem Roman „Das Feuer“ (1900). Er porträtierte die Freundin in der unterwürfigen Foscarina, die alternd alle Reize verliert und dem stählernen Dichterjüngling Stelio in ihrer Hingabe bald zur Last wird. Als vitaler „super-uomo“ mit „bestialischer Wildheit“ kann Stelio, hinter dem sich natürlich D’Annunzio selbst verbirgt, unmöglich auf die junge Rivalin Foscarinas verzichten. Duses Impresario bat sie, die Veröffentlichung zu verbieten. „Ich kenne den Roman, und ich werde den Druck nicht verhindern“, erwiderte sie. „Mein Leiden zählt nicht, wenn es darum geht, der italienischen Literatur noch ein Meisterwerk zu schenken. Und dann … ich bin vierzig und ich liebe!“ Als D’Annunzios sinnliche Unersättlichkeit sich dann aber allzu sehr auf die jüngere Konkurrentin konzentrierte, kam es 1904 endgültig zum Bruch. „Du hast mich wie ein Instrument der Kunst behandelt, das man nimmt und wegwirft“, empörte sie sich. Plötzlich waren die Musen zu einem Gebrauchsgegenstand geworden, dessen man sich mechanisch bedient. Die Aura drohte zu verfliegen.

Eine Tabuzone der bürgerlichen Gesellschaft um die Jahrhundertwende war immer noch die Homosexualität. Hier musste das Musengeschäft ganz im Geheimen stattfinden. „Um mir eine Verfassung zu geben“, habe er Katia geheiratet, ließ Thomas Mann verlauten. Als er 1911 mit seiner Frau und seinem Bruder Heinrich im Grand Hôtel des Bains am Lido von Venedig Quartier nahm, machte ihm die Libido einen Strich durch die Rechnung. Seine Muse war ein dunkel gelockter, elfjähriger Knabe: Wladyslaw von Moes, Sohn eines polnischen Barons. Ein Ephebe, wegen seiner prekären Gesundheit zart wie ein Mädchen. Tag für Tag fieberte der Schriftsteller Begegnungen im Fahrstuhl oder am Strand entgegen und beobachtete fasziniert, wie sich Wladyslaw mit seinem Freund Janek raufte. Auch Katia fiel das auf. Der polnische Knabe habe ihren Ehemann in melancholisches Grübeln verfallen lassen, bemerkte sie in ihren Memoiren. Der Schriftsteller zog sich zurück und überließ sich seinen Fantasien. Echte Nähe wollte er gar nicht: „Ich – und einem geliebten Jungen irgendetwas zumuten! Undenkbar!“, setzte sich Thomas Mann später von dem offen pädophilen André Gide ab. Stattdessen schrieb er binnen Jahresfrist „Der Tod in Venedig“ (1912). Dem Lyriker und Essayisten Carl Maria Weber gegenüber bemerkte er: „Sagen Sie mir, ob man sich besser ,verraten‘ kann. Meine Idee des Erotischen, mein Erlebnis davon ist hier vollkommen ausgedrückt.“ Erst 1926 stieß eine Cousine von Moes auf die Novelle und wies Wladyslaw auf das Porträt hin. Er fühlte sich geschmeichelt, immerhin war Thomas Mann ein Schriftsteller von Weltrang.

Die Muse trat für Thomas Mann als „élan vital“ in Aktion – und wirkte aus dem Verborgenen, was den Reiz noch steigerte. Das pure Gegenteil galt bei einer weiteren gefeierten Frau des Fin de siècle. Alma Mahler-Werfel setzte das Musenrepertoire bewusst ein und münzte ihre überbordende Sinnlichkeit sogar in ein emanzipatorisches Instrument um. Intellektuell bescheidener als Lou Andreas-Salomé oder die Duse, war sie ebenso wenig greifbar wie ihre Musengenossinnen. Auf theatralische Eroberungen und Ehen folgten noch theatralischere Ehebrüche. Alma besaß ein großes soziales Talent, führte ein mondänes Haus und entlockte ihren Männern Höchstleistungen. Die 1879 geborene Wienerin schlug eine halbe Künstlerkompanie in den Bann: Gustav Klimt, Alexander von Zemlinsky, Gustav Mahler, Oskar Kokoschka, Walter Gropius und schließlich Franz Werfel, um nur die Wichtigsten zu nennen. Mahler widmete ihr die 8. Sinfonie, als er sie an Gropius verloren glaubte. Nach Mahlers Tod war Kokoschka von der trauernden Witwe betört: „Wie schön sie war, wie verführerisch hinter ihrem Trauerschleier. Ich war verzaubert von ihr!“ Seine Mutter schien skeptischer: „Wie ich diese Person hasse, das glaubt mir kein Mensch. So ein altes Weib, die schon ein elfjähriges Familienleben hinter sich hat, hängt sich an so einen jungen Buben …“ Aber Kokoschka hielt an ihr fest, porträtierte sie auf unzähligen Gemälden und bat sie: „Du musst mich in der Nacht wie ein Zaubertrank neu beleben.“

Es sind die altbekannten Hoffnungen: Inspiration, Originalität, omnipotente Kreativität, alles sollten Frauen spenden. Alma dachte nicht daran. Ihr hysterisches Begehren verlangte nach Liebhabern in Serie. Nachdem sie 1929 Franz Werfel geheiratet hatte, trieb sie ihn zu seinen Erfolgsromanen an, auch weil der aufwendige Wiener Lebensstil Unmengen von Geld verschlang. Sie trank gern, tratschte viel und befehligte noch im amerikanischen Exil über die Emigranten. Aber ohne sie wäre der „hässliche, verfettete Jude“, wie sie Werfel unverblümt antisemitisch titulierte, 1938 vermutlich nicht über die Pyrenäen gekommen. Alma Mahler-Werfel treibt das alte Musenideal auf die Spitze – und wird zu einer Art Göttinnenschlachtross. Während für Lou Andreas-Salomé und Eleonora Duse der Musenstatus an Attraktivität verlor und beide sich ihren eigenen schöpferischen Kräften zuwandten, hielt Alma eisern daran fest. Sie schoss jede Form von Moral in den Wind, erkämpfte sich Autonomie und praktizierte eine private sexuelle Revolution avant la lettre.

Die Rollenbilder waren längst ins Wanken geraten, und spätestens im 20. Jahrhundert sind die Musen vor allem ein Materiallager. Jemand, der Musen, sosehr er sie verehrt, krude instrumentalisiert, ist Truman Capote. Seine Freundinnen mussten nicht nur schön und schlagfertig sein, sondern am besten auch noch reich. Erotische Erfahrungen lebte der elfenhafte Capote mit seinen Liebhabern aus; Frauen dienten ihm als Studienobjekt. Die Bankiersgattin Gloria Guinness, das Harper’s-Bazaar-Model Slim Hayward, Babe Paley, verheiratet mit dem Gründer des Fernsehsenders CBS, Oona Chaplin, Jackie Kennedy, die Frau des Fiat-Besitzers Marella Agnelli oder die Erbin Gloria Vanderbilt gingen mit ihm in Nachtclubs oder luden ihn zum Lunch ein. Er selbst trat als beste Freundin dieser Damen in Aktion, machte sich unentbehrlich für Aussprachen jeder Art, war verständnisvoller als die viel beschäftigten Ehemänner. Er mochte ihre Eleganz, ihren Stil, ihren Klatsch und überbot sie noch darin. Sie brachten ihm bei, wie man sich kleidete und einrichtete. Und Capote reüssierte. Er bekam 1955 den Auftrag für eine prestigeträchtige Reportage über Gershwins Tournee mit „Porgy and Bess“ nach Leningrad und Moskau. Ein russischer Funktionär zitierte immer wieder den lateinischen Ausspruch „Inter armas silent Musae“ mit der Anmerkung, dass man nach dem Kanonendonner des Zweiten Weltkriegs nun ein Ohr für Musen habe. Für Capote eine Steilvorlage. „The Muses Are Heard“ nannte er seinen ironischen Reisebericht, der 1956 mit großem Erfolg im New Yorker erschien. Aber das neue Wunderkind von Manhattan zog seine Privatmusen vor. 1958 erfand Capote die bildhübsche, witzige, sexuell freigebige Holly Golightly, in der sich jede seiner Freundinnen wiedererkannte. Tatsächlich hatte er sie aus sechs oder sieben seiner Musen zusammengesetzt. Der melancholische, federleichte Kurzroman „Frühstück bei Tiffany“ huldigte genau wie sein erst 2004 entdeckter Erstling „Sommerdiebe“ einer verschwenderischen Art von Weiblichkeit.

Aber ausgerechnet mit seinen vermögenden Freundinnen, die ihn Jahr für Jahr in Sommerhäuser und auf Jachten einluden, rechnete er Ende der siebziger Jahre in „Erhörte Gebete“ harsch ab, unter Klarnamen. Die Musen wurden von ihrem Thron gehoben. „Altes texanisches Sprichwort: Frauen sind wie Klapperschlangen – zuletzt stirbt der Schwanz. Einige Frauen sind ihr Leben lang dazu bereit, für einen Fick alles in Kauf zu nehmen; und Miss Langman blieb, wie ich höre, eine Enthusiastin, bis ein Schlaganfall sie umbrachte. Oder wie Kate McCloud gesagt hat: ‚Eine wirklich gute Nummer ist eine Reise um den Globus wert – in mehr als einer Beziehung‘. Und Kate McCloud hat, wie wir alle wissen, zu diesem Thema einiges zu sagen: wenn aus ihr so viele Stängel herausstehen würden, wie in sie hineingesteckt worden sind, dann würde die gute Kate aussehen wie ein Stachelschwein.“ Capote ist der Materialist unter den Musenanrufern. Nachdem er sie ausgequetscht hat, lässt er sie über die Klinge springen. Bei ihm haben sich die Musen in ordinäre Frauenzimmer verwandelt und sind endgültig tot. Oder anders ausgedrückt: Sie unterscheiden sich kaum mehr von Männern.

Der Realitätsschub hat aber auch sein Gutes. Er zeigt den Grad an Trivialisierung. Keine Musen nämlich, sondern Groupies treiben heute ihr Unwesen. In einer Welt, in der Liebe und Sexualität frei zur Verfügung zu stehen scheinen und bürokratisch über Facebook verwaltet werden, müsste es gelten, das Geheimnis zu schüren. Als Rückzugsort bleibt die Fantasie. Vielleicht gar kein schlechter Moment, um die Schutzgöttinnen der Antike um Beistand zu bitten.

Maike Albath ist Literaturkritikerin, unter anderem beim Deutschlandradio. Zuletzt erschien ihr Sachbuch „Der Geist von Turin“ (Berenberg)

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