Die Rote Liste
Spätestens seit der erbitterten Diskussion über die Restitution von Ernst Kirchners „Straßenszene“ sind Deutschlands Museumsdirektoren in Alarmbereitschaft.
Jetzt also soll geforscht werden, und das konzentriert und koordiniert. Acht Jahre nach der Washingtoner Konferenz, bei der sich Deutschland bereits dazu verpflichtet hatte, die Museumssammlungen von Bund, Ländern und Kommunen auf NS-Raubkunst hin zu untersuchen, will Kulturstaatsminister Bernd Neumann nach einem Krisengipfel im Kanzleramt nun endlich gemeinsam mit den Ländern Mittel für diese Herkulesaufgabe bereitstellen, die in anderen Staaten längst erledigt wird. Er reagiert damit auf eine Reihe spektakulärer Restitutionen in der Vergangenheit, vor allem auf die – wie inzwischen sogar gerichtlich festgestellt wurde, unberechtigte – Kritik an der Rückgabe von Ernst Ludwig Kirchners „Straßenszene“ aus dem Berliner Brücke-Museum. Neumanns Schritt kommt aus politischem Kalkül und peinlich spät, vielleicht aber nicht zu spät. Er wird nicht allein die Erben der enteigneten und beraubten Sammler erleichtern – sondern auch die betroffenen deutschen Museen. Sie nämlich sehen sich mit einer Vielzahl von Rückgabeforderungen konfrontiert, auf die sie bislang wegen fehlender Bereitschaft zu eigenen Recherchen kaum zu reagieren imstande sind. In Zukunft wird darauf niemand mehr Rücksicht nehmen wollen.
Dem Folkwang-Museum in Essen beispielsweise liegt ein Restitutionsbegehren für Ernst Ludwig Kirchners „Leipziger Straße“ von 1914 vor. Das Gemälde stammt aus derselben Sammlung Hess wie die aus Berlin unter großer öffentlicher Anteilnahme restituierte „Straßenszene“.
Ein anderes Beispiel: Der ehemals in Breslau lebende Unternehmer Alexander Lewin schaffte es bei seiner Emigration zwar, vor allem impressionistische und postimpressionistische Werke seiner umfangreichen Privatsammlung mit in die Schweiz zu nehmen. Die deutschen Bilder dagegen musste er zurücklassen. Ein Gemälde von Wilhelm Leibl, das spätestens im Januar 1939 Adolf Hitler für sein geplantes Großmuseum in Linz an der Donau requirierte und das sich heute als Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland in der Kunsthalle Bremen befindet, fordern die Erben Lewin zurück. Das zuständige Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV) sieht allerdings die Umstände des Verlustes als ungeklärt an und will dem Antrag deshalb im Augenblick nicht entsprechen.
2300 Objekte, die nach dem Krieg wegen nicht zu klärender Herkunft im Besitz der Bundesrepublik geblieben sind, bilden eine besondere Gruppe. Seit einigen Jahren versuchen Kunsthistoriker im Bundesamt für zentrale Dienste und offene Vermögensfragen (BADV), die Herkunft der Gemälde, Grafiken und Skulpturen zu klären. 393 Vorgänge wurden seither abschließend untersucht. In 13 Fällen wurde restituiert, 34 Verfahren sind noch anhängig. Die Rückgabe von Canalettos „Zwingergraben in Dresden“ an den in Chile lebenden Erben des Hamburger Sammlers Max Emden lehnt der Bund als unbegründet ab. Bislang hing das Bild im Bonner Amtssitz des Bundespräsidenten. Der allerdings möchte es, nachdem eine Klage angekündigt wurde, nicht mehr aufhängen. Nun hat das BADV einen Leihvertrag mit dem Militärhistorischen Museum in Dresden abgeschlossen.
Seit Jahren schon liegt dem Duisburger Wilhelm-Lehmbruck-Museum ein Rückgabeantrag der Erben des jüdischen Unternehmers Ismar Littmann für Emil Noldes „Buchsbaumgarten“ vor. Direktor Christoph Brockhaus lehnt ihn als unbegründet ab, bot allerdings trotzdem eine – als zu niedrig abgelehnte – Entschädigungszahlung an. Gleiches gilt für Franz Marcs 1910/11 entstandene „Katze hinter einem Baum“, die nach Aktenlage im März oder April 1936 aus einer Marc-Gedächtnisausstellung in der Kestner-Gesellschaft in Hannover verkauft wurde. Heute hängt das Bild als Leihgabe der landeseigenen NordLB im dortigen Sprengel-Museum. Karl Hofers „Mädchen mit Frühstückskorb“ in Köln, Hermann Max Pechsteins „Drohendes Wetter“ in Mönchengladbach und Alexander Kanoldts „Stilleben mit Laute“ gehören ebenfalls zu den von der Littmann-Familie zurückgeforderten Bildern.
Aus der Sammlung Hess stammen Franz Marcs „Kleine blaue Pferde“ und Lyonel Feiningers „Barfüßer-Kirche I“, beide in der Staatsgalerie Stuttgart, und Kirchners „Urteil des Paris“ im Ludwig HaackMuseum in Ludwigshafen. Bei anderen Bildern aus der Sammlung Hess sind die Verlustumstände noch nicht geklärt. Für die „Türme von Soest“ des Expressionisten Christian Rohlfs, das als Leihgabe des Landes Nordrhein-Westfalen im Landesmuseum Münster hängt, und für die „Kühe“ von Franz Marc im Lenbachhaus in München wurden die betroffenen Museen deshalb bislang nur um Informationen gebeten. Ob jemals eine Forderung gestellt wird, ist nach Angaben der Erbenvertreter ungewiss.
Die Erben des niederländischen Kunsthändlers Jacques Goudstikker, vertreten durch den Kunsthistoriker Clemens Toussaint, verhandeln mit dem Herzog Anton UlrichMuseum in Braunschweig über ein Tiepolo-Gemälde. Weitere Verhandlungen sind in Leipzig und Wiesbaden anhängig. Die Restitution wird bislang abgelehnt.
Die Erben des Kunsthändler- und Sammlerpaares Rosy und Ludwig Fischer fragen nach der Herkunft von mehreren Bildern aus verschiedenen deutschen Museen. Zwei Kirchner-Gemälde im Berliner Brücke-Museum, „Sich kämmender Akt“ und „Damen im Café“, könnten ebenso Gegenstand eines Restitutionssbegehrens werden wie Erich Heckels „Frühling in Flandern“ aus dem Karl Ernst Osthaus-Museum in Hagen, Franz Marcs „Wildschweine“ im Kölner Museum Ludwig sowie seine „Weiße Katze“ und Albert Weißgerbers „Sebastian in blau“ in der Städtischen Galerie Moritzburg in Halle. Das Ehepaar Fischer hatte die Bilder 1924 gegen die Zusicherung einer Leibrente an das Museum verkauft; ab Mitte der dreißiger Jahre wurde dann aber möglicherweise nicht mehr gezahlt. Moritzburg-Direktorin Katja Schneider verkündete in einem Interview allerdings bereits, sie wolle nicht restituieren, und stattdessen Nachzahlung mit Zinsen angeboten: „Der Verkauf von 1924 war kein Zwangsverkauf.“
Stefan Koldehoff ist Kulturredakteur beim Deutschlandfunk in Köln. Der Kunstmarktexperte schrieb Bücher unter anderem über Vincent van Gogh und das Thema Kunstdiebstahl
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.