Margots Welt
Seit vierzehn Jahren lebt Margot Honecker in Santiago de Chile, 18 Flugstunden von der Heimat entfernt. Wie bewältigt die 79-Jährige ihren chilenischen Alltag?
Vertrieben haben wir sie! Vor zwei Jahren ist sie mit ihren Enkeln fortgezogen. Es war ja auch höchste Zeit“, erregt sich die Dame an der Bushaltestelle. Vertrieben, aber warum denn? „Das fragen Sie noch! In diesem Viertel, mein Herr, sind wir zu 100 Prozent Anhänger von Pinochet. Zu 100 Prozent! Eine wie Señora Honecker hat hier nichts verloren.“ Keift’s, rückt die Sonnenbrille zurecht und steigt in den Bus.
Kein ermutigender Anfang für jemanden, der nach 18 Stunden mit nichts als der einen, mutmaßlichen Honecker-Adresse in Santiago gelandet ist. Andererseits soll man auch nicht alles glauben, was der Klassenfeind über Margot Honecker in die Welt setzt. In der Ladenzeile an der Calle Nicanor Parra jedenfalls weiß der Bäcker durchaus von einer deutschen Großmutter zu berichten. „Die lebt hier um die Ecke, zusammen mit ihrem Enkel.“ Und auch der Lebensmittelhändler gleich nebenan kennt „Señora Margot“ als treue Kundin. Mittlerweile spreche sie sogar recht gut Spanisch. Ob auch er, wie alle anderen hier, zu Pinochet halte? „Teufel nein!“ Mit „dieser Verbrecherbande“ habe er nichts am Hut.
Vor dem Laden sonnen sich Bauarbeiter auf einem offenen Lastwagen und pfeifen Mädchen in schwarzen Schulröcken nach. Ein angetrunkener Mitvierziger mit Baseballkappe tut so, als sei er der Parkwächter. Wer den Blick hebt, sieht, wie die Kordillerenkette am Ende der lang gezogenen Straße Tausende Meter in den Himmel ragt. In der klaren Frühlingsluft wirkt sie zum Greifen nah. Auf den Gipfeln glitzert der letzte Schnee des Jahres.
La Reina, „die Königin“, heißt dieser Stadtteil im Osten von Santiago de Chile, eine halbe Autostunde vom Zentrum der Sechs-Millionen-Metropole entfernt. Ein Wohngebiet für Chiles gehobene Mittelschicht, gepflegte Einfamilienhäuser- mit blühenden Vorgärten bestimmen das Bild. Die Hauseingänge liegen hinter elektronischen Stahltoren, und hinter den Gartenzäunen bellen deutsche Schäferhunde.
Nach vierhundert Metern die Straße hinab kommt sie dann, die Nummer 8978. „Comunidad Andalue“ ist in Schreibschrift auf weißen Kacheln gebrannt. Eine Kleinstsiedlung von acht Häuschen. Die Schutzmauer ist mit Graffiti beschmiert: „Nein zum Faschismus“ steht zu lesen, und: „Nieder mit der Oligarchie“. Namensschilder finden sich keine, nur messingfarbene Knöpfe in alphabetischer Ordnung. Haus G soll es sein.
Noch bevor ich die Klingel erreiche, hat sich ein gedrungener Mann mit Strohhut und Gärtnerschürze in den Weg gestellt. Seine Hände sind rau und erdig, das Mestizengesicht voller Narben. Ob ich einen Brief an Frau Honecker bei ihm abgeben könne. „Ja, keine Sorge“. Die Dame wohnt auch ganz gewiss noch hier? „Ja, keine Sorge“. Und er werde ihr den Brief noch heute geben? „Ja, ja, keine Sorge.“ Schon ist er wieder in seinem Kabuff verschwunden und beäugt mich durch ein kleines Sichtfenster. Hier endete sie also, die Flucht des Ehepaares Honecker – in einem Mini-Wandlitz am anderen Ende der Welt.
Seit vierzehn Jahren lebt Margot Honecker im Haus G., seit zwölf Jahren als Witwe. In diesem Zeitraum ist sie für die Öffentlichkeit praktisch unsichtbar geworden. Nicht ein einziges Interview hat sie bewilligt. Seit der Dokumentarfilmer Thomas Grimm im Jahr 2001 Akten aus dem Nachlass ablichten durfte, hat sie kein deutscher Journalist mehr zu Gesicht bekommen. Es fällt nicht leicht, sich vom zweiten Leben der Margot Honecker ein Bild zu machen. Allein über ihre finanzielle Versorgung ist Handfestes bekannt. Rund 1500 Euro Pension erhält sie monatlich vom deutschen Staat für ihre dreißigjährige Ministertätigkeit (mit Witwenrente). Eine Summe, mit der eine alleinstehende Dame in Chile bequem auskommt – zumal, wenn das Eigenheim (Marktwert circa 250000 Euro) abbezahlt ist. Margot Honecker gehört noch eine zweite Immobilie in der Stadt. Ein kleines Backsteinreihenhaus in der nahe gelegenen Calle Ossandón, das Tochter Sonja gemeinsam mit ihren beiden Kindern bezog. 1994 war das, als sich Sonja nach zwanzig Ehejahren von dem chilenischen KP-Funktionär Leo Yáñez scheiden ließ.
Zu tief greifenden Veränderungen der Familiensituation scheint es bei den Honeckers seither nicht gekommen zu sein. Genauso wenig wie zu einer Annäherung an die große Gemeinschaft der Exil-Deutschen. Zu Honecker bestehe lediglich ein „minimaler Kontakt“, vermeldet die Deutsche Botschaft. Weder Enkel Roberto noch Enkelin Viviane haben die Deutsche Schule in Santiago besucht. Und auch das Clubhaus des Deutsch-Chilenischen Bundes, nahe den glitzernden Luxus-Hotels und prächtigen Shopping-Malls an der Avenida John F.Kennedy, hat bis heute kein einziges Familienmitglied betreten. Beim Rundgang durch die mit schwarz-weiß-roten Fahnen geschmückten Vereinsräume meint man die Gründe für diese Strategie erahnen zu können. Es sei schon richtig, hier im Verein herrsche, wie es die hauptamtliche Archivarin ausdrückt, eine „traditionell eher rechte Gesinnung“. Deutsch-Chilenen, die dem Club weniger nahestehen, nehmen in diesem Zusammenhang auch das Wort „Nazis“ in den Mund.
Faschist oder Kommunist, auf diese Alternative scheint in Chile auch fünfzehn Jahre nach dem Ende der Pinochet-Dikatur noch alles und jeder reduziert zu werden. Und natürlich zeiht jede Partei die andere der gezielten Denunziation. Nicht, dass der Fall Margot Honecker ideologische Zweifel zuließe, aber am liebsten würde man natürlich mit ihr persönlich sprechen. Sie ganz direkt nach ihrem Leben und ihrer Weltsicht befragen.
Dreimal läutet es durch. In einem vergleichbaren chilenischen Haushalt wäre nun das Dienstmädchen am Apparat. Doch Margot Honecker nimmt selbst ab. Die 79-Jährige antwortet ruhig und höflich, bedankt sich für die Anfrage. Für ein Gespräch jedoch stehe sie nicht zur Verfügung. Nicht über sich. Nicht über die politische Lage in Deutschland, auch nicht über die in Südamerika, nicht einmal über die Ähnlichkeiten zwischen dem finnischen Bildungssystem und dem der ehemaligen DDR. „No, no, dazu werde ich nichts sagen“, wiederholt sie mit steigender Intensität. Lediglich, dass die deutsche Politik sich schon „selbst kümmern muss, wie sie aus ihrer Bildungsmisere hinauskommt“, will die ehemalige Ministerin für Volksbildung festgehalten wissen. Ob sie denn keine Verbesserungsvorschläge hätte? „Doch, ich hätte viele.“ Und die wollen Sie nicht mitteilen? „Nein, ich mache keine Ausnahme, keine Interviews. Außerdem bin ich die nächsten Tage auch gar nicht in Santiago.“ Und danach? „Ach, danach“, setzt Margot Honecker eine letzte kulturkritische Pointe, „wer weiß heute schon noch, was ‚danach‘ ist?“
Sie möchte einfach nicht. Seit fünfzehn Jahren geht das so. Sie fürchtet, die deutsche Öffentlichkeit werde, ganz egal, was sie sage, sowieso jedes Wort gegen sie wenden. Vermutlich hat sie damit sogar recht.
Erst in der Gartenlaube von Carlos Puccio konkretisiert sich das Bild von Honeckers chilenischem Alltag. Ende September noch habe er sie gesehen, beim neunzigsten Geburtstag von Luis Corvalán, dem ehemaligen Vorsitzenden der chilenischen KP. Senora Margot war da gerade frisch aus Kuba zurückgekehrt, wo sie praktisch den ganzen Winter verbracht hatte. „Margot nutzt diese Möglichkeit sehr häufig. Besonders im Juni und Juli ist das Wetter in Santiago ungemütlich. Wer es sich leisten kann, fährt weg. Außerdem lässt sie sich in Kuba auch medizinisch versorgen.“ Und die Kubaner laden sie ein? „Das“, meint Puccio, „ist ja wohl das Mindeste, was Castro für sie tun kann. Schließlich wurden in der DDR damals mehr als 10000 Kubaner ausgebildet.“
Solidarität mit Margot, auch für Puccio und die seinen ist diese Haltung bis heute eine Selbstverständlichkeit. „Als die Honeckers hier ankamen, haben wir uns alle um sie gekümmert, manche mehr, manche weniger. Heutzutage ist es weniger geworden, das liegt aber eher an ihr. In den letzten Jahren hat sie sich ziemlich zurückgezogen.“
Mit diesem „Wir“ meint der 52-jährige Dokumentarfilmer das Netz der sogenannten „Retornados“. Chilenen, die in der DDR politisches Asyl fanden, nachdem General Pinochet das demokratisch gewählte Linksbündnis von Salvador Allende im Jahre 1973 blutig geputscht hatte. Die chilenische Exil-Gruppe in der DDR bestand aus militanten Aktivisten, Verantwortungsträgern und auch Regierungsmitgliedern der gestürzten „Unidad Popular“. Puccios Vater war einer von ihnen. Über ein Jahrzehnt hielt sie von Ost-Berlin aus die Fiktion einer demokratisch legitimierten Gegenregierung aufrecht – und wurde vom SED-Staat dementsprechend privilegiert behandelt. Stadtwohnungen, Büroräume, die Kinder durften studieren. Führende Köpfe genossen gar Diplomatenstatus.
Ab Mitte der achtziger Jahre, als sich die politische Lage in Chile entspannte, wagte ein Großteil der Familien die Rückkehr. Die Übrigen folgten nach dem Zusammenbruch der DDR. Es war nicht zuletzt dieses Netz, das Honeckers einen Fluchtweg nach Chile öffnete.
Und spätestens mit dem Jahr 2006 sind die Retornado-Familien, in Gestalt der damaligen Söhne und Töchter, auch im eigenen Land wieder an die Macht zurückgekehrt. Die Sozialistin Michelle Bachelet, im März zu Chiles erster Präsidentin gewählt, ist Teil dieser Gruppe. Und ihr Leibarzt ist der ältere Bruder Puccios. Der jüngere ist Botschafter in Madrid.
Freilich, nicht alle „Rückkehrer“ haben den biografischen Bruch von Exil und Heimkehr gleich erfolgreich bewältigt. Leo Yáñez zum Beispiel, den sie alle nur „Yanecker“ nannten, war zu DDR-Zeiten Hochschuldozent für die Geschichte des Marxismus und Leninismus an der Humboldt-Universität. Nach seiner Scheidung von Sonja Honecker fiel er in ein Loch jahrelanger Arbeitslosigkeit; heute soll er in der Erwachsenenbildung tätig sein, aber mit Sicherheit weiß das selbst in Retornado-Kreisen niemand zu sagen. Er ist lange aus Santiago weggezogen, hat die alten Kontakte abgebrochen. Und auch, was Sonja Honecker die vergangenen 15 Jahre so getan hat, scheint sich nicht leicht auf eine Formel bringen zu lassen. Der Name ruft bei Puccio nur ein Achselzucken hervor. „Ach, die Sonja.“
Das frühe Auseinanderbrechen der Familie führte dazu, dass sich Margot Honecker von Anfang an intensiv um die Enkel kümmerte. Zeitweise wohnten die beiden auch bei ihr. Eine Konstellation, an der sich bis heute nichts geändert hat. Noch immer geht Margot ganz in ihrer Rolle als Großmutter auf. Die 17-jährige Viviane legt Ende dieses Schuljahres ihr Abitur ab. Und was macht der ältere, Roberto? „Nein, drogensüchtig ist er nicht“, widerspricht Hausfreund Puccio Gerüchten aus Honeckers Nachbarschaft. Roberto habe nur hin und wieder, wie es unter chilenischen Jugendlichen ja ganz üblich sei, einen Joint geraucht. „Sonja und Margot konnten das allerdings gar nicht verstehen. In der DDR gab es ja so etwas praktisch nicht, da stand auf Marihuana-Konsum neun Jahre Zuchthaus.“ Sehr hart hätten sie ihn damals behandelt, ihn zum Arzt geschickt, Therapien aufgezwungen. Das sei aber schon lange her und gar nicht das eigentliche Problem. „Roberto leidet“, sagt Puccio, „an einer psychischen Krankheit. Etwas Kompliziertes, mit schizophrenen Symptomen. Nichts, was leicht zu behandeln ist.“ Abgesehen von dieser Sorge gehe es Senora Margot aber sehr gut. Vor allem gesund sei sie. Und noch immer kämen alte Freunde und Arbeitskollegen aus Deutschland zu Besuch.
Ein letzter Versuch an Klingel G. vor dem grünen Eisentor. Margot Honecker ist zu Hause. Doch auch der Name Puccio bringt keinen Fortschritt. Die Absage sei endgültig, ein Gespräch im Moment ohnehin unmöglich. „Ich habe die Bude voll, und heute Nachmittag fahren wir weg“, erklärt sie durch die Sprechanlage. Gewiss.
Als ich mich umdrehe, wühlt ein Mann mit zerrissenem Poncho im Hausmüll der Communidad Andalue. Tief und immer tiefer. Doch offenbar findet sich nichts Verwertbares. Ein Fluch aus zahnlosem Mund, dann schiebt er seinen riesigen, mit Pappe und Altpapier beladenen Einkaufswagen die Straße hinauf, zieht weiter, bis zum nächsten Container. Mittlerweile kennen wir uns. Er kommt jeden Tag um diese Zeit.
Wolfram Eilenberger ist Philosophischer Korrespondent bei Cicero. Er schrieb das Buch „Philosophie für alle, die noch etwas vorhaben“ (Berlin Verlag)
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