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Köln und die Medien - Bitte bei den Fakten bleiben

Die Medien stehen in der Kritik, unvollständig und verzerrt über die sexuellen Übergriffe in Köln berichtet zu haben. Einiges davon stimmt, und nicht alles sollte man als Vorwürfe linker Weltverbesserer oder rechter Demagogen abtun

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Update vom 9. Januar, 11:50 Uhr: Liebe Leserinnen und Leser, dieser Artikel spiegelt die Informationslage vom Vormittag des 5. Januar wider. Sie enthält weder die später erschienene Entschuldigung des ZDF für die verzögerte Berichterstattung noch die neuesten Erkenntnisse zu den massenhaften sexuellen Übergriffen.

 

Es war ein Zeichen des guten Willens, des Dialogs mit dem Publikum. „Was denkt ihr: Wie sollte @heuteplus über die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln berichten?“, twitterte der digitale Kanal des ZDF am Montagabend. Eine etwas verunglückte Fragestellung: Denn natürlich kann und darf über die massenhaften kriminellen Vorfälle nicht anders berichtet werden als über jedes andere nachrichtenrelevante Thema auch. „Heute plus“ stellte auf Nachfrage klar, dass hier keine anderen Maßstäbe gelten, man habe sich nur für die Meinung der Nutzer interessiert.

Die Medien stehen seit Beginn der Flüchtlingsdebatte im vergangenen August unter verstärkter Beobachtung. Das ist gut so. Sie entscheiden schließlich, welche Nachrichten die Menschen wann lesen, sehen und hören. Sie gewichten und filtern. Im Englischen gibt es dazu einen Fachbegriff: Sie sind die „Gatekeeper“, die Torwächter, die bestimmen, was ans Publikum gelangt und was abgefangen wird.

Aber sind die Medien im Fall Köln dieser Verantwortung gerecht geworden?

Die Ereignisse emotionalisieren: Sexuelle Übergriffe durch Täter nichtdeutscher Herkunft? Und das vor dem Hauptbahnhof, der eigentlich von der Bundespolizei bewacht wird?

Auch auf der Reeperbahn in Hamburg kam es in der Silvesternacht zu massiven Übergriffen. In Stuttgart wurden zwei 18-Jährige von 15 Männern bedrängt, belästigt und beklaut.

15 sexuelle Übergriffe, davon eine Vergewaltigung


Vom Kölner Fall ist Folgendes bekannt: Rund 90 Anzeigen sind inzwischen bei der Polizei eingegangen, die meisten wegen Taschendiebstahls. Etwa 15 Frauen wurden sexuell belästigt. Auch eine Zivilbeamtin ist unter den Opfern. In einem Fall handelte es sich laut Kölns Polizeipräsident Wolfgang Albers „in juristischer Hinsicht um Vergewaltigung“. Er sprach von „Straftaten einer völlig neuen Dimension“. Oberbürgermeisterin Henriette Reker bezeichnete die Vorfälle als „ungeheuerlich“. Am Dienstagnachmittag telefonierte auch Kanzlerin Angela Merkel mit Reker. In einer Mitteilung des Bundespresseamtes hieß es, sie habe „ihre Empörung über diese widerwärtigen Übergriffe und sexuellen Attacken“ ausgedrückt, „die nach einer harten Antwort des Rechtsstaats verlangen“.

Die Täter waren laut Berichten von Polizeibeamten, Zeugen und Opfern zwischen 15 und 35 Jahren alt und stammten aus Nordafrika oder dem arabischen Raum. Ein Ermittler sagte dem Kölner Stadt-Anzeiger: „Die bisherigen Hinweise gehen deutlich in Richtung polizeibekannte Intensivtäter, mit Flüchtlingen haben die nichts zu tun.“

Ein Ermittler sagte: "Die bisherigen Hinweise gehen deutlich in Richtung polizeibekannte Intensivtäter, mit Flüchtlingen haben die nichts zu tun."

Sexuelle Belästigungen in der Silvesternacht: Polizei Köln geht von 40 verschiedenen Tätern aus | Köln - Kölner Stadt-Anzeiger - Lesen Sie mehr auf:
http://www.ksta.de/koeln/-sexuelle-belaestigungen-sote-in-der-silvesternacht-,15187530,33047730.html#plx461406654
Ein Ermittler sagte: "Die bisherigen Hinweise gehen deutlich in Richtung polizeibekannte Intensivtäter, mit Flüchtlingen haben die nichts zu tun."

Sexuelle Belästigungen in der Silvesternacht: Polizei Köln geht von 40 verschiedenen Tätern aus | Köln - Kölner Stadt-Anzeiger - Lesen Sie mehr auf:
http://www.ksta.de/koeln/-sexuelle-belaestigungen-sote-in-der-silvesternacht-,15187530,33047730.html#plx461406654

Gegen 21 Uhr fielen nach Polizeiangaben etwa 400 Männer auf dem Bahnhofsvorplatz auf, weil sie stark alkoholisiert waren und mit Feuerwerkskörpern auf Passanten schossen. Die Gruppe wuchs bis 23 Uhr auf 1000 Personen an. In keiner der drei bislang veröffentlichten Pressemitteilungen ging die Polizei auf diese große Zahl ein; die Aussage fiel lediglich mündlich auf der Pressekonferenz.

Vor und nach der Räumung des Bahnhofsplatzes durch die Polizei sei es aber zu den sexuellen Übergriffen gekommen, sagte ein Behördensprecher Cicero. „Ob diese Täter zu den 1000 Leuten gehören, wissen wir aber noch nicht“.

Die 1000 Männer und der falsche Zusammenhang


Dass diese Zahlen bislang nicht bestätigt sind, darauf wiesen nur wenige Medien hin. Vielerorts wurde die Aussage indes verkürzt. Bei Stern.de heißt es in einer Meldung: „Etwa 1000 Männer versammelten sich in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof. In Gruppen haben sie Frauen umzingelt, sexuell belästigt und ausgeraubt.“

Nein, es waren nicht alle Männer an allen Straftaten beteiligt, wie das diese Nachricht suggeriert, oder wie es die Deutschen Wirtschafts-Nachrichten direkt behaupteten: „Etwa 1.000 Männer haben Frauen belästigt.“

Es sind gefährliche Falschmeldungen, die sich ins öffentliche Gedächtnis fräsen. „Einmal verbreitete Schlagzeilen können übrigens nicht ungeschrieben gemacht werden“, schrieb die Journalistin Elke Wittich zurecht. Vor allem, weil sie nun sogar in deutschsprachigen Auslandsmedien übernommen werden: „1.000 Männer stecken hinter Sex-Attacke zu Silvester“, heißt es beim österreichischen Fernsehsender OE24 noch einigermaßen vage. „1000 Männer belästigen unzählige Frauen“, beim Schweizer Tagesanzeiger dann ganz falsch. Dort ist die Überschrift zwar inzwischen geändert, bei Google News und im Link findet sich diese Falschaussage jedoch noch immer.

Nochmals: Es gibt 90 Anzeigen, am 3. Januar hat die Polizei fünf Verdächtige festgenommen. Zwei von ihnen sind mittlerweile in Haft.

Herkunft und Hautfarbe müssen erwähnt werden


Korrekt berichten heißt auch, dass die Medien nicht nur Teilstücke beleuchten. Dass sie, um im Gatekeeper-Bild zu bleiben, nicht bestimmte Fakten abfangen und dem Leser vorenthalten. So verzichtete Spiegel Online auf die Information, dass Kölns Polizeipräsident Albers in einem Fall von einer Vergewaltigung sprach. Das ist auch eine Respektlosigkeit gegenüber den betroffenen Frauen.

Immer wieder gibt es in den Medien auch eine Debatte darüber, ob man die Hautfarbe oder Herkunft von Tätern nennen sollte. Das ist auch richtig, denn nicht bei jedem Wohnungseinbruch ist das von Interesse. Im Kölner Fall ist die Lage anders, auch wenn das die taz bestreitet: Natürlich muss hier die Täterbeschreibung möglichst genau sein – schon, damit die Bevölkerung Hinweise an die Polizei weitergeben und Zusammenhänge zum organisierten Verbrechen klären kann. Dennoch ging Zeit Online in den ersten Berichten zunächst nicht auf die Täter ein. Auch das Ausmaß der sexuellen Gewalt rechtfertigt eine solche Nennung, genauso wie die Tatsache, dass Polizeipräsident und NRW-Innenminister Ralf Jäger selbst die nordafrikanische oder arabische Herkunft erwähnten. Schließlich erlaubt es auch der Pressekodex (Ziffer 12.1), den Bezug zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten herzustellen, „wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht“.

Wer sich also hier vor Ehrlichkeit scheut, gibt „Lügenpresse“-Hetzern von AfD und Pegida Argumente an die Hand.

Zu spät berichtet?


Aus den sozialen Netzwerken kam noch ein weiterer Vorwurf. Die überregionalen Medien hätten erst sehr spät über die Übergriffe berichtet. Zu spät.

Für die lokalen Zeitungen trifft das jedenfalls nicht zu – der Kölner Stadt-Anzeiger berichtete schon am 1. Januar über den Gewaltexzess in der Silvesternacht. Das war ein Tag, bevor überhaupt die erste Polizeimeldung veröffentlicht wurde.

Dass die Fälle erst am 4. Januar einem deutschlandweiten Publikum bekannt wurden, hat dennoch nichts mit Mutwilligkeit zu tun. Und schon gar nichts mit linksgerichtetem Gutmenschentum. Der Grund ist möglicherweise viel einfacher: Es war für viele Journalisten der erste Arbeitstag nach ihrem Weihnachtsurlaub. Auch hat die Polizei Köln ihre Pressekonferenz erst für Montag angesetzt. Da kamen die Medien dann auch – und berichteten.

Die Flüchtlingsdebatte zwingt nicht nur die politischen und administrativen Entscheidungsträger in Bund, Land und Kommunen, ihre Handlungen permanent zu rechtfertigen. Die aufgeheizte Stimmung trifft auch die Medien, und das stärker als je zuvor. Sie müssen sich mit massenhaften Hasskommentaren auseinandersetzen. Einzelne Reporter sind gar selbst das Ziel von brutalen Attacken.

Trotzdem gilt heute noch immer, was bereits vor 200 Jahren galt: Presse muss aktuell, umfassend und wahrhaftig berichten. Egal, welche Hautfarbe, Herkunft und Geschlechtszugehörigkeit Täter oder Opfer haben.

Update um 17:45: Auf Wunsch von @Ruhrnalist wurde die Zivilbeamtin noch erwähnt.

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