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Irak - Die Eskalation ist eine Folge der US-Politik

Islamisten haben die zweitgrößte Stadt des Irak, Mossul, erobert – und drakonische Gesetze erlassen. Die Terroristen kommen teilweise aus dem Nachbarstaat Syrien. Schuld daran sind nicht zuletzt die USA, die ein Eingreifen in Syrien noch immer als strategisch unsinnig bewerten. So haben sie ungehindert einen Hort für Al Qaida und Co. gezüchtet

Autoreninfo

William J. Dobson ist Autor des Buchs „The Dictator’s learning Curve – Inside the global Battle for Democracy“, das im Herbst auf Deutsch unter dem Titel „Diktatur 2.0“ bei Blessing erscheint.

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Es sind erschreckende Nachrichten, die dieser Tage aus Mossul kommen. Dschihadisten haben die zweitgrößte Stadt des Irak, Mossul, besetzt. Die Terrorgruppe „Islamischer Staat im Irak und in Syrien“ (Isis) herrscht mit eiserner Hand: Diebe erwarten drakonische Strafen gemäß der Scharia, Frauen dürfen das Haus nur unter strengen Auflagen verlassen, unsittliche Denkmäler sollen zerstört werden.

Schon seit längeren tobt im Irak zudem ein Krieg zwischen Sunniten und Schiiten. 2013 starben mehr als 8000 Iraker, die höchste Opferzahl seit 2008. Mehr als 140 000 Menschen sind seit vergangenem Dezember vor religiös motivierter Gewalt aus der Provinz Anbar geflohen. Im Januar verließen in nur einer Woche 65.000 Iraker Falludscha und Ramadi – Städte, die wieder in die Hände von Al Qaida gefallen sind.

Syrien ist ein Leichenhaus. Mehr als 140.000 Menschen sind in dem grausamen Bürgerkrieg getötet worden. Das Massensterben ist so furchtbar, dass die Vereinten Nationen es aufgegeben haben, die Toten zu zählen.

Die Straßen Beiruts werden von Autobomben und Anschlägen erschüttert, weil die Kämpfe in Syrien auf den Libanon übergreifen. Auch Kairo ist zu einem Schauplatz von Bombenexplosionen und Tötungen geworden, zeitgleich kommt es zu dschihadistischen Angriffen im Sinai. Andere, scheinbar stabile arabische Staaten könnten bald auch in Gefahr sein.

Die maskierten Al-Qaida-Kämpfer erleben einen neuen Aufwind. Sie scheinen die einzigen Sieger in all dem Chaos im Nahen Osten zu sein. Ihren Rekruten und fanatischen Anhängern ist es gelungen, sowohl den Volksaufstand in Syrien als auch die schwelenden Ressentiments im Irak in einen religiösen Krieg zwischen Sunniten und Schiiten zu verwandeln. Unter dem Label „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ hat Al Qaida sich kein geringes Ziel gesteckt: die Grenzen zwischen Syrien und Irak von der Landkarte tilgen und einen eigenen transnationalen Terrorstaat ausrufen.

Die Kämpfer sind disziplinierter, besser bewaffnet und erfahrener denn je. Die Schlachtfelder Syriens haben der Terrororganisation als Sammelort und Übungsplatz gedient. Inzwischen überqueren ihre kampfgestählten Infanteristen ungehindert die syrisch-irakische Grenze. Der amerikanische Botschafter im Irak schätzt, dass sich mehr als 2000 Al-Qaida-Kämpfer im Land aufhalten.

Die Gewalt eskaliert ungehindert

Der Nahe Osten versinkt nicht einfach im Chaos. Er nimmt eine neue, ungleich tödlichere Gestalt an. Die vor 100 Jahren hastig gezogenen und vom Westen aufgezwungenen Grenzen sollen durch eine neue religiöse Spaltung ersetzt werden. Die Region ist zum Schachbrett der beiden größten Rivalen geworden: Iran und Saudi-Arabien. Diese Regime beanspruchen für sich, den schiitischen beziehungsweise sunnitischen Islam zu repräsentieren. Mit Waffen, Geld und Kämpfern heizen sie einen existenziellen Konflikt an, in dem Verhandlungen nicht vorgesehen sind. Al Qaida ist die hässliche Konsequenz eines Krieges innerhalb des Islam, der von Teheran und Riad gefördert wird.

Dieses Mal ist etwas anders: Die USA sind nicht beteiligt. Amerika, das Soldaten nach Afghanistan, in den Irak und anderswo geschickt hat, ist nicht mehr da. Dieses Vakuum – entstanden durch die Abwesenheit der amerikanischen Supermacht und durch die Schwächung der vielen arabischen Regime, die jahrzehntelang von den USA gestützt wurden – erlaubt es Iran und Saudi-Arabien, sich gegenseitig zu belagern. Die Hilferufe der Opfer oder auch nur ihre Bitte um eine begrenzte Intervention veranlassen Washington nicht zum Handeln. Als etwa im Januar sunnitische Rebellen die westirakische Stadt Falludscha eroberten, sagte Außenminister John Kerry, er sei besorgt um die Iraker. Allerdings sei dies „ihre Schlacht“.

Amerika ist der Kriege müde und hat kein Interesse an Auslandseinsätzen. Hinzu kommt: Je näher die USA ihrer Energieunabhängigkeit kommen, desto weniger Gründe gibt es für sie, sich auf ein neues Nahost-Abenteuer einzulassen.
So eskaliert die Gewalt ungehindert, und die Auswirkungen der amerikanischen Militärinterventionen des vergangenen Jahrzehnts werden offensichtlich: Der Nahe Osten steht in Flammen, und Al Qaida – das ursprüngliche Ziel von Amerikas „Krieg gegen den Terror“ – ist schlagkräftiger denn je.

In gewisser Weise waren die modernen Staaten des Nahen Ostens von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs zwangen den Überresten des Osmanischen Reiches künstliche Staatsgrenzen auf, ohne Rücksicht auf die Menschen in der Region. Es wurden grundverschiedene Gruppen gewaltsam vereint und ungeachtet ihres Glaubens, ihrer Geschichte oder ihrer Stammeszugehörigkeit einheitlich regiert. Minderheiten wie die Sunniten im Irak oder die Alewiten in Syrien wurden zu Herrschern über die Mehrheitsbevölkerung gemacht, die meist einer anderen Konfession angehörte.

Aus Sicht der Kolonialmächte eine geniale Strategie, die zweierlei gewährleistete: die Abhängigkeit der arabischen Regime von externen Mächten und geringen politischen Wandel. Der Kalte Krieg hat diese Region nur scheinbar stabilisiert. Tatsächlich geriet der Nahe Osten in einen ungesunden Zustand der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Starre. Verfall, Armut und Korruption dieser immer autoritäreren Regime brachten nichts Langlebigeres als den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus hervor. Die Region glich immer schon einem Pulverfass – die Verantwortung für die Explosion aber hat stets derjenige, der die Lunte zündet. In diesem Fall die Regierung von George W. Bush.

Zu Recht wird ihr vorgeworfen, die Dämonen und die aufgestaute Wut in der Region entfesselt zu haben. Der Irakkrieg ist ein Katalysator für fast alles gewesen, was danach geschah. So tragisch dieser Krieg auch war, der Friede wirkte fast genauso destabilisierend. Indem die USA die Schiiten im Irak stärkten und die Sunniten von der Macht ausschlossen, sorgten sie unbeabsichtigt dafür, dass diese alte Feindschaft Bestandteil der Zukunft des Landes bleiben wird. Inzwischen sind mehr als zwei Millionen Iraker – überwiegend Sunniten und Christen – wegen der Unterdrückung durch die Schiiten und aus Angst vor der immer autoritäreren Regierung von Premierminister Nouri al Maliki aus dem Land geflohen.

Nach der Rücksichtslosigkeit der Bush-Regierung waren die Amerikaner, und nicht nur die, erleichtert über die wohlüberlegte Umsicht von Barack ­Obama. Zwar war Bushs Nachfolger nicht gerade zimperlich, was den Einsatz von Gewalt angeht – man denke nur an den enormen Anstieg der Drohnenangriffe oder an das waghalsige Kommando zur Tötung Osama bin Ladens in seinem pakistanischen Versteck. Aber wenn es um die Entsendung amerikanischer Soldaten geht, hat Obama die Grenzen jedes Einsatzes so eng wie möglich gesteckt.

Der Präsident zeigt die Umsicht eines Juristen, er betreibt eine wohlkalkulierte Außenpolitik. Die Kosten politischer Entscheidungen wägt er vorsichtig ab gegen die Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs. Das mag auf den ersten Blick vernünftig klingen. Wenn wir aber den Preis von Obamas Vorsicht ignorieren, erliegen wir einer fatalen Selbsttäuschung. Seine Regierung hat beschlossen, die Geschehnisse in Syrien als einen humanitären Albtraum zu betrachten – und nicht als einen entscheidenden strategischen Wendepunkt für den Nahen Osten. Die Berater des Präsidenten haben die Wahrscheinlichkeit heruntergespielt, dass sich die Gewalt über die syrischen Landesgrenzen hinaus ausbreiten könnte.

Terroristen rekrutieren in Syrien

Hat man aber das Morden und das Chaos erst einmal als humanitäre Katastrophe definiert, ist es für einen realistischen Präsidenten viel leichter, eine Intervention zu vermeiden. Das Weiße Haus hält die Geschehnisse zwar für schrecklich und bedauernswert, sieht aber kein strategisches Interesse an einem Eingreifen. Bis auf einen Moment, als Obama aufgrund Baschar al Assads Einsatz von Chemiewaffen über einen militärischen Vergeltungsschlag nachdachte, hat der US-Präsident zu keiner Zeit vorgehabt, den syrischen Staatschef zu stürzen oder auch nur irgendetwas zu unternehmen, um das Abschlachten zu beenden.

Die Obama-Regierung hat den Preis des Nichteingreifens wissentlich ignoriert. Das Argument, das Massensterben in Syrien werde keine gravierenden strategischen Folgen haben, war von Anfang an unsinnig. Unabhängig davon, ob Assad stürzt oder nicht, befeuert das syrische Chaos Konflikte und Instabilität im gesamten Nahen Osten. Syrien ist zu einem Ort geworden, an dem Terroristen und Dschihadisten sich neu sammeln; sie rekrutieren, bilden aus und planen künftige Anschläge. Wegen seiner geografischen Lage, der politischen Allianzen und konfessionellen Zersplitterung war Syrien schon immer ein Dreh- und Angelpunkt des Nahen Ostens.

Wir erleben gerade, was es heißt, diesen Schlüsselstaat zu verlieren. Die Aussichten für den Nahen Osten waren lange nicht mehr so düster. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Entspannung der katastrophalen Lage in Syrien. Mit der Aussicht auf einen langen und blutigen Stellungskrieg steigt die Wahrscheinlichkeit, dass auch andere Länder zum Kriegsschauplatz werden. Die radikalen Aufständischen, die auf Syriens Schlachtfeldern aufwachsen – ob sunnitische Extremisten aus dem Al-Qaida-Lager oder schiitische Kämpfer der Hisbollah – werden sich weiter in der Region ausbreiten und religiösen Hass entfesseln.

Von allen denkbaren Entwicklungen ist eine am wahrscheinlichsten: Der iranisch-saudische Stellvertreterkrieg wird sich ausweiten. Es war immer klar, dass Iran seine Freunde in Damaskus unterstützen würde. Wenn sich die religiösen Spannungen nun verstärken, wird Teheran versuchen, seine Interessen auch in Irak und Bahrain durchzusetzen – beides Länder mit schiitischer Mehrheit – sowie in Kuwait, Libanon und Jemen, wo größere schiitische Minderheiten leben. Riad wird Teheran dies zurückzahlen.

Im besten Fall können die USA begrenzt beeinflussen, was auf syrischem Boden geschieht. Sie werden aber sicherlich alles unternehmen, um einen dritten Kriegseinsatz im 21. Jahrhundert zu verhindern. Indem sie aber nicht einmal das geringste Interesse zeigen, etwas zu unternehmen, wird Washington nur eines erreichen: Riad und Teheran ermutigen, das Machtvakuum zu füllen.

2000 Rekruten stammen aus Westeuropa

Die bedrohlichste Aussicht ist, dass sich der religiöse Konflikt zwischen den beiden regionalen Großmächten zu einem neuen nuklearen Rüstungswettlauf entwickelt. Im Vorfeld der Atomverhandlungen mit dem Iran in Genf warnten die Saudis bereits, sie müssten ihre eigene Form nuklearer Abschreckung schaffen. Was heißen könnte, dass sie die entsprechende Technologie von Pakistan kaufen. Das mag auf den ersten Blick weit hergeholt klingen. Doch es gibt wenige religiöse und politische Fehden, die so tief reichen wie die Spaltung, die Teheran und Riad entzweit.

Auch werden sich Unruhen, Kämpfe und Leid nicht auf den Nahen Osten beschränken. US-Geheimdiensten zufolge sind mehr als 7000 ausländische Kämpfer aus nicht weniger als 50 Ländern nach Syrien gereist, um sich dem Kampf anzuschließen. Von diesen Kämpfern stammen mehr als 2000 Rekruten aus Westeuropa – Tendenz steigend. Tatsächlich ist die Zahl der Ausländer, die sich den Kämpfen angeschlossen haben, weitaus größer als in Afghanistan und Irak, auch weil es viel einfacher ist, die syrische Front zu erreichen. Die meisten fliegen in die Türkei und reisen dann auf dem Landweg in den Krieg. Extremistische, mit Al Qaida vernetzte Gruppen nehmen einen Großteil dieser neuen Fußsoldaten auf.

Was aber geschieht, wenn diese abgehärteten Kämpfer und religiösen Fundamentalisten wieder heimkehren? Nach Angaben britischer Behörden sind bereits mehr als 50 solcher Kämpfer nach Großbritannien zurückgekehrt. Der Leiter von Scotland Yard glaubt, es sei „fast unvermeidbar“, dass einer dieser aus Syrien zurückgekehrten Kriegsveteranen einen Terroranschlag verüben wird.

Im Irak haben die Regierungstruppen derweil Falludscha eingekesselt, sie bereiten einen möglichen Einmarsch in die Stadt vor. Vor etwas mehr als neun Jahren haben amerikanische Soldaten in einer der blutigsten Schlachten seit Vietnam darum gekämpft, die selbe, von den gleichen Aufständischen gehaltene Stadt zu erobern. Diesmal werden irakische Soldaten gegen die neueste Inkarnation von Al Qaida antreten, ein Kampf, bei dem sich Schiiten und Sunniten gegenüberstehen.

Die USA werden nicht ganz abwesend sein. Das Pentagon hat angekündigt, 500 Luft-Boden-Abwehrraketen an den Irak zu verkaufen. Irak war das große Experiment der Amerikaner: Sie wollten die Demokratie in den Nahen Osten exportieren. Heute ist der Irak ihr Kunde.

Seit mehr als einem Jahrhundert ist der Nahe Osten eine Unruheregion. Doch es ist ein Unterschied, ob das Gebiet von Aufständen, Korruption und Verfall geplagt wird – oder ob es einem ausgewachsenen Flächenbrand zum Opfer fällt.
Fast elf Jahre nach ihrem Einmarsch in den Irak sind die USA nicht nur mit dem Versuch gescheitert, die Region zu demokratisieren. Sie haben auch noch dazu beigetragen, sie in Flammen zu setzen. Dann haben sie dem Nahen Osten den Rücken gekehrt.

 

 

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