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Kneipenreport - Renaissance der Eckkneipe

Kolumne Zwischen den Zeilen: Die deutsche Eckkneipe feiert Renaissance. In Berlin wird sie von hippen Menschen wiederentdeckt, was den fragilen Kosmos Kneipe bedroht. Eine Ode an die Kneipe. Eckkneipe

Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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„Nee, lass gut sein. Die schläft jetzt.“ Brummte Uwe in Richtung eines Mannes und hielt hütend seine Hand vor die Frau, die sich zwei Hocker weiter liebreizend in den Tresen biss. „Mariacron-Gedenkschlaf, wah“, scherzte der untersetzte Mann, der Eindringling, der sich – wie einst Günter Netzer im EM-Viertelfinalspiel 1972 gegen England dem gegnerischen Tor – aus der Tiefe des Raumes der Schlafenden zu nähern versuchte. Doch Uwe grätschte dazwischen. Gefahr gebannt. Zurück und hinein in die gewohnte Thekenstellung. Ja keine Bewegung zu viel. Griff zum Bier. Blick auf zwölf, die rechte Hand auf zwei, die linke auf zehn Uhr. Autopilot.

Tatsächliche Zeit: Irgendwas nach drei Bier, sieben Zigaretten + Dunkelheit.

Uwe war öfters hier. Wie oft traute ich mich nicht zu fragen. Das spielte auch keine Rolle. Er war hier. Uwe gehörte in diese Kneipe wie großbusige Frauen in einen Philip-Roth-Roman. Er schien so etwas wie eine feste Größe zu sein. Auf „Tach Uwe!“ oder „Schüss Uwe!“ kommender oder gehender Gäste reagierte er mit der immer gleichen, aber für alle verständlichen Geste. Ein kurzes Heben der Hand, zwei Finger leicht ausgestreckt. Das genügte. Alles andere hätte irgendwie dramatisch gewirkt. Alles andere wäre der Kulisse nicht gerecht geworden. Uwe war Meister darin, übertriebene Lebendigkeit zu vermeiden. Er zog an seiner Zigarette. Der ausgeatmete Qualm kreiste andächtig um Uwes fleischige Gestalt, als wäre er imstande, eine neue Galaxie zu bilden. „Ohne dich will ich heut’ Nacht nicht sein…“, vermeldete die Hi-Fi-Anlage.

Über die Frau, die da unbekümmert zwischen Barhocker und Tresen wie eine klebrige Mona Lisa hing, hatte bis zu diesem Zeitpunkt niemand ein Wort verloren. Und es sollte auch keines mehr verloren werden. Die Frau war stiller Teil des Ganzen, beiläufiger Wiedererkennungswert, unaufgeregte Beilage. Tresenfleisch. Sie war die Basslinie einer anspruchsvollen Rocknummer: Nur erkennbar, sofern man sich wirklich darauf konzentrierte. Doch ohne sie wäre das Stück ein dünnes Brett.

Renaissance der Hinterhofoase
 

Die Eckkneipe. Kaschemme, Spelunke, Hinterhofoase ausgereizt derber Wohnlichkeit. Keine ist wie die andere und doch sind alle gleich. Ein Ort, an dem kleine Gardinen herrlich gelb im Fenster hängen. Ein letzter Raum für Fips-Asmussen-Humor. Spielomaten heulen auf, werden gefüttert und verstummen wieder. Die Kneipen heißen: Susis Stuben, Quelle 13, Palenke, Pantry, Zum Michel, Im Sattel, Bei Dana, Kaiserhof, Trinkhalle. Man findet sie nirgends auf der Welt. Sie sind wahrlich Made in Germany.  Deutschland sollte sich international nicht mit Exportüberschüssen, Heidi Klum oder seinem Mittelstand schmücken, sondern mit der landesspezifischen Eckkneipenästhetik hausieren gehen.

„Die Kneipe, für jeden Säufer ein Ort mit Klang im Ton, wie Glockengeläut. Man möchte lieber hier und mit seinen Säufern an Bord untergehen als in den Palästen der Reichen biologisch abgesichert“, notierte der gerade vom Feuilleton wiederentdeckte Peter Wawerzinek in seinem jüngsten Roman „Schluckspecht“.

Die Eckkneipe erlebt in Berlin gerade so etwas wie eine Renaissance. In Neukölln oder Kreuzberg mischt sich etwas, was sich eigentlich nicht mischen sollte. Gut für die Hippen, die endlich mal mit echten Menschen in Kontakt kommen. Schlecht für die leibigen Ureinwohner, die als Kulisse herhalten müssen und durch Lautstärke und Singsang der Ruhelosen weggentrifiziert werden. Über sie spricht niemand. Die Kiezbewohner beschweren sich über die Wohlhabenden, die sie aus den Vierteln drücken und merken gar nicht, dass auch sie verdrängen. Die Inseln werden zugeschüttet, die Eckkneipeninsulaner trocknen aus wie Fische, die an Land zur Welt kommen. Der Wirt, der letzte Schutzbefohlene  für heimatlose Trunkenbolde.

Der Wirt im Zentrum der Ohnmacht
 

Die tragende Säule einer jeden vernünftigen Kneipe ist ein vernünftiger Wirt. Er ist der Fixpunkt, um den sich die verlorenen Seelen nach Belieben verschieben. Wie Mephisto steht er am Hahn, ein Goldkettchen am Handgelenk, Bier um Bier zapfend. Blume und Blume. Die kleinen Gläser versieht er mit einem Tropfschutz. Eine Art Huldigung des Glases, des Gastes, der Ordnung.

Ich kannte mal einen Wirt, der auf so gut wie alles eine Antwort wusste. Er wollte immer, dass man ihm Fragen stellte – am liebsten zu politischen oder historischen Themen – und bot an, die nächste Runde zu bezahlen, wenn meine Begleitung und ich mehr wüssten als er. Was soll ich sagen, wir gingen betrunken und völlig blank nach hause. Ein anderer kannte tolle Zaubertricks. Überhaupt, jeder Kneipenwirt kennt Tricks, knifflige Münz- oder Streichholzspiele. Das scheint so etwas wie das Wesensmerkmal eines guten Kneipiers zu sein. Eine Art Alleinstellungsmerkmal. Ein Wirt ohne Inselwissen – unvorstellbar.  Bei einem anderen Wirt in einer Bar hing immer ein vergilbter Slip im verstaubten Kronleuchter überm Tresen. Ein Relikt aus besseren Tagen. War der Wirt entsprechend zugedröhnt, konnte man sich von ihm die Haare schneiden lassen. Hatten Wirt und Gast ein ähnliches Promillelevel erreicht, bekam man Luftgewehr und einen Schlüssel, ging in den Keller und schoss auf leere Flaschen. Wenn das kein schützenswerter Raum ist!

Warum gibt es eigentlich kein Kneipenfeuilleton? Statt des Kunstmarktes oder anstelle bestimmter Rezensionen über selbstgefällige Theaterinszenierungen selbstgefälliger Theaterrezensenten? Uwe hätte darauf sicher eine Antwort. Uwe aber saß noch immer. Wachte und schwieg. Grüßte und trank. „Machst du mir noch einen?“, rief einer. Ich stand auf und ging. Uwe hob zwei Finger und blieb.

 

 

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