- Große kleine Tiere
Ihr bekanntestes Werk, der Berliner Bär, wird seit 1951 als vergoldete oder versilberte Miniatur an die Berlinale-Preisträger verliehen. Über die bewegte Welt der Renée Sintenis
Im wenigen Tagen wird er wieder geküsst werden, im gleißenden Scheinwerferlicht werden ihn verschwitzte Hände umklammern, und auch Tränen werden seinetwegen fließen. Rollt den roten Teppich aus! Dieser kleine Bär ist eine der begehrtesten Trophäen im internationalen Filmgeschäft.
Geschaffen hat ihn eine außergewöhnliche Frau, eine schöne, große, androgyne Person, die sich in den zwanziger Jahren in den Kreisen der Berliner Boheme bewegte und dabei nicht nur Muse, sondern auch selbst Künstlerin war. Renée Sintenis war ursprünglich kein Großstadtmensch. 1888 im schlesischen Glatz geboren, gab es für das Kind nichts Schöneres, als im Stall herumzukriechen. Dabei habe sie „immer mindestens drei Kaninchen in der Schürze und ein paar junge Hunde im Arm“ gehabt, schrieb sie einmal. Für Pferde hegte die passionierte Reiterin sogar eine „beinahe abgöttische Liebe“. Generell schien sich Sintenis den Tieren mehr verbunden zu fühlen als den Menschen.
Dann kam das Studium der Kunst, bei dem sie merkte, dass sie eine Abneigung gegen Farben hatte, ja gegen die Malerei überhaupt. Auch die Monumentalskulptur war ihr suspekt. Vielmehr fand sie in der Grafik und in Kleinbronzen Medien für ihre beträchtliche Begabung. Tieren kam in ihrem Werk eine Sonderstellung zu. Viele ihrer Arbeiten hatten Titel wie „Witterndes Pferd“, „Schlafendes Fohlen“, „Liegender Hund“ oder „Shetland-Pony im Wind“. Repräsentiert wurde Sintenis von dem großen Galeristen Alfred Flechtheim, einem Motor der modernen Kunst in Deutschland. Sie verkehrte mit Joachim Ringelnatz, Rainer Maria Rilke und Harry Graf Kessler. 1931 nahm sie an einer Gruppenausstellung im Museum of Modern Art in New York teil. Zu ihren Sammlern gehörte Ernest Hemingway.
Die Nazis machten der Berliner Künstlerwelt ein Ende. Die Freunde flohen aus Deutschland, wurden verfolgt oder ermordet. Renée Sintenis verkroch sich in Berlin, wollte ihr Pferd nicht zurücklassen und wartete auf das Ende des Spuks. Da eines ihrer Großelternpaare zwar protestantisch getauft, aber jüdisch geboren war, galt Sintenis als Halbjüdin und wurde aus der Akademie ausgeschlossen. Vor dem schlimmsten Schicksal bewahrte sie wohl ein Bewunderer, der als ranghoher SS-Offizier der Reichskulturkammer vorstand. Ihr Ehemann starb im Jahr 1942. Der Bombenkrieg zerstörte ihre Wohnung und einen Großteil ihrer Werke. Wegen der schlechten medizinischen Versorgung musste sie den Zeigefinger der rechten Hand amputieren lassen. Ihre Karriere wurde unterbrochen. Die Welt der Tiere sei immer eine besonders empfindliche gewesen, erklärte sie später: „Es ist so, als ob sie, die Tiere, es einfach nicht erlauben, ihnen mit einem zerrissenen und zerrupften Gemüt nahe zu kommen.“
Nach dem Krieg erhält sie zwar das Große Bundesverdienstkreuz und wird als Professorin an die Berliner Akademie der Künste berufen, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1965 arbeitet. Doch die vorzeitig gealterte, schlaksige Bildhauerin mit dem amputierten Finger, die für ihre kleinen Tierchen bekannt ist, scheint nicht mehr zeitgemäß in einer Welt, die ihre Rettung in der ungegenständlichen Kunst sucht.
Nach wie vor produziert die altehrwürdige Berliner Gießerei Noack die Bronzen von Renée Sintenis: Rund zehn sind es seit 1951 jedes Jahr zur Berlinale. Seit 1960 benutzt man dasselbe Modell des aufrecht gehenden Bären, den man in größerer Fassung vom ehemaligen Grenzübergang Dreilinden an der Autobahn 115 bei Berlin her kennt, oder auch aus Düsseldorf und München, wo er die Westdeutschen jahrzehntelang an Berlin erinnerte. Der Vierbeiner, der sich auf die Hinterläufe stellt, ist weniger eine Naturstudie als ein Symbol – ein Symbol für Berlin natürlich, aber auch ein Symbol für außerordentliche persönliche und historische Anstrengungen.
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