- West-Östliche Lockerung
Wir sollten mehr spielen und weniger arbeiten, empfiehlt der Philosoph Byung-Chul Han. Er argumentiert mit asiatischem Denken und steht doch ganz in der Tradition des Abendlands. Ein Besuch an der Karlsruher «Hochschule für Gestaltung»
Nach dem Tod Gottes, schrieb Friedrich Nietzsche, hat sich die Gesundheit zu einer Göttin erhoben. Zum Beispiel in Karlsruhe? Hier scheint 1691 Stunden im Jahr die Sonne, wodurch es in einer Schönwetter-Rangliste des Männermagazins «Men’s Health» den fünften Platz unter allen deutschen Städten belegt. Es gibt ein Schloss, einen Park und einen Zoo, doch kaum kulturelle Attraktionen und andere städtische Verführungen. Also bietet sich Freizeitgestaltung unter freiem Himmel an, Sport – kurzum: die vita activa. «Wenn es einen Sinnhorizont gäbe, der über das nackte Leben hinausginge», so sagt der Philosoph Byung-Chul Han, «würde sich die Gesundheit nicht derart verabsolutieren können.» Ist Karlsruhe aber wirklich nur ein Ort des gesunden, aber nackten Lebens? Oder vielleicht doch auch einer für Kunst und Kontemplation? Gerade diese beiden Übungen werden hier immerhin gleich an zwei Bildungs-Einrichtungen befördert, noch dazu durch sehr prominente Lehrer. Direkt nebeneinander befinden sich das «Zentrum für Kunst und Medientechnologie» (ZKM) und die «Hochschule für Gestaltung» (HfG) in einem gesichtslosen, wenn auch innerstädtischen Bezirk – auf den ersten Blick würde man dieser Gegend keine solch außergewöhnliche Ballung von Kreativität und Intelligenz zutrauen.
Beinahe einschüchternd groß ist die Halle eines ehemaligen Industriebaus, in dem die HfG seit ihrer Gründung im Jahr 1992 untergebracht ist. Im üppig bemessenen Innenraum werden hier regelmäßig die Arbeiten der Studenten präsentiert, die in den Fächern Ausstellungsdesign und Szenografie, Kommunikationsdesign, Kunstwissenschaft und Medientheorie, Medienkunst sowie Produktdesign immatrikuliert sind. Über all diesen in die Praxis ausgreifenden Disziplinen herrscht aber ein entschiedener Theoretiker: Peter Sloterdijk ist nun seit zehn Jahren Rektor der Hochschule. Durch seine eigene Fernsehsendung, die erfolgreichen Bücher und regelmäßigen Feuilleton-Auftritte ist er weit über die akademische Welt hinaus berühmt. Wie aber lebt und arbeitet es sich im Schatten des Philosophenkönigs? Wer ist dieser Byung-Chul Han, der seit anderthalb Jahren eine Professur an der HfG innehat? Han lehrt Philosophie und Medientheorie, aber vielleicht sollte man es mit der Zuständigkeitsbeschreibung nicht allzu eng sehen. Das Personal dieser Institution genießt große inhaltliche Freiheit – schließlich, so lautet eine Maxime des Rektors, berufe die Hochschule keine fachwissenschaftlich limitierten Lehrer, sondern Autoren. Gerade als Autor war Han, der das Licht der medialen Öffentlichkeit sonst peinlich meidet und sich weder im Radio noch im Fernsehen interviewen lässt, in letzter Zeit kaum zu übersehen. In zumeist kleineren Verlagen hat er schon eine ganze Reihe von Büchern veröffentlicht. Große Aufmerksamkeit rief aber im letzten Jahr sein Essay «Müdigkeitsgesellschaft» hervor, ein unverhoffter Bestseller und inhaltlicher Vorläufer der demnächst erscheinenden «Topologie der Gewalt»; gerade ist der schmale Essay «Shanzai.
Dekonstruktion auf
Chinesisch» herausgekommen. All diesen Büchern ist gemein, dass sie
auf höchst elegante und klar formulierte Weise von den drängenden
Lebensfragen unserer Gegenwart handeln. Solche Texte bringt die
akademische Philosophie nicht alle Tage hervor.
Byung-Chul Hans Büro erweckt nicht den Eindruck, als wolle er es
sich hier allzu gemütlich machen. Auf dem großen Architektentisch
nur ein Laptop und die Luftpumpe seines Fahrrads, mit dem er sich
zwischen Hochschule und Wohnung bewegt. In der Ecke zwei oder drei
Bücherstapel. Kaum ein hier lehrender Professor lebe auch in
Karlsruhe, sagt Han, auch er selbst hat eine zweite Adresse in
Berlin. Andererseits: Was bedeutet schon der Unterschied zwischen
Karlsruhe und Berlin für einen, der aus der Megacity Seoul nach
Deutschland gekommen ist? Für den Koreaner sah es in Deutschland
und in der Schweiz, wo er auch einige Jahre ge-lebt und gelehrt
hat, erst einmal überall beschaulich aus. Wie aber kam Byung-Chul
Han zur deutschen Sprache und Philosophie? Woher stammt die Energie
zu einer solchen Karriere, die bis zur Habilitation führte, was für
einen Asiaten innerhalb der deutschen Geisteswissenschaft wohl
beispiellos ist? Dem Frage-Antwort-Spiel, das einem jedem
journalistischen Porträt zugrunde liegt, hat Han in unserem Fall
spezielle Hürden eingebaut. Nicht nur, dass er freundlich, aber
bestimmt darum bittet, das Tonbandgerät ausgeschaltet zu lassen und
handschriftlichen Notizen zu vertrauen – auch die schlichte Frage
nach seinem Alter möchte er nicht beantworten. In Asien, so erklärt
er halb kokett, halb entschuldigend, spiele das Geburtsdatum eine
weitaus kleinere Rolle als im Westen. Eine Kultur, die die Welt aus
ihrem zyklisch sich wiederholenden Prozess heraus begreift, begegne
weder der Geburt noch dem Tod so pathetisch wie das abendländische
Denken. Keine Ursprungserzählungen wie im Westen, keine Mythen,
die die Identität einer Gesellschaft begründeten. Und schon ist Han
mitten in seiner Theorie der «Entschöpfung», die er auch in seinem
jüngsten Es-say «Shanzai» ausführt. Der chinesische Neologismus
Shanzai lässt sich am ehesten mit fake übersetzen und bezeichnet an
der Oberfläche ganz handgreifliche Dinge der Warenwelt. Zum
Beispiel Mobiltelefone made in China, die ihren Vorbildern mehr
oder weniger ähnlich sehen und auf mehr oder weniger ähnliche Namen
wie «Nokir» oder «Samsing» hören. Produkte, die sich sukzessive vom
Original wegentwickeln, so dass aus dem etablierten Label «Adidas»
erst Adidos, Adadas, Adadis, Adis und schließlich Dasida wird.
Der Begriff Fälschung trifft diese aus westlicher Perspektive
dreist wirkenden Aneignungen des Originals nur halb. Schließlich,
so stellt Han fest, bestimmt nicht ein einmaliger Schöpfungsakt die
chinesische Idee des Originals. Von einer endgültigen Identität
könne keine Rede sein, weil alles der ständigen Wandlung
unterliege. Durch die Shanzai-Brille gesehen erscheint die Instanz
des Unikats als ebenso unsinnig wie die Kategorie der Fälschung.
Als zum Beispiel bekannt wurde, dass die chinesischen
Terrakotta-Krieger, die das Hamburger Museum für Völkerkunde im
Jahr 2007 präsentierte, nichts anderes waren als Repliken, die in
China parallel zur Ausgrabung der alten Figuren noch vor Ort
gefertigt wurden, fühlte sich das deutsche Museum betrogen und
schloss empört die Ausstellung. Dabei hatten die Chinesen überhaupt
keinen Begriff davon, hier in trügerischer Absicht gehandelt oder
etwas Verbotenes getan zu haben; die Nachbildungspraxis schloss in
ihren Augen ganz kontinuierlich an den uralten Produktionsprozess
der Figuren an, die – ob alten oder neueren Herstellungsdatums –
doch stets dieselbe Funktion erfüllten.
Oder der
Ise-Schrein, das höchste Heiligtum des shintoistischen Japan:
Jährlich pilgern Millionen Gläubige hierher, allesamt in dem
Glauben, der Sakralbau sei 1300 Jahre alt. Tatsächlich wird diese
Tempelanlage aber alle 20 Jahre komplett ausgewechselt. Dabei wird
nicht nur das Gebäude abgetragen und völlig neu erbaut; auch die
Tempelschätze werden beseitigt und ersetzt: die brennbaren Teile
verbrannt, Metallteile vergraben. Die Differenz zwischen Original
und Kopie, so Han, spiele dabei überhaupt keine Rolle. Man könne
schließlich auch sagen, dass die Kopie dem Original näher sei als
das Original selbst, «denn je älter ein Gebäude wird, desto mehr
entfernt es sich ja vom ursprünglichen Zustand. Eine Kopie würde es
gleichsam wieder in den ‹Originalzustand› versetzen, zumal es nicht
an ein Künstlersubjekt gebunden ist.» Die UNESCO jedenfalls zeigte
sich einer solchen Argumentation gegenüber nicht aufgeschlossen und
strich den Ise-Schrein von der Liste des Weltkulturerbes. Und das,
obwohl gerade die Zeremonie der Vernichtung und Erneuerung den
Kultwert der Pilgerstätte wesentlich ausmacht. Der Westen, so lässt
sich folgern, pflegt ein museales Gedenken der toten Ursprünge, der
Osten steht mitten in einer lebendigen und zyklisch sich
wiederholenden Tradition.
Auf welcher dieser beiden Seiten steht aber Byung-Chul Han, der
auch schon ein Buch über die Philosophie des Zen-Buddhismus
geschrieben hat und daher als Sonderbeauftragter für fernöstliche
Denkübungen im europäischen Kontext gelten könnte? «Unsinn», winkt
er ab. «Ich interessiere mich eigentlich gar nicht für asiatisches
Denken. Ich interessiere mich für Denkmodelle, die an keine
kulturelle Umgebung gebunden sind.» Und China? «China ist nur ein
Alibi», sagt Han, «ein anderes Denk- und Daseinsmodell.» Für einen
ordentlichen Sinologen sind die Arbeiten dieses Philosophen daher
auch gar nicht interessant, dazu arbeitet Han in philologischer und
historischer Hinsicht viel zu ungenau. Und genauso will er das
auch: Die östliche Philosophie ist für ihn vor allem ein Werkzeug,
mit dem er die allzu fest verschraubten Verhältnisse des westlichen
Denkens lockert oder gleich in ihre Bestandteile zerlegt.
Das Kunstwort Shanzai bezeichnet nichts anderes als eine
Dekonstruktions-Methode. «Shanzai», sagt Han, «ist Ent-Schöpfung»,
und das bedeutet: Vor den zum Fetisch erhobenen Anfängen des
Abendlands, vor dem Mythos, der Geburt und dem philosophischen
Axiom, gibt es immer schon etwas anderes – Schöpfung heißt, es gibt
einen Pool, aus dem geschöpft wird. Haben wir die verhärteten
Begriffe von Originalität und Genie und einer creatio ex nihilo
einmal hinter uns gelassen, so hofft der Philosoph, könnte ein viel
flexibleres Denken möglich sein. Die Philosophie würde sich dann in
einem produktiven Spiel entspannen, das völlig neue Ergebnisse
erwarten ließe. «Wir alle sollten», so fordert er, «mehr spielen
und weniger arbeiten. Dann werden wir auch mehr hervorbringen!»
Oder komme es etwa von ungefähr, dass ausgerechnet die Chinesen,
denen sowohl das Genie als auch das Original fremd seien, von Pasta
bis Pyrotechnik beinahe für alle Erfindungen verantwortlich seien,
die auch unsere westliche Kultur geprägt haben?
Byung-Chul Han hat
mittlerweile nicht weniger als vierzehn sehr unterschiedliche
Bücher geschrieben, daher ist es nicht leicht, sie auf einen
einzigen Begriff zu bringen. Monografien über Heidegger und Hegel
sind darunter und solche über Globalisierung, Tod, Macht und die
abendländische Passionsgeschichte. «Duft der Zeit. Ein
philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens» heißt eine
Veröffentlichung aus dem vorletzten Jahr – aber wehe dem
Buchhändler, der auf die Idee käme, das Buch seines parfümiert
wirkenden Titels wegen unter den Geschenkbüchern einzusortieren!
Schon hier formulierte Han auf brillante Weise eine Kritik der
Ruhelosigkeit des Menschen als animal laborans. Wie der
ununterbrochene Druck des aktiven Lebens zu unserem Verhängnis
werden kann, setzte Han dann später in dem Essay
«Müdigkeitsgesellschaft» auseinander. Die Erkenntnis, dass die
unter dem Zwang der Effizienzsteigerung soufflierte
Durchhalteparole des positiven Denkens krank macht, ist ja
mittlerweile längst bis in die Niederungen der Ratgeber-Literatur
vorgedrungen. Han fundiert sie pathogenetisch. Eine Kultur, die
sich den Satz «Yes, we can» als selbstbewusste Parole des ewigen
Können-Könnens auf die Fahnen geschrieben habe, leide nicht umsonst
unter Erkrankungen wie Depression, Borderline- oder
Burnout-Syndrom. Verursacher dieser von innen herrührenden
Erschöpfungsproblematik ist die als Positivität empfundene
Dauer-Potenz einer unausgesetzten Leistungsbereitschaft. Die Geißel
unserer Gegenwart heißt Freiwilligkeit. Schließlich ist es keine
äußere, repressive Macht mehr, die noch im vergangenen Jahrhundert
zur Deformation der Gesellschaft führte. «Die
Disziplinargesellschaft», schreibt Han, «ist noch vom Nein
beherrscht. Ihre Negativität erzeugt Verrückte und Verbrecher. Die
Leistungsgesellschaft bringt dagegen Depressive und Versager
hervor.» Kurzum: Das Problem ist heute nicht der Andere, sondern
das Ich (das ständig und emphatisch «Ja!» sagt).
Gefahr droht nicht von Außen, kein Fremder, kein Immigrant
überschreitet die Grenzen des auf grenzenlose Selbstausdehnung
getrimmten Individuums. Byung-Chul Han plädiert also dafür, das
immunologische Paradigma (verderbliche Ansteckung durch ein
feindliches Virus) durch ein neuronales (psychische Implosion des
Innern) zu ersetzen. Die Hegel’sche Herr-Knecht-Dialektik sei eben
noch nicht zu Ende gedacht: Wenn die erfolgreiche Befreiung des
Knechts vom Herrn heute darin bestehe, dass auch die Herren wie
Knechte – dass also alle wie Knechte – arbeiteten, dann bleibe doch
eine vielversprechende Perspektive unerfüllt: Alle, also Herren und
Knechte, geben sich der Muße hin! Solange aber ein jeder, und noch
der bestbezahlte Manager, in Ermangelung einer äußeren
Gratifikations-Instanz, vor allem mit sich selbst konkurriert, ist
dies aber nur eine schöne Utopie.
Ach so! Wie Byung Chul-Han zur deutschen Philosophie und Sprache
kam? Wie er in Europa zum Philosophen wurde? Wen soll das schon
interessieren, fragt er zurück. Womöglich, weil es in Deutschland
damals keine Studiengebühren zu entrichten galt, vielleicht auch,
weil das Lesepensum in der Philosophie geringer war als in der
Literaturwissenschaft, die ihn
eigentlich interessierte? Das Koreanische jedenfalls verwendet Han
nur noch als Muttersprache, das heißt als Sprache, in der er mit
seiner Mutter spricht, wenn er in Seoul zu Besuch ist. Dass er zum
Deutschen ein nahezu erotisches Verhältnis hat und darin heute zu
Hause ist wie kaum ein zweiter Philosoph, davon kann sich jeder
Leser seiner Bücher überzeugen. Warum er so gut denken kann? Wer
weiß das schon – sein erstes Studium galt, noch in Korea und vor
nunmehr über dreißig Jahren, der Metallurgie. Es ging dabei vor
allem um die Biegsamkeit von Materialien.
Byung-Chul Han
Shanzai. Dekonstruktion auf Chinesisch
Merve, Berlin 2011.
88 S., 11 €
Byung-Chul Han
Topologie der Gewalt
Matthes & Seitz, Berlin 2011.
192 S., 19,90 €. Erscheint demnächst
Byung-Chul Han
Müdigkeitsgesellschaft
Matthes & Seitz, Berlin 2010.
70 S., 10 €
Byung-Chul Han
Duft der Zeit.
Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens
Transcript, Bielefeld 2009.
112 S., 15,80 €
Byung-Chul Han
Gute Unterhaltung.
Eine Dekonstruktion der abendländischen
Passionsgeschichte
Vorwerk 8, Berlin 2007.
128 S., 12 €
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