- Der zweite "Lolita"-Skandal
Hat er nun oder hat er nicht? Er hat: Vladimir Nabokov als genialer Verwerter zweitklassiger literarischer Vorlagen eines vergessenen Berliner Autors
In Nabokovs spätem Roman «Pale Fire» (Fahles Feuer) hat der Dichter John Shade ein Nahtod-Erlebnis. Inmitten der Schwärze seines zusammenbrechenden Bewusstseins erhebt sich in der Ferne plötzlich eine hohe weiße Fontäne, die ihn in seiner Hoffnung auf ein Jenseits bestärkt. Als er in einer Illustrierten von einer Frau liest, die bei einer Herzoperation ebenfalls für kurze Zeit ins Totenreich geschlendert und dabei gleichfalls einer mystischen Fontäne ansichtig geworden sei, beschließt er, diese zweite Zeugin aufzusuchen. Sein Argument, vier Zeilen aus seinem Langgedicht, leuchtet ein: «Wenn Smith ein unbekanntes Tier erlegt / Auf ferner Insel und nach Hause trägt, / und Schmidt bringt dann ein gleiches Fell daher, / dann ist die Insel nicht mehr legendär.»
Im Falle John Shades stellt sich heraus, dass seine Metaphysik auf einem Druckfehler beruht: Die Leidensgenossin hatte nicht a fountain erblickt, sondern a mountain. Shade ist zerschmettert und weiß wieder nicht, ob er auf ein Jenseits hoffen darf. Das Argument von der Doppelzeugenschaft aber bleibt bestehen. Es lässt sich auch auf den Fall übertragen, der als «Zweiter Lolita-Skandal» im Frühjahr 2004 durch die Weltpresse ging und die «New York Times» dazu bewog, die Frage nach Nabokovs Moral oder Unmoral neu zu stellen. Was war passiert?
Ein kultivierter Mann erzählt die Geschichte eines coup de foudre. Sie beginnt damit, dass er ins Ausland reist, wo er sich in einer Pension einmietet. Als sein Blick die Tochter des Hauses trifft, ist es um ihn geschehen. Sie ist ein blutjunges Mädchen, dessen Reizen er augenblicklich verfällt. Ungeachtet ihres zarten Alters hat er eine intime Beziehung mit ihr. Am Ende stirbt sie, und der Erzähler bleibt, für immer von ihr gezeichnet, allein zurück. Der Name des Mädchens gibt der Geschichte zugleich den Titel: Lolita.
Ihr Verfasser hieß allerdings nicht Vladimir Nabokov, sondern Heinz von Lichberg. «Lolita» ist die neunte der fünfzehn Erzählungen, die der 1890 als Heinz von Eschwege geborene Journalist, der später für den «Völkischen Beobachter» arbeitete, mitten im Ersten Weltkrieg unter dem Titel «Die verfluchte Gioconda» im Darmstädter Falken-Verlag veröffentlichte. Vierzig Jahre also vor ihrem berühmten Namenszwilling hatte es bereits eine Lolita gegeben, von einem Autor verfasst, der in Berlin lebte und sich also fünfzehn Jahre lang mit Nabokov den Wohnort geteilt hatte. Was lag hier vor – ein bizarrer Zufall oder mehr?
Die Gemeinde der Nabokovianer, angeführt von Nabokovs Sohn Dmitri, beeilte sich, den Zufall haftbar zu machen. Sein Vater habe kaum Deutsch gesprochen und sei also gar nicht in der Lage gewesen, das mindere Werk des zu Recht vergessenen Autors zur Kenntnis zu nehmen. Aber die Übereinstimmungen, außer den schlagenden ein Dutzend feinere, was war mit ihnen? Patatí-Patatá – alles kein Grund, von Übernahmen oder gar, wie in der Trivialpresse, von Plagiat zu faseln. Und Gefasel wäre es in der Tat gewesen, ein Hauptwerk der modernen Romankunst als Plagiat einer schmalen zweitklassigen Erzählung zu verdächtigen. Was indessen die Neugier immer noch ungestillt ließ und die Frage nicht beantwortete: Hat der Meister die Ur-«Lolita» nun gekannt oder nicht? Oder gekannt und dann wieder vergessen? Oder wurde sie ihm erzählt, und Bröckchen davon blieben unbemerkt hängen?
Zwei Figuren mit auffallenden Ähnlichkeiten
Ein leichtes Gefühl der Unwirklichkeit und des Déjà-vu stellt sich jedenfalls ein, wenn man die Szenen vergleicht, in denen die Nymphchen ihre ersten Auftritte haben. Humbert Humbert verreist, um an einem ruhigen Ort in der Nähe eines Sees – dürftiger Ersatz für ein mythisches Meer – ungestört arbeiten zu können. In dem Städtchen Ramsdale landet er bei der Zimmervermieterin Charlotte Haze, die er ebenso unattraktiv findet wie ihr Haus. Innerlich schon zur Abreise entschlossen, folgt er ihr durch die Wohnung.
«Ich ging noch immer hinter Mrs. Haze her durch das Eßzimmer, als es plötzlich grün um uns her wurde. ‹Die Piazza›, sang meine Geleiterin, und ohne die geringste Warnung schwoll eine blaue Meereswelle unter meinem Herzen, und auf einer Binsenmatte in einem Sonnenteich kniete halbnackt meine Riviera-Liebe, drehte sich auf den Knien zu mir her und sah mich über dunkle Brillengläser forschend an. Es war das gleiche Kind – die gleichen zerbrechlichen, honigfarbenen Schultern, der gleiche seidige, geschmeidige nackte Rücken, der gleiche kastanienbraune Haarschopf.»
Dieser eine Blick genügt, und Humbert Humbert bleibt. Auch bei Heinz von Lichbergs Ich-Erzähler genügt ein Blick (man achte auch auf den Meereshintergrund und das «rotgoldige» Haar): «Der freundliche, gesprächige Wirt wies mir ein Zimmer mit wundervoller Aussicht auf das Meer zu, und es stand mir nichts im Wege, eine Woche ungestörter Schönheit zu genießen.
Bis ich am zweiten Tage Lolita sah, Severos Tochter.
Sie war blutjung nach unseren nordischen Begriffen und hatte zu ihren umschatteten, südlichen Augen eine seltene, rotgoldige Haarfarbe. Ihr Körper war knabenhaft schlank und geschmeidig und ihre Stimme voll und dunkel.
Aber nicht ihre Schönheit allein fesselte mich – es ging ein seltsames Rätsel von ihr aus, das mich in den Mondnächten oft fragend überkam.»
Wie Humbert ist Lichbergs Erzähler sofort gebannt und verwirft jeden Gedanken an Abreise; die dämonischen Geschichten nehmen ihren Lauf. Unter den vielen parallelen Windungen, die sie zeigen, fällt besonders eine ins Auge. In Lichbergs Erzählung «Lolita» spielt ein Bruderpaar namens Walzer eine wichtige Rolle. In Nabokovs wenig bekanntem Drama «Walzers Erfindung», in dem auch Lolita einen ihrer vielen Probeauftritte unter anderem Namen hat, geht die Hauptrolle an ein Männerpaar Walzer – nicht Brüder, aber Onkel und Vetter.
Womit wir fast schon wieder bei John Shade wären, dem als Beweis fürs Wunder zwei weiße Fontänen genügen. In seinem Geiste darf man fragen: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Autoren unabhängig voneinander einen Mann mit Namensdoppelgänger auf den ungewöhnlichen Familiennamen «Walzer» taufen? Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie abermals unabhängig voneinander eine Kindfrau namens Lolita schaffen und diese einen Pensionsgast verführen lassen? Wie groß schließlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie … – aber jetzt sind wir endgültig wieder bei «Pale Fire» und der Insel, die kein Mythos mehr ist, wenn auch Herr Schmidt ein Fell von ihr nach Hause trägt. Das zweite Fell versteckt sich in diesem Fall in der «Verfluchten Gioconda». Blättert man dort etwas weiter, stößt man bald nach «Lolita» auf «Atomit», die vorletzte Erzählung des Bandes. In ihr liegt nichts anderes begraben als der Plot von Nabokovs Drama – «Walzers Erfindung».
Ein Fall von doppelter «Atomystik»
Heinz von Lichbergs «Atomit» erzählt auf knapp zehn Seiten die folgende Geschichte: Ein Erfinder namens Bobby kommt ins Kriegsdepartement der Vereinigten Staaten, wird in ein Vorzimmer geführt und nach längerer Wartezeit mit seinen zwei Paketen zu dem Präsidenten Mr. Wilkins hereingebeten. Auf dessen Frage, was er könne, antwortet Bobby: «Ich kann jeden Krieg in einem einzigen Tag beenden!» Mr. Wilkins hält den Erfinder für einen Verrückten: «Entweder Sie sind Groteskkomiker oder krank, Mann!» Daraufhin demonstriert ihm der Erfinder, dass er nicht blufft. Auf die Anstalten des Präsidenten, die mitgebrachte Kassette zu öffnen, sagt er: «Wenn Sie noch etwas weitermachen, sind wir beide in einer Sekunde tot und das ganze Departement in vielleicht dreißig.» In seinem Kasten nämlich befinde sich ein Gramm Atomit. «Dieses Gramm genügt vollkommen, um etwa hunderttausend Menschen in ungefähr einer Minute zu töten, wenn sie dicht genug beisammen stehen!»
Der offenbar doch nicht verrückte Bobby schickt sich an, die Kraft seiner Höllenmaschine zu beweisen. Die Demonstration, der eine Maus zum Opfer fällt, überzeugt Mr. Wilkins. Er bittet einen Colonel und seinen Diener Pebbs zu sich. Eine Vorführung der neuen Waffe an größeren Lebewesen wird für den nächsten Tag vereinbart. Der Erfinder sieht sich schon als künftigen Multimillionär. Der Test am nächsten Morgen gelingt; durch Fernzündung wird ein Viertelgramm Atomit in die Atmosphäre entlassen, «und ehe man noch die schwache Explosion hören konnte, lagen die Tiere an ihren Pfählen und rührten sich nicht mehr.» Doch ein weiterer Versuch, bei dem eine größere Menge freigesetzt wird, gerät zum Desaster. Durch die Unbedarftheit der zu spät kommenden Damen, die versehentlich die Waffe auslösen und statt der Versuchstiere die versammelten Männer töten, wird dafür gesorgt, dass die Kriege auch in Zukunft «etwas länger dauern als einen Tag».
Dies die misogyne und ziemlich alberne Groteske «Atomit», in der sich wie bei Lichbergs «Lolita» erste Konturen eines Nabokov-Werks abzuzeichnen scheinen. Denn womit beginnt das Drama «Walzers Erfindung», auf dessen prophetische «Atomystik» Nabokov in seinem späteren Vorwort nicht ohne Stolz verweist?
Ein Mann taucht im Kriegsministerium auf und preist seine Erfindung an: einen Apparat, der es möglich mache, auf jede Entfernung eine Explosion von ungeahnter Stärke auszulösen. Tatsächlich fällt dieser neuartigen Waffe, als sie im dritten Akt eingesetzt wird, eine ganze Stadt zum Opfer – «Sechshunderttausend! In einem Augenblick!» Zuerst glaubt der Minister dem Erfinder freilich kein Wort, sondern hält ihn für «schlicht und einfach geisteskrank» und einen «Komiker!». So lange, bis Walzer einen ersten Beweis liefert und durch Fernwirkung einen Berg explodieren lässt. Nach dieser Vorführung wächst das Interesse am Erwerb der Wunderwaffe sprunghaft an. Der Minister, auch er in Begleitung eines Colonel und eines Dieners (nicht Pebbs, sondern «Humps»), erkennt die Chancen, die im Besitz einer solchen Fernwaffe liegen. Er ruft seine elf Generäle zusammen, deren Namen sich in der Urfassung alle von «Berg» ableiten. Wie in «Atomit» werden weitere Experimente mit dem Erfinder vereinbart, sie erweisen sich als ebenso durchschlagend. Damit sind die letzten Zweifel beseitigt; die Millionen, die sich der Erfinder in «Atomit» zu früh erhofft, werden Herrn Walzer offeriert.
Das Eigene und das Fremde
Dieser jedoch lehnt ab, und die Wege von Erzählung und Drama trennen sich. Nabokovs Fortsetzung führt zu Walzers Aufstieg und Fall, zu seiner Scheinherrschaft über die Welt und seiner Entlarvung ganz am Schluss. Walzer saß in Wahrheit drei Akte lang wartend im Vorzimmer des Ministers – schon Bobby wartete fast zwei Stunden darin – und erträumte sich die Handlung nur. Überhaupt entwickelt Nabokov etwas ganz Eigenes aus dem Lichberg-Szenario – sein Stück ist ein vielschichtiges Kunstwerk und sein Erfinder Salvator Walzer keine Karikatur, sondern ein Charakter. Aber das ist es eben: Er heißt Walzer, und Nabokov gibt ihm sogar ein Namensdouble, als wolle er ihm das Herkunftssiegel nicht nur nicht abreißen, sondern schön sichtbar um den Hals hängen. Sonderbar, das Ganze …
Womit haben wir es hier zu tun? Wenn keine versteckten Druckfehler im Spiel sind, scheint der Fall klar: Nabokov hat in seiner Berliner Zeit einmal in einem deutschen Buch geschmökert.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.