- Auf der Suche nach dem Phantom
Gaito Gasdanows schon 1947 erschienener Roman erzählt vom Bürgerkrieg, von Boxern und Bordellen im Paris der 30er Jahre
Ein Mann gesteht einen Mord und erfährt Jahre später: Es gibt keine Leiche. Eines Tages begegnen Täter und Totgeglaubter einander dann in einem Pariser Restaurant. Dieser Stoff riecht nach einem Thriller, der Titel erst recht: „Das Phantom des Alexander Wolf“. Unheimlich ist hier aber vor allem das Talent des Schriftstellers Gaito Gasdanow, in die menschliche Seele zu schauen.
Der Protagonist und Erzähler seines Romans ist ein Journalist. Als 16-jähriger Weißgardist schießt er in der südrussischen Steppe aus Notwehr auf einen feindlichen Reiter. Was der Junge nicht ahnt: Der Verwundete überlebt und verarbeitet die Episode aus dem Bürgerkrieg in einer Erzählung. Später stößt der Journalist auf das Werk, erkennt im Helden sein einstiges Opfer und beginnt die Suche nach dem „Phantom“.
Wer aber ist der hierzulande bislang unbekannte Gasdanow? Ein Grenzgänger: Geboren 1903 in St. Petersburg, gestorben 1971 in München, begraben in Paris. 24 Jahre lang war der russische Emigrant in der französischen Hauptstadt Taxifahrer. Nachts fuhr er, tagsüber schrieb er – mehr als 50 Erzählungen und neun Romane. „Das Phantom des Alexander Wolf“ erschien bereits 1947 in einer New Yorker Zeitschrift. Und jetzt kann man sagen: Die Wiederentdeckung Gasdanows in Rosemarie Tietzes brillanter Übersetzung ist eine Sternstunde der Literaturgeschichte. In dieser Prosa verbindet sich russische Metaphysik mit französischem Existenzialismus. Das Ergebnis ist ein moderner Roman über den Tod und die schicksalhafte Verbindung einzelner Menschen. Die Geschichte spielt 1936 in Paris. Doch der Erzähler führt uns auch auf die Schlachtfelder des russischen Bürgerkriegs, in französische Bordelle und zu einem Boxkampf, bei dem der Journalist auf Jelena, die Frau seines Lebens, trifft.
Einmal heißt es: „Wenn jeder Wassertropfen unterm Mikroskop eine ganze Welt ist, so enthält jedes Menschenleben in seiner endlichen und zufälligen Hülle ein riesiges Universum.“ Dieser Seelenraum ist Gasdanows eigentlicher Schauplatz. Und so wirft die Suche nach seinem Phantom den Protagonisten auf sich selbst zurück. Aber auch Schüsse fallen, selbst ein Gangster alter Schule erhält einen – allerdings nicht ganz glaubwürdigen – Gastauftritt. Immer geht es Gasdanow bei alledem um Grenzerfahrungen. Er erzählt von Krieg und Unfrieden mit sich selbst. Von Schuld und unmöglicher Sühne. Vor allem aber von existenzieller Verzweiflung. „Das Leben vergeht, hinterlässt keine Spur, Millionen Menschen verschwinden und niemand erinnert sich an sie“, sagt ein russischer Emigrant und Lebemann.
Was bleibt also? Der sinnlich erfahrene Moment, etwa die mit der Geliebten verzehrte Schokoladentorte, die auf der Zunge „knackte und schmolz“. Oder die Erinnerung an eine gemeinsame Nacht im Auto: Auf das Dach prasseln Regentropfen, und Jelena legt ihren Kopf auf das Knie des Geliebten. Gegen das Vergessen wehrt sich der Erzähler mit der Macht der Worte – und sichert so seinem Schöpfer Gasdanow die Unsterblichkeit.
Gaito Gasdanow
Das Phantom des Alexander Wolf
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
Hanser, München 2012
192 S., 17,90 €
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