Bücher des Monats - "Tretet herein, denn auch hier sind Götter!"

Wie Karl Philipp Moritz in seiner – jetzt zum ersten Mal seit 200 Jahren wieder zugänglichen – Studie über den römischen Festkalender die Antike verjüngte

Für seine Pyrrhussiege im 19. Jahrhundert hat der Klassizismus in Deutschland schwer büßen müssen. Ganze Bibliotheken könnte man mit den Romanen, Dramen, Satiren und Pamphleten füllen, in denen pedantische Philologen antike Texte zu Tode traktie­ren, Rohrstock schwingende Gymnasiallehrer künftigen Untertanen die Versmaße einbläuen, Bildungsphilister vor Gips-Repliken griechisch-römischer Statuen posieren. Und wo das Verdikt nicht auf Borniert­heit lautet und den Klassizismus als Geschmacksdiktatur des Epigonentums anprangert, dort meldet sich zumindest der Verdacht auf Eskapismus.

War nicht der Klassizismus in Deutsch­land, anders als im revolutionären Frankreich, das luftige Traumkissen, von dem die Geistesgrößen leicht angewidert auf die Sphäre der Politik hinabblickten? War nicht von Beginn an, schon im 18. Jahrhundert, die Schwärmerei vom Süden, ob nun die Seele das Land der Griechen suchte oder ein deutscher Dichter leibhaftig nach Rom aufbrach, stets vor allem dies: eine Flucht vor der deutschen Misere?

Als Karl Philipp Moritz im September 1756 geboren wurde, hatte wenige Wochen zuvor der Siebenjährige Krieg begonnen. Der Vater, ein Militärmusiker, verschwand darin und kehrte erst nach Jahren zurück. Die enge Welt, in der Moritz aufwuchs, das harte Regiment, das die Religion in Gestalt des quietistischen Sektenwesens  darin führte, hat er in seinem «Anton Reiser» (1785) beschrieben. Moritz nannte das Buch einen «psychologischen Roman», und das war er auch: eine Fallstudie über die «Leiden der Einbildungskraft», über Schwärmerei und Empfindsamkeit, Lesesucht und Thea­terleidenschaft, über Reiselust und Hypochondrie – die Autobiografie einer Kindheit und Jugend, erzählt in der dritten Person. Vor allem mit diesem Buch hat Moritz Berühmtheit erlangt.

Als 1790 der letzte Band des «Anton Reiser» erschien, war sein Autor seit einem Jahr Professor für die Theorie der schönen Künste und Altertumskunde in Berlin. Die Italien-Reise, die er von 1786 bis 1788 unternommen hatte, war ein Wendepunkt seiner Biografie gewesen. Er finanzierte sie durch Ersparnisse und Vorschüsse auf seine Reise­beschreibung. In Rom lernte er Goethe kennen, der ihn in den Kreis seiner Freunde aufnahm; auf der Rückreise machte Moritz in Weimar Station. Dass sein Bewerbungsschreiben bei der Königlich Preußischen Akademie der Bildenden Künste erfolgreich war, verdankte er nicht zuletzt der Vermittlung des Weimarer Herzogs Karl August. Unermüdlich beschwor Moritz fortan in der preußischen Hauptstadt in Vorlesungen, Aufsätzen und Büchern Kunst und Kultur der Antike als Vorbilder für die Gegenwart.


Liebe zur geglückten Kultur

Schon sein «Magazin zur Erfahrungsseelenkunde» (1783–1793), aus dem der «Anton Reiser» herausgewachsen war, hatte Moritz an «Gelehrte und Ungelehrte» adressiert. Dasselbe hätte er unter seine «Götterlehre» (1791) schreiben können, unter den «Mythologischen Almanach für Damen» (1792) und das «Mythologische Wörterbuch zum Gebrauch für Schulen» (1794), dessen Manuskript noch Fragment war, als er im Juni 1793, erst 36 Jahre alt, an seinem Lungenleiden starb.

Der Lebensweg und die Schriften des ehemaligen Hutmacherlehrlings und nachmaligen Professors Karl Philipp Moritz sind kein Paradebeispiel für die Flucht aus der deutschen Misere in den machtgestützten Klassizismus. Sie sind vielmehr ein einzigartiger Kreuzungspunkt zweier großer Ener­gieströme, die in der klassisch-romantischen Literaturepoche der Deutschen miteinander verschmolzen: die Sprache des Mangels, der Einschränkung, und die Sprache des Enthusiasmus, der Entgrenzung.

Der Klassizismus hat nicht nur in der Ästhetik, sondern auch in der Sprachgeschichte der Deutschen Epoche gemacht. Winckelmann suchte in seinen Statuenbeschreibungen nach einer Übersetzung nicht nur für die platonische Idee, sondern zugleich für die Anschauung des Schönen. Goethe und Hölderlin schrieben Gedichte, in denen die deutsche Sprache griechischen Akzent und Rhythmus anzunehmen schien. Der aus Italien zurückgekehrte Karl Philipp Moritz nimmt in der Sprachgeschichte des deutschen Enthusiasmus einen ähnlichen Rang ein wie mit seinem «Anton Reiser» in der Sprachgeschichte des Man­gels. Er hat in seinen mythologischen Schriften, die nahezu ohne Fußnoten auskommen, die Gelehrsamkeit der Antiquare in ein Genre ganz eigener Art umgeschmolzen: die suggestive Paraphrase und Vergegenwärtigung geglückter Kultur. Er selbst sprach von der «Verjüngung» der Antike.

Jetzt endlich wird dieses Projekt in seinem ganzen Umfang wieder sichtbar. Als erster Band der großen kritischen Moritz-Ausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ist ein zuletzt im frühen 19. Jahrhundert, danach nur auszugsweise gedrucktes Buch erschienen: «Anthusa oder Roms Alterthümer. Ein Buch für die Menschheit. Die heiligen Gebräuche der Römer». Die erste Auflage erschien 1791, Gegenstand ist der Festkalender der Römer. Von Januar bis Dezember schreitet Moritz ihn ab, schildert dann die unregelmäßigen Feste, kommentiert die Regeln der Opfer, Gebete und Gelübde, die Funktionen der Priester, Auguren und Haruspices, um schließ­lich mit einem Kapitel über die Wagenrennen am Circus Maximus zu enden, weil hier in den Umläufen der Wetteifernden der Kalender selbst Gestalt gewinnt: «Der ganze Circus war der Sonne geweiht, und war gewissermaßen selbst ein Bild des Immerwiederkehrenden in dem Kreislauf der Dinge.»


Religion ohne Sünden und Wunder

Die wiederkehrende Formel, mit der Moritz die Festkultur der Römer in Kontrast zur modernen Religion setzt, lautet, sie sei nur «eine Weihung des wirklichen Lebens» gewesen: «Natürlicher Weise konnten bei einer Religion der Phantasie keine bestimmten Begriffe von der Gottheit statt finden; es gab daher auch keinen eigentlichen Lehrbegriff der Religion, und man lernte die Götter nur aus der Art der Verehrung der selben kennen.» Die Religion ohne bestimm­te Begriffe, das ist: eine Religion ohne Katechismus und Sündenregister.

In Passagen wie dieser wird deutlich, dass die «Anthusa» bis in die Details hi­nein ein Gegenentwurf zur Physiognomik des beschädigten Lebens im «Anton Reiser» und im «Magazin zur Erfahrungsseelenkunde» ist, wo die «Ertödtung» und «Seelenlähmung» so häufig der als Lebensfeindin auftretenden Religion entspringen. Im Festkalender der Römer findet der moralische Arzt das Gegenstück zur Seelenkrankheitslehre: Tech­niken der Erhöhung des Lebensgenusses, der Milderung der Leiden. Hier gibt es Priester, die bürgerliche Ämter haben, unterirdische Götter, die es gelegentlich zu besänf­tigen gilt, aber keine Höllenstrafen, Überhöhungen der Naturereignisse, aber keine Wunder. Und Venus wird nicht nur durch Maßlosigkeit, sondern auch durch zu große Enthaltsamkeit brüskiert.

Kurz, die Wiederkehr der Feste ist hier kein Ausgleich für die Mängel der Wirklichkeit. Auch da, wo das Fest, wie in den Saturnalien, die Funktion der Entlastung von Herrschaftsverhältnissen wahrnimmt, bleibt es positiv auf den Alltag bezogen. Es ist Zustimmung zu einer Welt, die einer scharfen Antithese und Entgegensetzung nicht bedarf. Während in der modernen Welt Bildung und Zerstörung miteinander rivalisieren, schließen die römischen Feste die Trauer und das Unglück an das «Heitere» an: Viele dienen dem Zusammenschluss der Lebenden mit den Toten.

Der Kalender und die Poesie

Man kann den Text der «Anthusa» für sich lesen. Aber die Herausgeberin, Yvonne Pauly, hat ihn erstmals umfassend kommentiert und mit einem verlässlichen wissenschaftlichen Apparat versehen. Hier findet sich eine reichhaltige Literaturgeschichte des römischen Festkalenders sowie eine detaillierte Studie zu den Exzerpt- und Zitat-Techniken, mit denen Moritz seine modernen und antiken Quellen ausgeschrieben hat. Nur selten sind sie im Text so deutlich markiert wie die Auszüge aus Goethes
«Römischem Karneval», die Moritz in seine Beschreibung der Saturnalien collagiert hat.

Der Kommentar macht überdies sichtbar, wie die drei Schichten in diesem nur scheinbar zeitlos auf der Kreisbahn der Wiederholung voranschreitenden Rom zusammenhängen. Zuoberst liegt das gegenwärtige, katholische Rom der 1780er Jahre, dessen über Ruinen und antiken Tempeln errichtete christliche Kirchen Moritz häufig aus eigener Anschauung andeutet. Die mittlere ist die Schlüsselschicht: das Augusteische Rom, hervorgegangen aus dem Ende Cäsars und der Republik.

Die römische Literatur dieser Epoche bindet den Festkalender an die Sprache der Poesie: Ovids «Fasti» sind das antike Vorbild von Moritz’ «Anthusa». Ihre Schlüs­selstellung verdanken sie nicht zuletzt dem Umstand, dass sie selbst aus einer ähnlichen Distanz auf die dritte Schicht zurückblicken wie die «Anthusa» auf die Antike insgesamt. Die Livius-Perspektive auf die Geschichte Roms seit der Stadtgründung ist Teil des Kalenders: Viele Feste haben historische Ereignisse zum Anlass. Aber statt in die Geschichtsschreibung gehen sie bei Moritz in eine frühe Darstellung dessen ein, was heutige Historiker das «kulturelle Gedächtnis» nennen.


Wiederauferstehung der Antike

Erst im letzten Abschnitt löst Moritz das Rätsel des in griechischen Lettern gesetzten Titels auf: «Das alte Rom hatte, außer seinem üblichen, noch einige geheime Namen, unter denen man es dem besondern Schutz der Gottheit empfahl, wenn etwa der eigentliche Name, einmal entweiht, den Göttern missfällig werden sollte. Einer von jenen geheimen Namen hieß Anthusa, die Blühende.»

Den Namen Anthusa sollen wir uns demnach als eine Art Tarnkappe vorstellen, unter der das antike Rom im christlichen, konsequent in düster-melancholisches Licht getauchten Rom als Gegenbild wiederaufersteht. Der polemische Unterton ist nicht nur der eines protestantischen Autors, dem im Zentrum des Katholizis­mus selbst der Karneval nur noch ein schwa­cher Schatten der alten Saturnalien ist. Er trifft auch die «missverstandne Religion» im heimischen Berlin unter Friedrich Wilhelm II.

Hier war im Juli 1788, in Reaktion auf die Publizistik der Aufklärung,  das «Woell­nersche Religionsedikt» erschienen, als Verpflichtung der preußischen Geistlichen  auf unzweideutige «Lehrbegriffe», die ein neuer Landeskatechismus überprüfbar festschreiben sollte. Moritz setzt dem in der «Anthusa» nicht nur die verklärte Antike gegenüber, in der «kein Volk dem andern die ausschließende Verehrung seiner Götter aufdrang», sondern auch das Motto aus «dem vortrefflichsten Buche der neuern Zeiten, welches unter dem Schleier der Dichtung mit der mächtigen Stimme der Wahrheit Duldung predigt: Tretet herein, denn auch hier sind Götter!»

Das ist das Motto über dem Schauspiel «Nathan der Weise», die von Lessing ebenfalls im Rückgriff auf die Antike ausgegebene Parole der Toleranz.

 

Lothar Müller lehrt am Kulturwissen­schaftlichen Seminar der Humboldt-Universität, arbeitet als Literaturkritiker der «Süddeutschen Zeitung» und lebt in Berlin.

 

Karl Philipp Moritz
Schriften zur Mythologie und Alter­tumskunde. Teil 1: Anthusa oder Roms Alterthümer
Hg. von Yvonne Pauly. Max Niemeyer,
Tübingen 2005. 776 S., 168 €

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