Kurz und Bündig - Paul Veyne: Foucault. Der Philosoph als Samurai

Was in aller Welt hat Sex mit Denken zu tun? Der Philosoph Michel Foucault entdeckte Schnittmengen auch in einander entgegengesetzten Polen der menschlichen Existenz. 1926 wurde er im bürgerlichen Poitiers geboren, wuchs als Spross eines Sprosses von Ärzten auf, und so erwartete Vater Paul-André Foucault von Paul-Michel ebenfalls eine Medizinerkarriere. Doch dieser, eingeschult noch vor seinem vierten Geburtstag, wollte Geschichtslehrer werden.

Was in aller Welt hat Sex mit Denken zu tun? Der Philosoph Michel Foucault entdeckte Schnittmengen auch in einander entgegengesetzten Polen der menschlichen Existenz. 1926 wurde er im bürgerlichen Poitiers geboren, wuchs als Spross eines Sprosses von Ärzten auf, und so erwartete Vater Paul-André Foucault von Paul-Michel ebenfalls eine Medizinerkarriere. Doch dieser, eingeschult noch vor seinem vierten Geburtstag, wollte Geschichtslehrer werden. Den väterlichen Vornamen Paul legte er bald ab, den Ehrgeiz nicht: Das Studium an der Pariser Elitehochschule «École normale supérieure» schloss er mit einer Handvoll Diplome ab; die Dissertation geriet ihm, Jahrzehnte vor dem Gebrauch elektronischer Textverarbeitung, tausend Manuskriptseiten dick. Die Atmosphäre an der École normale nach dem Zweiten Weltkrieg glich der einer Kaserne. Seine Homosexualität jedenfalls konnte Foucault anfangs auch in der Metropole nur im Verborgenen leben – bevor er später ein Leben als «anständiger Schwuler ohne Probleme» führte. «Ich habe im ersten Jahr meiner sexuellen Karriere mit 200 Männern geschlafen», erzählte er seinem Freund, dem Historiker Paul Veyne einmal. Und der erzählt es nun weiter: in seinem neuen Buch «Foucault. Der Philosoph als Samurai». Die alttesta­mentarisch übertriebene Zahl der Liebhaber steht neben anderen Erinnerungen: an Foucaults schneidenden Humor, seine stählerne Arbeits­disziplin, an die wohl einzige Nacht, die er mit einer Frau verbrachte, oder daran, wie er gelegentlich Drogen konsumierte, die er erst in Vaters Medizinschrank, später in den Bars von San Francisco besorgte. Dort infizierte er sich auch: Im Juni 1984 starb er an Aids. Paul Veyne lernte den vier Jahre Älteren Anfang der fünfziger Jahre kennen, seit Mitte der siebziger Jahre waren die beiden Kollegen am Collège de France, Veyne verkehrte oft bei Foucault zu Haus. So ist es ein wenig schade, dass der Leser bis zum elften, dem letzten Kapitel des Buches warten muss, bis der Autor aus seinem exklusiven Wissen schöpft. Wie er zuvor Foucaults Arbeiten diskutiert, ist selbstverständlich kompetent, auch gut verständlich, aber andere Kommentatoren übernehmen diesen Job nicht weniger gut. Lesen sollte man Veyne wegen biografischer Details, die nur er kennt. Nicht aus Voyeuris­mus, sondern weil sie den Blick auf eines der großen phi­losophischen Werke des 20. Jahrhunderts schärfen. Bis heute meinen manche Foucault-Jünger, weil der Meister einst die Frage, was ein Autor sei, skeptisch diskutierte, müsse man sich biografisch informierter Interpretationen enthalten. Doch derselbe Meister bemerkte, «dass es kein Buch gibt, das ich nicht  aus einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung heraus geschrieben hätte». Es war der psychisch labile Student, der in die Geschichte der Psychiatrie eintauchte, um die Grenzen zwischen Vernunft und Wahn auszuloten («Wahnsinn und Gesellschaft»). Es war der Arztsohn, der der modernen Medizin attestierte, ihre Diagnosemethoden erfunden zu haben, indem sie buchstäblich über Leichen ging («Die Geburt der Klinik»). Es war der, wie Veyne formuliert, «glühende Verfechter der Freiheit», der dem Liberalismus dessen eigene Programme und die Institution Gefängnis vorhielt. Und es war der Homosexuelle, der sich an ein verschlungenes Projekt namens «Sexualität und Wahrheit» machte. Unsere Lüste – so die markanteste Botschaft – werden durch die unablässige Rede über Sex erst hervorgeholt und geformt. In Texten, Bildern, Institutionen, Medien ist geronnen, was eine Gesellschaft über Geschlecht und Sexualität denkt. Dass wir «anders denken» sollten, hat Foucault oft empfohlen, ohne je vorzuschreiben, wie genau. Seine Analysen der Geschichte sind nicht zuletzt Plädoyers für mehr Phantasie. Auch im Bett.   

 

Paul Veyne
Foucault. Der Philosoph als Samurai
Aus dem Französischen von Ursula Blank-Sangmeister.
Reclam, Stuttgart 2009. 218 S., 19,90 €

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