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Flüchtlinge, Ungleichheit, Religion - So spaltet die Globalisierung die Gesellschaft

Angesichts einer beispiellosen europäischen Flüchtlingskrise ist die hiesige Parteienlandschaft unter starkem Zugzwang, Lösungen zu präsentieren. Die Gesellschaft spaltet sich in liberale Globalisierungsbefürworter und konservative Gegner. Drei neue Konfliktlinien bilden sich heraus

Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Seit Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen in der OECD-Welt gestiegen. Dieser Anstieg der Ungleichheit ist nicht die „natürliche“ Folge von digitaler Revolution, Wissensökonomie oder kühner schöpferischer Zerstörung. Er ist vor allem eine Folge politischer Entscheidungen, die diese besondere Form der Marktermächtigung bei gleichzeitiger Staatsentmachtung seit nunmehr drei Jahrzehnten antreiben.

Parallel zu dieser Entwicklung gehen in der OECD-Welt die Wahlbeteiligung sowie die Mitgliedschaft in Parteien und gesellschaftlichen Großorganisationen zurück. Aus der Politik ausgestiegen ist vor allem das untere Drittel der Gesellschaft. Neue oder direkte Formen der politischen Beteiligung wie NGOs, Volksabstimmungen, Bürgerinitiativen oder überhaupt Politikansätze mit stärkerer Partizipation der einzelnen Bürger sind sozial noch viel selektiver als die schwächelnden Institutionen der repräsentativen Demokratien. In der partizipativen Welt der OECD haben sich reihum Zweidritteldemokratien eingerichtet. Das untere Drittel ist uns weggebrochen.

Unsere Ökonomie produziert Ungleichheiten
 

Die Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie in Wirtschaft und Gesellschaft nicht (mehr) hinreichend garantieren kann. Das ist keineswegs ein systematischer Strukturdefekt der Demokratie. Wir haben es vielmehr mit der teils bewussten, teils fahrlässigen Preisgabe von staatlichen Regulierungs- und Korrekturkapazitäten gegenüber einer Ökonomie zu tun, die strukturell sozioökonomische Ungleichheit produziert und das fundamentale Demokratieprinzip politischer Gleichheit schleift. Es geht darum, die Verteilungsfrage wieder stärker als allgemeines Leitmotiv in die Finanz-, Wirtschafts- und Bildungspolitik einzuschreiben. Je sozial gerechter, umso integrierter ist eine Gesellschaft und umso höher ist die Qualität der Demokratie. Dafür gibt es messbare Evidenz.

Kulturell homogene Gesellschaften sind leichter zu regieren. Heterogene Gesellschaften tendieren dazu, ethnische Konfliktlinien zu ziehen, sich in Subkulturen zu fragmentieren und dabei eigene Zivil- und Parallelgesellschaften auszubilden. Das klingt beunruhigend, weil heterogene Gesellschaften unsere Zukunft sein werden und manche ihrer Aspekte auch ausgesprochen positiv sein können: Etwa kulturelle Vielfalt, wirtschaftliche und soziale Kreativität sowie die Einübung von Toleranz gegenüber dem Anderen.

Es droht ein Konflikt zwischen Muslimen und der Mehrheitsgesellschaft
 

Empirisch kann die Forschung Folgendes zeigen: Je größer die sozioökonomische und die ethnisch-religiöse Ungleichheit, umso geringer das wechselseitige Vertrauen der Bürger untereinander. Dieser Zusammenhang ist nicht zwangsläufig, sondern kann moderiert werden, unter anderem durch Wirtschaftswachstum, faire Aufstiegschancen, eine solide soziale Sicherung, geringe soziale Ungleichheit und durch die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen, die aus anderen Ländern und Kulturkreisen zu uns gekommen sind. Das Negativszenario unserer Gesellschaft hieße: kein Wachstum, hohe ökonomische Ungleichheit, schwacher Sozialstaat, hohe ethnische Diversität bei gleichzeitig kaum vorhandener Teilhabe der Migranten. Dreht man diese Positionen ins Gegenteil, entsteht ein positives Integrationsszenario. Gerade der Abbau sozioökonomischer Ungleichheit in einer prosperierenden Wirtschaft könnte dabei eine besondere gesellschaftsintegrative Dynamik auslösen, die längerfristig auch dabei helfen würde, kulturelle Gräben zu überbrücken.

Gegenwärtig droht sich eine Konfliktlinie zwischen arabischen Muslimen und den europäischen Mehrheitsgesellschaften zu verfestigen, seien diese laizistisch wie in Frankreich, liberal wie in Holland oder katholisch wie in Polen und der Slowakei. Im gegenwärtigen Europa existiert kaum ein Beispiel gelungener Integration von Muslimen: weder insbesondere von arabischen Muslimen in Frankreich, Belgien, Holland, Spanien noch von türkischen Muslimen in Deutschland, der Schweiz und Österreich oder von pakistanischen Muslimen in Großbritannien.

Hat die europäische Integrationspolitik versagt?
 

Ursache dafür ist sicherlich auch die verfehlte Integrationspolitik. Aber nur? Haben schlicht alle Länder versagt? Der liberal-multikulturelle Ansatz in den Niederlanden, die republikanisch-laizistische Politik Frankreichs und der stärker ethnisch-assimilatorische Ansatz in der Schweiz, in Österreich und Deutschland? Oder kann es sein, dass wir es mit den Menschen aus islamischen Kulturen mit den am schwersten zu integrierenden religiösen Ethnien zu tun haben, weil Kernelemente ihrer gegenwärtigen Gesellschaften die größte Distanz zu Leitwerten unserer liberalen und säkularen Gesellschaftskulturen aufweisen? Dafür gibt es Indizien, wenn man gerade die kulturellen Modernisierungen unserer Gesellschaft der letzten Jahrzehnte betrachtet. Dazu gehören insbesondere die Gleichstellung der Geschlechter, die Nichtdiskriminierung von Homosexualität, sexuelle Selbstbestimmung, das Recht auf Skepsis, Ironie und Satire gegenüber der Religion im Allgemeinen und die Ächtung des Antisemitismus. Aber auch die Freiheit, den Glauben zu wechseln. Von diesen Einstellungen sind fast alle Varianten des (arabischen) Islams weit entfernt.

Die Errungenschaften der kulturellen Moderne sind zwar bei uns per Gesetz geschützt. Bei der Integration geht es aber nicht nur um Rechtsbefolgung, es geht auch um die Akzeptanz der Werte der Einwanderungsgesellschaft. Zwar haben auch Migranten ganz individuelle Wertvorstellungen. Aber wir haben es ebenso mit tief verankerten Grund- und Glaubensüberzeugungen zu tun, die nicht beliebig oder kurzfristig „dekonstruiert“ werden können. Das Angebot von Sprach- und Integrationskursen ist notwendig, reicht aber längst nicht aus. Mindestens ebenso wichtig ist eine rasche Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Lange Wartezeiten für Arbeitserlaubnisse sind fatal. Eine Integration in den Arbeitsmarkt sollte aber nicht wichtige Regulierungen wie Mindestlohn, Arbeits- und Kündigungsschutz unterlaufen. Dass solche Widersprüchlichkeiten insbesondere für Sozialdemokraten und Gewerkschaften schmerzhafte Kompromisse erfordern, liegt auf der Hand.

Die Globalisierung treibt Gesellschaften zusätzlich auseinander
 

Noch schwieriger wird die zur Integration notwendige Überwindung tiefsitzender patriarchalischer und antiaufklärerischer Wertemuster sein. Wer hier in kurzen Zeiträumen denkt, versteht nicht, wie tief ethno-religiöse Werte in der Persönlichkeit eines Individuums verankert sind. Integrationsforscher denken in Generationen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Parallelgesellschaften entstehen, die rechtstaatliche Gebote möglicherweise zwar nicht verletzen, aber doch patriarchalische und antiliberale Traditionen weitergeben. Die wahrscheinliche mittelfristige Perspektive ist also weder Assimilation an eine Leitkultur noch ein multikulturelles Miteinander als die (hoffentlich) friedliche Koexistenz von segregierten Kulturen. Eine solche Perspektive verneint nicht die Notwendigkeit kultureller Integration, weiß aber zwischen Wunschdenken und Tatsachen zu unterscheiden.

Es gibt eine dritte Konfliktlinie, die sich im Zuge der Globalisierung in unseren Gesellschaften zu etablieren beginnt: der Konflikt zwischen kosmopolitischen Eliten (der Soziologe Richard Sennett persifliert diese als „frequent flyers“) und den geistig, geographisch wie sozial eher immobilen Teilen unserer Gesellschaften. Kosmopoliten wollen offene Grenzen, liberale Zuwanderung, erleichterte Einbürgerung, kulturellen Pluralismus sowie eine globale Verantwortung für universell gültige Menschenrechte und Umweltschutz. Kosmopoliten betonen die Chancen der Globalisierung, Kommunitaristen dagegen betonen die Gefahren. Letztere bevorzugen solidarische Gemeinschaften, kontrollierte Grenzen, sie befürworten eine Beschränkung der Zuwanderung, beharren auf kultureller Identität und legen Wert auf sozialen Zusammenhalt, der leichter in kleinen abgrenzbaren Gemeinschaften herzustellen sei als in unbegrenzten sozialen Räumen. Die positive Variante des Kommunitarismus wäre die sozialdemokratische „Folkhemmet“ Schwedens oder Dänemarks, die negativ-chauvinistische Form der gegenwärtig grassierende Rechtspopulismus.

SPD: Kosmopolitanismus und Kommunitarismus Seit an Seit
 

Kosmopolitische Einstellungen sind vor allem unter den gebildeten Mittelschichten zu finden. Viele von ihnen sind Globalisierungsgewinner. Sie verfügen über das entsprechende Humankapital, um mit kulturellen Unterschieden und wirtschaftlichen Mobilitätsansprüchen umgehen zu können. Es sind diese gesellschaftlichen Gruppen, die die Sozialdemokratie verstärkt seit den 1970er Jahren gewinnen konnte. Die untere Hälfte der Gesellschaft ist weniger mobil und kritischer gegenüber offenen Grenzen, Zuwanderung, Mobilitätszumutung, Multikulturalismus; auch fürchtet sie Konkurrenz in den weniger qualifizierten Bereichen des Arbeitsmarktes. Sie sind eher die Verlierer der Globalisierung. Gleichzeitig tragen insbesondere sie die Hauptlasten offener Grenzen, und zwar im Wohnquartier genauso wie im Alltags- und Berufsleben – während die oberen und Teile der mittleren Schichten davon profitieren.

Wie haben die politischen Parteien in Deutschland auf diese neue Konfliktlinie reagiert? Die Grünen zeigen sich programmatisch als die kosmopolitischste Partei, gefolgt von der Linken. CDU und CSU verzeichnen in ihren Parteiprogrammen den höchsten Anteil kommunitaristischer Aussagen. Bei der FDP und der SPD lässt sich seit Mitte der 1970er Jahre ein Zuwachs an kosmopolitischen Positionen erkennen. Bei der SPD halten sich Kosmopolitanismus und Kommunitarismus die Waage.

Dilemma der Sozialdemokratie
 

Die neuen Konfliktlinien allerdings haben sich längst zu einem Dilemma für die Sozialdemokraten verdichtet: Machen sie Zugeständnisse auf der einen, haben sie mit Stimmenverlusten auf der anderen Seite zu rechnen. Der Wählerrückgang der zurückliegenden zehn Jahre spiegelt dieses Dilemma deutlich wider. Der Zustrom von Flüchtlingen und die bisher europaweit einzigartige kosmopolitische Politik der Bundesregierung könnten dieses Dilemma verstärken. Die kommunitaristisch-konservativ positionierte Christdemokratie fordert es freilich noch weit stärker heraus. Denn Offenheit wollte sie vor allem für den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen und nicht für fremde Kulturen oder im Sinne eines massenhaften Zuzugs von Menschen.

Trotz aller Schwierigkeiten lässt sich die Integrationsfrage auch mit sozialdemokratischen Vorzeichen beantworten: Das sozioökonomische Auseinanderdriften der Globalisierungsgewinner und Verlierer muss gestoppt werden; ein starker Staat äußert sich nicht nur als verlässlicher Rechtsstaat, sondern auch als Garant von sozialem Aufstieg und gleichen Lebenschancen für alle; dies gilt nicht zuletzt auch für Flüchtlinge und Zuwanderer; ihnen muss bei der Integration mit überproportionaler fiskalischer Unterstützung, notfalls auch mit „affirmative action“ geholfen werden. Interethnische Brückeninitiativen, Organisationen und Vereine der Zivilgesellschaft müssen an der Basis gefördert werden. Der Dialog mit Großverbänden, die vor allem ihre eigenen Interessen verfolgen, hilft da wenig.

Auch die Mehrheitsgesellschaft muss sich ändern. Unverhandelbar aber sind die rechtsstaatlichen Positionen und kulturellen Werte einer offenen Gesellschaft. Das gilt gegenüber Fremdenfeindlichkeit auf der einen wie gegenüber der religiösen Intoleranz gegenwärtiger Islamdeutungen auf der anderen Seite. Ließen wir diese Prinzipien fallen, dann würden unsere Überzeugungen in der normativ taub gewordenen Gemengelage multikultureller Indifferenz verschwinden. Das wäre aber keine sozialdemokratische Erzählung mehr.

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