- „Patriotismus lässt sich missbrauchen“
Studien haben gezeigt, dass zu sportlichen Großveranstaltungen Nationalismus zunimmt, während Patriotismus abnimmt. Cicero Online sprach mit dem Sozialpsychologen Ulrich Wagner über die Gefahr nationaler Symbolik, ein gesundes Heimatbewusstsein, die Nationalhymne und ein befriedendes Europa
Herr Wagner, sind Sie ein Patriot?
Nein.
Warum nicht?
Es gibt gute Argumente für die Identifikation mit dem eigenen Land. Sie ist ganz wesentlich für das gesellschaftliche Zusammenleben, dafür, dass ein Land überhaupt funktioniert. Zu starke Identifikation mit dem eigenen Land birgt jedoch die Gefahr, dass diejenigen, die nicht dazu gehören, ausgegrenzt werden.
Ist das eine Sache, die vor allem für uns Deutsche gilt, aufgrund unserer Vergangenheit? Keine Generation nach dem Dritten Reich kann von sich behaupten, ein unverkrampftes Verhältnis zum deutschen Vaterland zu haben.
Das hat eher etwas mit Psychologie zu tun. In anderen Ländern ist das nicht anders. Dass wir eine nationalsozialistische Vergangenheit haben, erschwert das Problem nur zusätzlich. Empirische Studien zeigen, dass Patriotismus und Nationalismus immer mit der Gefahr einhergehen, andere abzugrenzen – insbesondere der Nationalismus. Es gibt die Überlegung, ob Patriotismus eher eine gute Form der Identifikation ist. Aber selbst an der Stelle wäre ich vorsichtig. Dahinter steckt ein ganz einfacher Mechanismus: Wenn ich mich sehr stark mit einer Gruppe identifiziere – das kann ein Fußballverein, eine Organisation, ein Betrieb oder auch das eigene Land sein – bedeutet das, dass ich einen Teil meiner Identität an diese Gruppe hänge. Und da die meisten von uns bemüht sind, ein positives Selbstbewusstsein zu entwickeln, führt das zu dem Versuch, meine Gruppe aufzuwerten – und zwar auf Kosten anderer.
Aber wir alle sind Weltenbürger, leben in unterschiedlichen Ländern auf unterschiedlichen Kontinenten. Allein durch die Andersartigkeit unserer Sprache oder durch unser Aussehen grenzen wir uns voneinander ab. Müssen wir das nicht auch ein Stück weit, um uns als Individuum zu profilieren oder richtet sich der Trend dahin gehend aus, dass wir dieses Bewusstsein im Zuge der Globalisierung nach und nach aufkündigen?
Bei nationalen Identifikationen besteht ein Risiko, weil wir uns hauptsächlich über nationale Zugehörigkeit definieren. Grieche zu sein, spielt derzeit beispielsweise eine große Rolle. Türke zu sein auch, aufgrund der Debatte über den Anschluss der Türkei an die Europäische Union. Aber Sie haben Recht: In den letzten 40, 50 Jahren haben wir eine ganz bedeutende Veränderung erlebt, weil wir uns heute als Deutsche stark mit Europa identifizieren und das hat eine sehr befriedende Konsequenz. In den 1960er und 1970er Jahren war der typische Einwanderer aus Sicht der Deutschen der Italiener. Vorurteile und Diskriminierung in diese Richtung sind praktisch verschwunden, weil wir uns heute mehr über eine europäische Gemeinschaft identifizieren.
Beobachten wir hier aber nicht auch gerade im Zuge der Eurokrise einen gegenläufigen Trend? Gerade Eurokritiker und nationalistische Populisten streben nach weniger Europa und versuchen, die einzelnen Länder wieder zu stärken.
Das ist eine sehr strenge Frage für einen Wissenschaftler. Ich kenne keine Daten, die das bestätigen würden. Natürlich wird mir, gerade in Bezug auf die Verschuldung Griechenlands, berichtet, dass es in Griechenland so etwas wie Deutschenfeindlichkeit gibt, weil die Griechen den Eindruck haben, wir würden ihnen den Hahn nun endgültig zudrehen. Aber ob das zu einer Rückorientierung auf nationale Identitäten führt, kann ich nicht sagen. Zumindest habe ich aber die Befürchtung, dass das den Populisten das Feld öffnet.
Seite 2: Nationalismus geht mit der Abwertung anderer einher
Johannes Rau hat einmal gesagt: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt. Ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“ Lassen sich diese beiden Konzepte tatsächlich empirisch voneinander trennen? Oder sind das vielmehr zwei Seiten derselben Medaille?
Nationalismus lebt von dem Vergleich mit anderen Nationen. Er ist stark davon geprägt, sich mit der eigenen Nation zu identifizieren und sich gleichzeitig gegenüber anderen, fremden Nationen positiver herauszustellen.
Das heißt, Nationalismus geht automatisch mit der Abwertung anderer einher?
Genauso muss man es sagen. Die Debatte um den Patriotismus kommt aus den Politikwissenschaften und der Soziologie. Die Idee, die dahinter steckt, ist folgende: Es müsste doch eigentlich möglich sein, sich auf eine Art und Weise mit dem eigenen Land zu identifizieren, ohne andere dabei schlechter zu machen. Patriotismus ist daher nicht so stark mit dieser Abgrenzungskomponente belegt, sondern mit dem Stolz auf Errungenschaften im eigenen Land, beispielsweise mit dem Stolz auf die demokratische Entwicklung – und das ist ja erstmal eine positive Erkenntnis. Untersuchungen zeigen darüber hinaus, dass Nationalismus tatsächlich mit Fremdenfeindlichkeit korreliert. Umso höher jemand nationalistisch eingestellt ist, desto fremdenfeindlicher ist er auch. Beim Patriotismus ist es tendenziell umgekehrt. Aber: Wenn der Patriot eine Präferenz für demokratische Entwicklung aufweist, steckt hier auch eine Identifikationskomponente. Und die ist gefährlich. Die lässt sich missbrauchen.
Was daran ist gefährlich?
Um demokratische Werte zu würdigen, muss ich mich nicht mit meinem Land identifizieren. Ich könnte doch auch einfach sagen: Ich bin Demokrat. Beim Patrioten sollten gesellschaftsbildende Komponenten im Vordergrund stehen. Und die hören nicht an irgendeiner Landesgrenze auf.
Gut. Aber brauchen wir auf der anderen Seite für eine lebendige europäische Identität nicht auch ein gesundes Heimatbewusstsein? Nach dem Prinzip, wenn ich mich selbst kenne, kann ich mich anderen Nationen oder Kulturen auch besser öffnen. Nehmen wir deutsche Werte und Tugenden: Müssen die nicht auch auf irgendeine Weise gepflegt werden, weil sie zu einem ganz eigenen, vielleicht auch sozialgesellschaftlichen Verständnis „fremder“ Tugenden beitragen?
Vorab: Eine demokratische Gesellschaftsentwicklung ist nicht mit Landesgrenzen verbunden. Gleichzeitig wissen wir aber auch – vor allem aus der Migrationsforschung – dass es für manche Menschen wichtig ist, sich auf ihre ethnische Zugehörigkeit zu konzentrieren. Es ist ganz natürlich, dass Migranten noch eine gewissen Zeit an dem hängen, was sie ihre Heimat nennen. Das hat mit Identitätsfindung zu tun und hier bewegen wir uns wieder ganz nah an der nationalen Identifikation. Wir müssen nur vorsichtig damit sein. Manchmal braucht man die Orientierung an der eigenen Geschichte, auch an ihren negativen Aspekten. Aber – und hier richte ich mich an die Politik – ich bekomme Bauchschmerzen, wenn im Zusammenhang mit sportlichen Großveranstaltungen diese Form der Identitätsstiftung so hochgespielt wird. Wenn jemand beim Public Viewing eine schwarz-rot-goldene Perücke trägt, heißt das nicht, dass er am Ende als Nationalist das Stadion verlässt. Doch nationale Symbolik auch von politischer Seite ständig aufzuladen, kann problematisch werden.
Seite 3: Event-Patriotismus, "Patriotismus? Nein, danke!" und Nationalhymnen
Handelt es sich bei diesem Event-Patriotismus überhaupt um Patriotismus? Oder zählt hier einfach das gemeinschaftliche Spaßerlebnis?
Die Spaßkomponente steht ganz klar im Vordergrund. Das hat es aber auch schon früher gegeben – schließlich gibt es Fußball-Welt- oder Europameisterschaften nicht erst seit dem 21. Jahrhundert. Doch früher waren diese Sportereignisse nicht so sehr mit nationaler Zugehörigkeit verknüpft. Ich will kein Miesepeter sein, aber – und hier verlasse ich meine psychologische Disziplin und urteile aus politikwissenschaftlicher Perspektive – das andauernde öffentliche Initiieren solcher Identifikations-Events birgt eben eine gewisse Gefahr. Bei der WM 2006 ging man immer davon aus, dass die „Welt zu Gast bei Freunden“ ist, dass hier eine offene Form der Begegnung passiere und dass das eine neue, eine bessere Form von Patriotismus schüre. Doch unsere Daten sprechen eine andere Sprache: Damals gab es eine leichte Zunahme an Nationalismus und eine Abnahme an Patriotismus.
Was halten Sie in diesem Zusammenhang von der Aktion der Grünen Jugend mit ihren „Patriotismus? Nein, danke!“-Aufklebern? Sind das nicht einfach nur ein paar Spaßbremsen, bei denen die eigene Borniertheit durchschlägt?
Mir wäre eine öffentliche Diskussion lieber. Im Grunde behandeln sie die Debatte auf genau der gleichen Ebene: Kommt der Patriotismus also mit Fähnchen und Perücken daher, antwortet die Grüne Jugend mit den selben Schlagworten in Form von Aufklebern.
Was halten Sie von dem Vorschlag, die Nationalhymne an deutschen Schulen verpflichtend zu lehren?
Die Frage ist, ob wir es hier mit Bildungsgut zu tun haben. Der Gegenstand der Nationalhymne, auch die ersten beiden Strophen, gehört in einen deutschen, geschichtsbewussten Unterricht. Aber deshalb muss man das Lied ja noch lange nicht singen, vor allem nicht verpflichtend.
Wagen wir zum Schluss noch einen Blick über den Maschendrahtzaun hinweg: Im Ausland genießt Deutschland eigentlich einen sehr guten Ruf. Wir sind fleißig und ehrlich… Können Sie psychologisch einschätzen, ob unsere europäischen Nachbarn ein neues, patriotisches Deutschland fürchten würden?
Da muss ich wieder sehr streng mit mir sein: Über die öffentliche Meinung in anderen Ländern zu Deutschland liegen mir keine Informationen vor. Was ich aber sehr wohl beobachte, ist, dass mit unterschiedlichen Deutschlandbildern gespielt wird. Und zwar nach Belieben. Je nach dem, ob die deutsche Außenpolitik dem jeweiligen Land in den Kram passt oder nicht, wird die eine oder die andere Facette ausgepackt und entsprechend instrumentalisiert. Mal sind wir weltoffen und das Zugpferd der EU, mal überwiegt das Bild vom deutschen Geiz, von Merkels Spardidakt und wie das die Krise noch weiter verschärft. Diese Wahrnehmung hängt immer von der politischen Entwicklung ab, von den weiteren Debatten, vor allem im Zusammenhang mit der Euro-Krise.
Herr Wagner, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Sarah Maria Deckert
Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Marburg und forscht zu Erklärung, Reduktion und Prävention von Konflikten zwischen Gruppen, insbesondere Fremdenfeindlichkeit, Diskriminierung und Gewalt
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