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NSU-Trio - 13 Jahre im Untergrund - eine Rekonstruktion

Der NSU-Prozess in München soll klären, wie eine rechte Terrorzelle 13 Jahre lang praktisch unbehelligt in Deutschland morden und rauben konnte. Eine Rekonstruktion dreier Existenzen im Untergrund

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Autoreninfo

Dr. Butz Peters ist Publizist und Rechtsanwalt in Dresden. Er ist einer der führenden deutschen Experten zur Geschichte der RAF und hat mehrere Bestseller zum Thema Innere Sicherheit geschrieben.

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[[{"fid":"54858","view_mode":"full","type":"media","attributes":{"height":814,"width":596,"style":"width: 120px; height: 164px; margin: 5px; float: left;","alt":"Cicero Juni Titel","class":"media-element file-full"}}]]Dieser Text erschien zunächst in der Printausgabe des Cicero (Juni 2013). Wenn Sie das monatlich erscheinende Magazin für politische Kultur kennenlernen wollen, können Sie es hier bestellen.

 

 

 

Der Tag null war bitterkalt. Mit dicken Stiefeln, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, stapfen Männer durch den Schnee auf einem Garagenhof in Jena – es ist noch dunkel. 26. Januar 1998, 7:25 Uhr: Kripobeamte auf der Suche nach Rohren, Kabeln und anderen Teilen, aus denen sich Bombenattrappen bauen lassen, vielleicht auch Bomben – in der Stadt sind einige Bombenattrappen aufgetaucht, die für Unruhe sorgten. Für die Polizisten ist es ein Routineeinsatz. Nichts Aufregendes.

Einen Durchsuchungsbeschluss haben sie für drei Garagen, einen Verdächtigen gerade bei seinen Eltern abgeholt, schräg gegenüber, in der Richard-Zimmermann- Straße 11: Der 20-Jährige geht ruhig und gelassen neben ihnen durch die eisige Kälte. Er trägt Bomberjacke, ist hager und schlaksig, hat raspelkurze Haare und Segelohren. Uwe Böhnhardt schließt das Tor der Garage auf. Die Beamten durchsuchen seinen roten Hyundai mit dem Kennzeichen J - RE 76, finden nichts. Böhnhardt fährt den Wagen auf den Garagenhof. Die Beamten nehmen die Regale in der Garage unter die Lupe.

Kurz nach halb neun steigt Böhnhardt in den roten Hyundai und fährt weg. Der Einsatzleiter lässt ihn, weil, wie er meint, die Durchsuchung bislang nichts brachte und Böhnhardt sie friedlich über sich ergehen ließ. Eine halbe Stunde später gibt es Alarm: Per Funk von Kollegen aus einer anderen Garage – sie sind spät dran, weil sie ein Vorhängeschloss nicht aufbekamen und auf die Feuerwehr warten mussten. In der Garage, angemietet von Beate Zschäpe, liegen zwei Rohrbomben, Bauteile für Bomben und 1,4 Kilo TNT. Sprengstoff.[gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert Deutschland]

Mit dem Hyundai in den Untergrund

Aber da ist Böhnhardt schon über alle Berge. Im Morgengrauen rollte er von dem Garagenhof direkt in den Untergrund. Auch Uwe Mundlos und Beate Zschäpe verschwinden an diesem Montagvormittag. Das Thüringer Landeskriminalamt stellt drei Greifkommandos zusammen, die sich auf die Suche nach ihnen machen. Ohne Erfolg. Verschwunden für die Polizei bleiben Bönhardt & Co 13 Jahre, neun Monate und neun Tage.

Am 4. November 2011 finden Polizisten Böhnhardts Leiche in Eisenach: in einem ausgebrannten Wohnmobil – getötet durch einen Kopfschuss von seinem Komplizen Uwe Mundlos, bevor der den Fiat Capron in Brand steckte und sich selbst in den Mund schoss. In den Wagen waren die beiden nach einem Banküberfall am Nordplatz mit ihren Fahrrädern geflüchtet. Beute: über 70 000 Euro. Als Polizisten vor dem Fenster auftauchen, greift Mundlos zur Pumpgun. Das Wohnmobil ist ein Waffenlager: Zwei Pumpguns, eine Maschinenpistole, vier Pistolen und eine Handgranate.

Drei Stunden später brennt in Zwickau ein Wohnhaus, Frühlingsstraße 26 – ausgelöst durch eine Explosion. Die konspirative Wohnung von Böhnhardt, Mundlos und Beate Zschäpe Türschild steht  „Dienelt“: Die 36-Jährige ist geflüchtet. Vier Tage später stellt sie sich der Polizei. Anhand der gefundenen Waffen stellen Kriminaltechniker des Bundeskriminalamts fest: Auf das Konto von Böhnhardt & Co geht eine in Deutschland einzigartige Mordserie, die keiner im rechten Lager verortet hatte. Sie ermordeten zehn Menschen in den Jahren 2000 bis 2007 – neun Mitbürger türkischer beziehungsweise griechischer Herkunft mit einer Ceska 83, die in den Trümmern in Zwickau lag – und eine deutsche Polizistin.

Die Blutspur zieht sich durch die ganze Republik. Tatorte: Hamburg, Rostock, Kassel, Köln, Dortmund, Heilbronn, Nürnberg, München.

Die Nachricht aus der BKA-Kriminaltechnik macht die deutschen Sicherheitsstrategen baff: Bei Verfassungs- und Staatsschützern, Politikern und auch Extremismusforschern war bislang nahezu einhellige Auffassung, dass es keinen deutschen Rechtsterrorismus gibt. Ihn hielt das Bundesamt für Verfassungsschutz schon deshalb für ausgeschlossen, weil „keine rechtsterroristischen Organisationen oder Strukturen“ in dieser Republik bestünden, wie es bereits Anfang 1999 erklärte – zu diesem Zeitpunkt waren Böhnhardt & Co seit einem Jahr abgetaucht. Zudem fehle es praktisch an allen Voraussetzungen für Rechtsterror: an „einer auf die aktuelle Situation in Deutschland bezogene Strategie zur gewaltsamen Überwindung des Systems“, am Führungspersonal, an finanziellen Mitteln, an einer Unterstützerszene und auch an den logistischen Voraussetzungen. Zudem passe Gewalt als Mittel der Politik nicht ins Weltbild der deutschen Rechtsextremisten, erklärte der Verfassungsschutz, weil sie „befürchten, dass terroristische Aktionen den Staat eher stärken würden“. Und schließlich wurde als „Beleg“ für den nichtexistierenden Terrorismus ins Feld geführt, dass es keine Tatbekennungen gebe – weil Terrorismus gerade auf die „Propaganda der Tat“ abziele. Die Selbstbezichtigung.

Diese glückselige Vorstellung bestand weit über ein Jahrzehnt – exakt bis zum 11. November 2011. Dem Schwarzen Freitag der Staatsschutzstrategen. Dem Tag, an dem die Nachricht von den BKA-Waffentechnikern kam.

Braune Ideologen aus dem Westen

Als die drei Ende Januar 1998 abtauchen, sind sie zwischen 20 und 24. Auf die Welt gekommen waren sie Mitte der siebziger Jahre. Alle wuchsen in Jena auf, einer Universitätsstadt an der Saale mit 100000 Einwohnern.

Uwe Böhnhardt ist Jahrgang 1977. Die Schule bereitet ihm Schwierigkeiten. Er schließt sich älteren Jugendlichen aus der rechten Szene an und rutscht in dieses Milieu hinein. Nach einer Lehre als Hochbaufacharbeiter ist er mehrfach arbeitslos – ist es auch, als ihn die Polizei bei seinen Eltern abholt und zur Garage bringt. Ein Kripo- Mann, der Böhnhardt im Jahr zuvor vernahm, beschreibt ihn als „einfach gestrickt“, „brutal“, „ausführendes Organ“. Ein rücksichtsloser Vollstrecker. Er schlägt schnell zu, tritt mit seinen Stahlkappen-Springerstiefeln. Das Vorstrafenregister des 20-Jährigen ist lang: Autodiebstahl, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Erpressung, Volksverhetzung. Ein Intensivtäter.

Beate Zschäpe, Jahrgang 1975, wächst überwiegend bei ihrer Großmutter auf – sie selbst nennt sich ein „Oma-Kind“. Ihren Vater kennt sie nicht. Ihre Mutter ließ sie oft allein, das Verhältnis ist gespannt: kein Vertrauen, keine Zuneigung. Nach dem Hauptschulabschluss macht sie eine Lehre als Gärtnerin, Fachrichtung Gemüsebau. Mehrfach arbeitslos – auch schon seit vier Monaten, als sie im Januar 1998 in den Untergrund verschwindet.

Uwe Mundlos, der Älteste, Jahrgang 1973: Sein Vater ist Professor an der Fachhochschule. Nach der zehnten Klasse lernt Uwe Datenverarbeitungskaufmann bei Carl Zeiss. Er gilt als der „Schlaue“ der Gruppe, will das Abitur nachholen. Bis zu seinem Abtauchen besuchte er das Illmenau- Kolleg. Er verehrt Rudolf Hess, bezeichnet sich selbst als „deutsch national denkend“ und „Verfolgter des Staates“.

Anfang, Mitte der neunziger Jahre verkehren die drei im „Winzerclub“ in Jena- Winzerla, einem Treffpunkt der Neonaziszene inmitten von Plattenbauten. Zschäpe ist mit Mundlos zusammen, später mit Böhnhardt. In dieser Zeit erlebt Thüringen ein Klima des aufkeimenden Rechtsextremismus. Braune Ideologen aus dem Westen ziehen durchs Land, wollen Neubundesbürger werben. Ein fruchtbarer Boden: Für die Medien in der DDR war der real existierende Rechtsextremismus im Arbeiter- und Bauernstaat ein Tabuthema. So ist für manchen nun der rechte Hass so etwas wie eine Protestreaktion gegen den verordneten Antifaschismus zu DDR-Zeiten. Und viele „Kinder der Einheit“ sind durch die Umbrüche verunsichert. Ihr Heil suchen sie in rechtsextremen Cliquen.

Zum Ventil für den Nachwendefrust der Zukurzgekommenen wird der Hass auf Ausländer. So steigt die Zahl der Rechtsextremisten in Thüringen rapide; sie verdoppelt sich in den Jahren 1994 bis 1998 beinahe und klettert auf 1200. Rund die Hälfte der Braunen gehört rechtsextremistischen Parteien an – der NPD, der DVU und den Republikanern. Die anderen tummeln sich in der „nicht organisierten“ Neonaziszene. Hier ist der Rechtsextremismus jünger, frecher, aktionistischer und militanter. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe machen mit: so richtig ab 1995, in der „Kameradschaft Jena“.

„Führer“ der Kameradschaft ist André Kapke. Seine „Stellvertreter“ werden Böhnhardt und Mundlos. Beate Zschäpe ist „aktives Mitglied“. Das Konzept der „Freien Kameradschaften“ ist eine Reaktion auf die Verbote mehrerer rechtsextremistischen Vereinigungen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre – Nationale Front, Deutsche Alternative, Nationale Offensive. Für sie gilt das Prinzip der „Organisierung ohne Organisation“. Der Leitgedanke: „Wo keine erkennbare Organisation vorhanden ist, kann diese auch nicht zerschlagen werden.“ Es gibt keine Mitgliedsausweise und auch sonst nichts, was zu einer klassischen „Vereinigung“ gehört. So agieren kleine autonome Einheiten auf regionaler Ebene.

Angeleitet werden die Kameradschaften von Führungsfiguren, die untereinander in Kontakt stehen. „Leitwolf“ der Thüringer Szene ist Tino Brandt, ein charismatischer Typ mit Milchbubigesicht und Nickelbrille, zugleich „geheimer Mitarbeiter“ des Thüringer Verfassungsschutzes unter dem Decknamen „Otto“; ab 1997 ist er sogar förmlich verpflichteter V‑Mann. Sechs Jahre lang, bis zum Jahr 2000, arbeitet er im verdeckten Staatsdienst und kassiert vom Freistaat Thüringen rund 200000 Mark.

Das Netzwerk, innerhalb dessen Böhnhardt & Co in der Kameradschaft agieren, nennt sich – quasi als Dachmarke – „Anti- Antifa Ostthüringen“. Vorgestellt worden war das „Anti-Antifa“-Konzept 1992 vom Hamburger Neonazi Christian Worch; mit ihm sollte auf die angeblich wachsenden Angriffe militanter Linksextremisten gegen Gesinnungsgenossen aus der rechtsextremistischen Szene reagiert werden. Später, von 1996 an, nennt sich das braune Netzwerk im Freistaat „Thüringer Heimatschutz“. Die Zahl der Aktivisten steigt von 20 auf 120, zu Spitzenzeiten gar auf 170.[gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert Deutschland]

Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe erscheinen zu den allwöchentlichen „Mittwochstreffen“, plakatieren in Jena die Losung: „8. Mai 1945 bis 8. Mai 1995 – Wir feiern nicht! Schluss mit der Befreiungslüge!“ Böhnhardt und Zschäpe bestellen in einem Blumengeschäft für einen Trauerkranz eine Schleife: „In Gedenken an Rudolf Hess, deine Jenaer Kameraden.“

Im November 1996 marschieren Böhnhardt und Mundlos durch die Gedenkstätte Buchenwald in SA-ähnlichen Uniformen, erhalten Hausverbot. Zwei Monate später, im Januar 1997, betreten sie den Parkplatz der Polizeidirektion in Jena und notieren sich Kennzeichen ziviler Einsatzfahrzeuge. „Eine neue Qualität der Aktionen Rechtsradikaler“, blickt Kriminalhauptkommissar Roberto Tuche zurück, damals Staatsschützer in Jena. Beide werden festgenommen. Zwei Tage später melden sie in Jena eine Versammlung an. Thema: „Für eine stärkere Kontrolle der Polizei.“

Für die Kameradschaft sind die politischen Gegner in erster Linie die Linken, in zweiter ist es der Rechtsstaat. Böhnhardt & Co verharmlosen das Dritte Reich. Aber ihr eigentliches Ziel bleibt nebulös. Ein Mitglied des Netzwerks berichtete 1996, in der Szene werde oft vom „Tag X“ gesprochen; dies sei der „Tag der Machtergreifung“. Wenn man so weit sei, solle ein nationalsozialistischer Volksaufstand stattfinden.

Dass die politische Sozialisation von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in diesen Jahren, 1995 bis 1997, einen starken Radikalisierungsschub bekommt und sie immer militanter werden, zeigen auch die Ermittlungen zum „Bombenspuk“. Zwischen September 1996 und Dezember 1997 wurden in Jena sechs Bombenattrappen gefunden. Im Ernst-Abbe-Stadion liegt eine rote Holzkiste, versehen mit Hakenkreuzen und der Aufschrift „Bombe“. Koffer, ähnlich aufgemacht, stehen vor dem Theater und auf dem Nordfriedhof. Briefbombenimitate gehen bei der Lokalredaktion der thüringer Landeszeitung, der Stadtverwaltung und der Polizei ein.

Diese sechs Konstruktionen – von schlichten Bombenimitaten bei den drei Briefen bis zur zündfertigen, aber nicht zündfähigen Theaterbombe – deuten für die Ermittler im Thüringer Landeskriminalamt auf eine „sich steigernde Gewaltbereitschaft“ hin. Als Täter vermuteten sie Personen aus der „Kameradschaft Jena“. Insbesondere richtete sich der Verdacht gegen Uwe Böhnhardt. Ein unberechenbarer Waffennarr, so sein Ruf. Dazu beigetragen hatte auch das Puppentorso- Verfahren – im April 1997 verurteilte ihn das Amtsgericht Jena zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren. An einer Autobahnbrücke bei Jena hatte ein Jahr zuvor ein Puppentorso mit zwei Davidsternen und der Aufschrift „Jude“ gehangen. Elektrokabel auf der Brücke führten zu zwei Bombenattrappen. Auf einem Karton: Böhnhardts Fingerabdruck.

Von diesem Vorwurf allerdings spricht ihn das Landgericht Gera im Berufungsverfahren frei, verurteilt ihn aber aus einem anderen Grund wegen Volksverhetzung: In seiner Wohnung hatte die Polizei zum Verkauf vorgesehene Tonträger der Gruppen „NSDAP“ und „Landser“ gefunden. Das Landgericht verkündet die „Jugendstrafe“ im Oktober 1997, also drei Monate vor der Garagendurchsuchung: zwei Jahre und drei Monate Gefängnis. In der Hoffnung, dem „Bombenspuk“ ein Ende machen zu können, heftet sich ein Observationstrupp des Thüringer Verfassungsschutzes an Böhnhardts Fersen. Im November 1997 sehen die Beamten, wie er zusammen mit Uwe Mundlos Brennspiritus kauft und in eine der Garagen schafft.

Und so erlässt das Amtsgericht Jena einen Durchsuchungsbeschluss. Gefunden werden sollen „Vergleichsmaterialien“, die Uwe Böhnhardt als Bombenattrappenbastler überführen. Das Vergleichsmaterial wird auch tatsächlich entdeckt. Zudem 1,4 Kilo TNT. Aber Böhnhardt ist weg. Gerade abgehauen.

In dieser Zeit, Anfang 1998, kommen er, Mundlos und Zschäpe überein, sich „zu einer eigenständigen Gruppierung zusammenzuschließen“, wie der dritte Strafsenat des Bundesgerichtshofs seinen Kenntnisstand zum NSU im vergangenen Jahr zusammenfasste. Die drei hätten beschlossen, sich „dem gemeinsamen Ziel der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland hin zu einem an der nationalsozialistischen Ideologie ausgerichteten System unterzuordnen und dieses Ziel künftig aus dem Untergrund heraus mit Waffengewalt weiterzuverfolgen“.

Der Weg in den Untergrund führte das Trio von Thüringen nach Sachsen. Dort lebt es 13 Jahre lang unerkannt – insgesamt in sieben Wohnungen. Die ersten zweieinhalb Jahre in Chemnitz, Mitte 2000 ziehen die drei nach Zwickau. Eine überschaubare Stadt in einer Talaue am Eingang zum Westerzgebirge. 90 000 Einwohner.

Was sie sich für den Untergrund vorgenommen haben, zeigt ein Text über das Selbstverständnis der Truppe, es ist wohl der einzige, den es gibt – gefunden in den Trümmern in Zwickau, abgespeichert das letzte Mal auf dem Computer am 5. März 2002: „Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) verkörpert die neue politische Kraft im Ringen um die Freiheit der deutschen Nation.“ Keine Partei, kein Verein sei „Grundlage des Nationalsozialistischen Untergrunds“, sondern „die Erkenntnis, nur durch wahren Kampf dem Regime und seinen Helfern entgegentreten zu können“. Die „Aufgaben des NSU“ bestünden „in der energischen Bekämpfung der Feinde des deutschen Volkes“ sowie „der bestmöglichen Unterstützung von Kameraden und nationalen Organisationen“. Das Selbstüberschätzung des Trios ist maßlos. Allen Ernstes sehen sich die drei abgetauchten Ex-Arbeitslosen als die „neue politische Kraft“ in Deutschland.[gallery:Rechte Gewalt- und Mordserie erschüttert Deutschland]

Von Ende Januar 1998 an organisieren sie ihr Leben im Untergrund. Zunächst finden sie Unterschlupf in der Wohnung eines Bekannten an der Richard-Viertel-Straße in Chemnitz. Acht Monate später beziehen sie ihre erste eigene Wohnung in der Altchemnitzer Straße, angemietet von einem Gesinnungsgenossen. Gesinnungsgenossen bringen ihnen auch Kleidung, Geld und was sonst noch für sie wichtig ist. Die nächsten 13 Jahre leben sie unter fremden Identitäten – Beate Zschäpe jongliert mit einem Dutzend, stellt sich vor als Mandy, Bärbel, Silvia, Liese, Lisa oder Susann. Im Übrigen ist aber fast alles bürgerlich normal, so wie es scheint. Einschließlich regelmäßiger Sommerurlaube auf der Insel Fehmarn mit dem Wohnwagen „Hobby Prestige“ auf dem Campingplatz Wulfener Hals. Mit Satellitenschüssel. Eine unauffällige Fassade. Die Rollen dahinter: Mundlos ist der Kopf, Böhnhardt die Faust. Beate Zschäpe sorgt für den „emotionalen Zusammenhalt“, führt die Haushaltskasse, erledigt Hausarbeit und Einkäufe.

Böhnhardt und Mundlos gehen „jobben“

Nach den ersten Monaten im Untergrund wird das Geld knapp. Aber im folgenden Jahr, November 1999, stellen Thüringer Verfassungsschützer fest, dass die Geldsorgen verflogen sind. Einer ihrer V-Männer bot einem der mutmaßlichen Kontaktleute zu den dreien eine „Spende“ für sie an. Aber der lehnt ab. Erklärt, dass sie keine Spenden „mehr brauchen, weil sie jobben“. Damals war der Grund für die Antwort unklar, heute ist er es nicht mehr. Einen Monat zuvor hatten Böhnhardt und Mundlos in Chemnitz zwei Postfilialen überfallen und dabei fast 70 000 Mark erbeutet.

Von da an gehen die beiden regelmäßig „jobben“, um für den Lebensunterhalt im Untergrund zu sorgen. Insgesamt ziehen sie 15 Mal los, um Kassen zu leeren. Die Beute beläuft sich auf 634 000 Euro. Das Geld dürfte ausgereicht haben für das WG-ähnliche Leben – rund 18 000 Euro pro Kopf und Jahr.

Die Chemnitzer Raubermittler hatten nicht die geringste Ahnung, wer in ihrem Revier und anderswo bei der Serie zuschlug; an den Tatorten finden sie keine brauchbaren Spuren. Mit den Fotos aus den Überwachungskameras ist nicht viel anzufangen. Die Maskerade der Räuber ist gut.

Im September 2000, mehr als zweieinhalb Jahre nach dem Abtauchen, begehen Böhnhardt und Mundlos ihren ersten Mord, den zehnten mehr als vier Jahre vor ihrem Auffliegen. Zwei Sprengstoffanschläge in Köln, 2001 und 2004, verletzten 23 Menschen, darunter viele Türken.

Ziel der Anschläge sei es gewesen, so die Erkenntnis der Bundesanwaltschaft, dass ausländische Mitbürger „Deutschland aus Angst um ihre Sicherheit verlassen“. Deshalb hätte der NSU die Taten „auch ohne ausdrückliche Tatbekennung für die Öffentlichkeit eindeutig als Mordserie“ kenntlich gemacht, „der sich Mitbürger ausländischer Herkunft schutzlos ausgesetzt fühlen sollten“: Stets feuerten die Mörder aus derselben Ceska 83 mit Schalldämpfer.

Wäre dieses Motiv zutreffend – und nichts spricht bislang dagegen –, hätte es Deutschland mit einer neuen Dimension des Terrorismus zu tun. Eine Dimension, die die Sicherheitsbehörden bis November 2011 nicht für möglich gehalten haben. Mord als nonverbale Kommunikation: Die Tat soll Angst und Unsicherheit bei Migranten erzeugen sowie unausgesprochene Sympathie in der rechtsextremistischen Szene wecken. Terrorismus also nicht mehr als „Propaganda der Tat“ – sondern ohne Tatbekennung. Die schweigende Zelle ist möglich.

Frappierend ist, dass die Gruppe 27 schwere Verbrechen republikweit verübte – Morde, Mordversuche und Banküberfälle –, ohne dass die Polizei auch nur einen Hauch von Verdacht gegen die Akteure schöpfte. Mehr als zehn Jahre lang betrieb der NSU sein Terrorhandwerk ähnlich „perfekt“ wie die dritte Generation der RAF – keine Spuren bei den Morden und den Beschaffungstaten, null Hinweise darauf, wo die Terroristen wohnen. Die Enkel von Baader & Meinhof ermordeten in den Jahren 1985 bis 1993 ebenfalls zehn Menschen. Von über einem Dutzend Akteuren wurden gerade einmal zwei verurteilt.

Zu der Methode des NSU gehörte auch, dass die Gruppe, die durchgängig in Sachsen lebte, ausschließlich in Westdeutschland Anschläge verübte. Hunderte Kilometer liegen zwischen den Tatorten und dem Wohnort. Und nachdem 2006 ein Sparkassenüberfall in Zwickau gescheitert war, der Wahlheimat des Trios, rauben Böhnhardt und Mundlos nur noch außerhalb Sachsens, in Mecklenburg-Vorpommern und in Thüringen.

Unsichtbar für die Ermittler blieb das Trio aber auch deshalb über die Jahre, weil es konsequent alle Neonazi-Treffs mied, einschließlich der braunen Szene vor der Haustür in Zwickau. Einige wenige Helfershelfer, langjährige „Spezis“, beschafften Fahrzeuge, Ausweise, Unterkünfte und Waffen, meint die Bundesanwaltschaft. Und deshalb sitzen vier von ihnen nun auf der Anklagebank neben Beate Zschäpe. Zur Last gelegt wird ihnen Beihilfe zu Straftaten oder Unterstützung der terroristischen Vereinigung NSU, nicht aber Mittäterschaft. Der derzeitige Stand der Anklage, unjuristisch formuliert: Der NSU bestand ausschließlich aus dem Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Außer ihnen war niemand an den Anschlägen als Täter beteiligt.

Drei parallele Handlungsstränge: unerkannt

Überraschend ist in der Gesamtschau vor allem, dass deutsche Sicherheitsbehörden drei Handlungsstränge mit erheblichem Aufwand verfolgten, aber niemand auf die Idee kam, dass diese etwas miteinander zu tun haben könnten. Wäre das geschehen, hätte ein Terrorverdacht nicht fern gelegen. Denn bei neun Morden stand eine „Serie“ außer Frage, weil alle Opfer mit derselben Ceska 83 erschossen worden waren – von den „Döner-Morden“ schrieben Zeitungen seinerzeit. Ebenso klar war die „Serie“ bei über einem Dutzend Banküberfällen. Und die Suche nach dem Trio betrieben Polizei und Verfassungsschutz bis 2003 ebenso aufwendig wie erfolglos. Um auf seine Spur zu kommen, nahmen sie alle möglichen Kontaktpersonen ins Visier. Allein die Thüringer Polizei hörte 37 Telefonanschlüsse ab. Auch mehr als ein Dutzend Observationen führten nicht zum Ziel. Die drei waren weg – und blieben es.

Die Suche der Ermittler galt drei abgetauchten Bastlern von Bombenattrappen – Durchgeknallten, nicht mehr und nicht weniger, dachte so mancher Fahnder. Nicht aber mordende Terroristen. Das wäre ein anderes Kaliber gewesen. 2003 stellt die Staatsanwaltschaft die Fahndung nach dem Trio ein. Der Tatvorwurf ist verjährt – „Vorbereitung eines Explosionsund Sprengstoffverbrechens“. Die fünf Jahre sind rum. Nur Böhnhardt bleibt bis 2007 in den Fahndungscomputern, weil er der „Ladung zum Strafantritt“ wegen seiner Volksverhetzungsstrafe nicht gefolgt war. Von den Zusammenhängen dieser drei Handlungsstränge wüsste bis heute vermutlich niemand, wenn die Polizei-Einsatzleitstelle in Eisenach nach dem Bankraub im November 2011 nicht an alle Streifenwagen die Order ausgegeben hätte, ganz besonders auf größere Fahrzeuge zu achten, in die Fahrräder passen.

Das Ende des NSU folgte nicht, anders als bei der RAF 1998, aus eigener Einsicht, sondern war der Erfolg einer Polizeifahndung – nach Räubern, nicht nach Terroristen. Von denen ahnte niemand etwas. Und noch einen wesentlichen Unterschied zur RAF gibt es: Die drei Buchstaben NSU wurden erst zu einem Begriff des Schreckens, als es die Truppe nicht mehr gab.

 

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