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Demokratieverlust - Ein technokratisches Europa ist nicht überlebensfähig

In der Eurokrise haben die Parlamente in Europa immer mehr an Einfluss verloren. Bislang wurde diese Entmachtung mit ökonomischen Zwängen begründet – doch was, wenn selbst diese Maßnahmen negative Effekte haben? Dann droht die Demokratie in Europa vollends auszuhöhlen

Autoreninfo

Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Wir erleben gegenwärtig einen Machtzuwachs europäischer Institutionen: des Rates, der Eurogruppe und vor allem der Europäischen Zentralbank. Begründet wird der Machttransfer von demokratisch gewählten Institutionen zur demokratisch nur dünn legitimierten Europäischen Zentralbank vor allem mit der Eurokrise. Der Angriff von Hedge Fonds, Versicherungsgruppen, Investmentbanken und anderen Spekulanten auf die Gemeinschaftswährung ließ die Schuldzinsen der südlichen Krisenländer in bedrohliche Höhen schnellen. Es drohte der Währungskollaps ganzer Länder mit unkalkulierbaren Turbulenzen für den gesamten Euroraum.

Dieser verhängnisvollen Spekulationsangriff könne nur noch gestoppt werden, wenn die Europäische Zentralbank die Gesamtgarantie übernehme. So lautete die Argumentation. Die EZB müsse deshalb schnell und diskret reagieren können. Mario Draghi folgte diesem Rezept in einer Stunde, als die maßgeblichen europäischen Regierungen zögerten und versagten – insbesondere die Bundesregierung. Ökonomisch überzeugte das Handeln des europäischen Notenbankchefs, demokratisch war es nicht.

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Dabei wäre es demokratisch geboten, mit jedem Machtzuwachs der EZB auch die demokratischen Mitwirkungs- und Kontrollmöglichkeiten zu stärken. Denn die Krisenakteure greifen tief in die Haushaltspolitik der Mitgliedsstaaten ein: die Europäische Zentralbank über Bondaufkäufe und der ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) über an Sparauflagen geknüpfte Kredite. Die Troika – also die Europäische Kommission, die Europäische Zentralbank und der Internationalen Währungsfonds – segnet all das ab. In diesem Konzert mischt in jüngster Zeit auch die Eurogruppe mit ihrem dilettantisch agierenden Vorsitzenden Jeroen Djisselbloem mit. Keine dieser Institutionen ist in der Vergangenheit wegen ihrer besonderen demokratischen Sensibilität aufgefallen. Ihre Legitimität beziehen sie aus der Expertise – und der unterstellten Fähigkeit, Probleme lösen zu können.

Demütigende Entmündigung

Die Eurokrise hat das Budgetrecht – das vornehmste aller parlamentarischen Rechte – ausgehöhlt. Das gilt schon für die „Geberländer“, in denen die Parlamente die „alternativlose“ Krisenpolitik (Angela Merkel) mehr im Nachhinein ratifizierten als sie vorausschauend zu diskutieren. Für die Schuldnerländer aber bedeutet es eine demütigende Entmündigung demokratischer Selbstbestimmung. Da alle Garantien und Kredite nur unter der strengen Auflage der in Deutschland erfundenen Schuldenbremse gegeben wurden, wird die Haushaltspolitik von Portugal, Irland, Spanien, Griechenland und Zypern auf viele Jahre hinaus von internationalen Finanzinstitutionen und – leider auch – von Deutschland bestimmt.

Vor allem in Südeuropa können die Auswirkungen der von außen verordneten Deflation schon jetzt besichtigt werden. Das wirtschaftliche Wachstum ist dramatisch eingebrochen, die Staatsschulden sind in die Höhe geschnellt und die Arbeitslosigkeit erreicht immer neue Rekordhöhen. In den fünf südeuropäischen Euro-Mitgliedstaaten lag 2012 die durchschnittliche Arbeitslosigkeit bei 17,6 Prozent, in Spanien und Griechenland gar bei 25 Prozent. Die Länder tragen sicherlich auch eigene Schuld: Griechenland ist ein gescheiterter Steuerstaat; Zyperns „Geschäftsmodell“ des Trittbrettfahrens, der Geldwäsche, Niedrigsteuern und eines aufgeblähten Bankensektor ist (glücklicherweise) kollabiert; Spaniens Immobilienblase platzte und in Italien hielten die Produktivitätszuwächse nicht mit den Lohnerhöhungen und Staatsausgaben Schritt.

Seite 2: Die Postdemokratie ist in den Süden Europas eingewandert

Der Euro, der Europa einst zusammen führen sollte, hat Europa heute gespalten. Der (noch) prosperierende Norden steht einem Süden gegenüber, der sich in einer tiefen Wirtschaftskrise befindet. Schlimmer noch, die nördlichen Mitgliedsländer – allen voran Deutschland – diktieren den südlichen Nachbarn die Bedingungen ihrer Politik. Das geht weit über die Finanzpolitik hinaus: Die Sparauflagen berühren die Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik der Südländer auf Jahre hinaus. Gleichzeitig profitieren die Nordländer kurzfristig von der Krise: Finanz- und Humankapital verlässt den Süden und siedelt sich im Norden an. Die Postdemokratie ist in den Süden Europas eingewandert: formale Institutionen der Demokratie wie Wahlen, Parlamente oder Regierungen verkommen in den Schuldnerländern zu bloßen Fassaden, die Politik wird außerhalb der betroffenen Staaten getroffen.

Das alles hat negative Folgen.

Erstens wird die vom Norden verordnete Sparpolitik nicht nur im Süden zu Einbrüchen bei Wachstum, Investition und Beschäftigung führen. Die schrumpfende Nachfrage aus diesen Ländern wird zunehmend auch dem Norden zu schaffen machen. Die außereuropäischen Märkte werden den innereuropäischen Nachfrageverlust längerfristig nicht ausgleichen können. Die Investitionen werden zurückgehen und die Arbeitslosigkeit wieder steigen.

Zweitens werden die Südstaaten nicht ganz zu Unrecht vor allem Deutschland an den Pranger stellen. Die Deutschlandfeindlichkeit sollten wir nicht achselzuckend oder gar arrogant missachten. Am deutschen Sparwesen wird die Europäische Union sicherlich nicht genesen. Irgendwann wird Deutschland auch diese Rechnung präsentiert bekommen – spätestens, wenn es selbst in eine Krise gerät.

Es gibt aber noch ein drittes Problem von Tragweite. Das Demokratiedefizit der Europäischen Union wird sich vergrößern und weitere positive Integrationsschritte in der Zukunft verhindern. Einer Europäischen Union, die mit exekutiven Notstandsverfahren regiert, sollten keine weiteren Kompetenzen gegeben werden. Darauf musste das Bundesverfassungsgericht peinlicherweise den willfährigen Deutschen Bundestag aufmerksam machen.

Technokratie oder Demokratie?

Die Eurokrise war die Stunde der Exekutive. Das Europaparlament blieb außen vor. Die nationalen Parlamente fügten sich ihren Regierungen, die sie mit der undemokratischen Formel der „Alternativlosigkeit“ ihrer Krisenpolitik einschüchterten. Der Chef der europäischen Zentralbank traf ökonomisch richtige Entscheidungen – die in funktionierenden Demokratien aber Parlamenten und Regierungen vorbehalten sein müssen.

Demokratisch gesehen waren die Eurokrise und der Versuch ihrer Bewältigung ein Desaster. Waren sie deshalb aber auch illegitim? Die Frage verweist auf ein generelles Problem in der EU: Darf die seit jeher mangelhafte demokratische Legitimität durch Handlungs- und Problemlösungskompetenz ausgeglichen werden?

Seite 3: Leistung scheint in Europa wichtiger als Legitimation

Die Leistungen der Europäischen Union und ihrer Vorläufer EWG und EG sind imponierend. Die EU hat den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und die Mobilität von Kapital und Arbeitskräften verstärkt. Damit trug sie nicht unerheblich zum europäischen Wohlstand bei, auch wenn es dabei nicht nur Gewinner gegeben hat und die soziale Komponente der EU häufig genug dem neoliberalen Wettbewerbsrecht geopfert wurde. Der historisch unvergleichliche Frieden innerhalb Europas ist auch seiner integrierten Gemeinschaft zu verdanken. Ohne einen Zusammenschluss der europäischen Staaten und Völker könnte Europa seinen Wohlstand auch in der Zukunft nicht halten. In einer globalisierten Welt würde es wettbewerbsunfähig.

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Sollte man Effizienzgewinne mit Demokratieverlusten bezahlen?

Die Leistungs-Legitimation ist in der Europäischen Union stärker ausgeprägt als die  Legitimation durch demokratische Verfahren. Problemlösungsfähigkeit und Effizienz haben aber bisweilen demokratische Kosten. Das gilt insbesondere dann, wenn es um grenzüberschreitende Probleme geht. Jetzt sollte öffentlich darüber nachgedacht werden, ob Krisenlösungen und Handlungsgewinne nicht auch mit Demokratieverlusten bezahlt werden dürfen. Dies kann aber nur vorübergehend geschehen – und muss transparent gemacht werden. Daran hat es bisher gemangelt.

Mit der Eurokrise ist die Demokratie in der Union und ihren Mitgliedsländern auf eine gefährliche schiefe Ebene geraten. Es droht eine weitere Entmachtung der Parlamente und der Bürger: Regierungen entziehen sich der parlamentarischen Kontrolle, internationale Finanzinstitutionen bestimmen die Richtlinien der Politik und die Bürger Südeuropas wenden sich ohnmächtig ab.

Währenddessen erfährt die Kanzlerin wegen ihrer kurzsichtig bornierten Sparpolitik auch noch mehrheitliche Zustimmung von den Deutschen. Die Europäische Union ist aber als technokratische Gemeinschaft unter einem deutschen Praeceptor Europae weder überlebensfähig noch überlebenswert. Diese demokratische Erkenntnis wurde in der Krise vergessen – nicht zuletzt auch unter deutschen Entscheidungseliten.

Wolfgang Merkel ist Direktor am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politische Wissenschaft. Er beschäftigt sich u.a. mit Demokratie- und Gerechtigkeitsfragen

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