Weniger Hausaufgaben, mehr Kreativität? / dpa

Forderung aus Berlin - Schluss mit Hausaufgaben?

Es wäre wahnwitzig, Hausaufgaben generell abzuschaffen. Aber um sinnvolle Hausaufgaben zu erteilen, müsste sich die gesamte Unterrichtskultur verändern. Und zwar im Sinne der „industriekapitalistischen Leistungsgesellschaft“.

Autoreninfo

Miriam Stiehler leitet eine private Vorschule sowie eine Praxis für Förderdiagnostik und Erziehungsberatung. Sie studierte Sonderpädagogik und promovierte in heilpädagogischer Psychologie. Als Dozentin befasst sie sich mit den philosophischen und wissenschaftlichen Grundlagen von Bildung, als Autorin stellt sie auf www.WissenSchaffer.de Fachtexte und systematisch erprobtes Lernmaterial zur Verfügung. Zuletzt von ihr erschienen: „AD(H)S - Erziehen statt behandeln“.

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Letzte Woche meldeten Zeitungen, die Grünen in Berlin wollten die Hausaufgaben abschaffen. Ein Aufschrei in den Kommentarbereichen war die Folge: Auch das noch! So demontiert man den letzten funktionierenden Rest des Schulsystems! Obwohl ich viele Ideen der Berliner Grünen für verblendeten Wahnsinn halte, muss man in diesem Fall jedoch differenzieren. 

Ihr Sprecher Louis Krüger forderte, „Hausaufgaben sollen das im Unterricht Erlernte vertiefen, aber nicht einfach den Unterricht in die Freizeit auslagern. … Daher beantragen wir, dass alle vertiefenden Übungen in der Schule stattfinden.“ Ignorieren wir die Unlogik in diesem Antrag und gehen davon aus, dass er übende Hausaufgaben nicht abschaffen möchte und sich nur gegen die Unsitte richtet, willkürlich neue Inhalte in die Hausaufgaben zu verlagern, dann hätte Herr Krüger einen validen Punkt angesprochen. 

Nicht, weil er in seinem Antrag behauptet, die Hausaufgaben schadeten der Erholung und der Zeit mit der Familie. Wer zig Stunden pro Tag am Smartphone klebt, hat genug Zeit für Erholung. Und Zeit mit der Familie kann für einen Politiker kein Argument sein, der zugleich mehr Ganztagesbetreuung fordert, die der Familie die Kinder vom Halse schafft. Aber Kritik am pauschalen, konzeptlosen Auslagern neuer oder vertiefender Inhalte hat eine gewisse Berechtigung. Unschön für die Grünen ist allerdings, dass dieses Problem eine logische Folge ihrer eigenen Bildungsideologie ist. Lassen Sie mich das erklären.

Nur noch in einfacher Sprache

Basis links-grüner Bildungspolitik ist die Auffassung, die Walter Hornstein 1984 so formulierte: Die „Strukturen und Aufgaben des Bildungswesens“, also auch Hausaufgaben, seien „Ausdruck jener bürokratisch-industriellen Leistungsgesellschaft“, die „radikal abgelehnt wird.“ „Technik und Wissenschaft“ seien „immer schon Herrschaft und Gewalt“. Alles, was an traditionelle Strukturen erinnert, wurde in den folgenden Jahrzehnten in Frage gestellt und bekämpft. Die Mauern am Palast der Bildung wurden geschleift und wir stehen vor seinen Trümmern: 17 Millionen Erwachsene in Deutschland, so lässt die „Tagesschau“ verlauten, sind nicht in der Lage, herkömmliche Nachrichten zu verstehen. Daher gibt es sie nun in einfacher Sprache. 

Mehr als die Hälfte der Schüler mit ausländischen Wurzeln ist nicht ausbildungsfähig und wird aller Voraussicht nach lebenslang vom Rest der arbeitenden Gesellschaft alimentiert werden müssen. Rechtschreibung? Nicht nötig, wir schreiben nach Gehör, denn Orthographie ist Gewalt. Mathematik? Pfui, wer will sich denn ewigen, unabänderlichen Gesetzmäßigkeiten fügen? Das Ideal heißt Pippi Langstrumpf, nicht Old Shatterhand! Wenn ich es so fühle, ist die 12 eine Primzahl, und wer mir widerspricht, muss zumindest eine Triggerwarnung vorausschicken und mir als alternative Leistungserbringung anbieten, die Subtraktion zu tanzen!

Ja, ich übertreibe. Aber wer heute Schulkinder hat, weiß, was ich meine. Nüchtern betrachtet zeigen sämtliche Studien und Forschungen zum Unterricht in Deutschland einen massiven Verlust an Substanz. Die sogenannte „Kompetenzorientierung“ kann nicht verschleiern, dass heutige Schüler sehr wenig Kompetenzen erwerben, wie auch immer man diese definiert.

Wer wenig weiß

Natürlich wirkt sich dies auch auf die Hausaufgaben aus. Übung bedeutet die Wiederholung einer Tätigkeit mit dem Ziel von mehr Leistung pro Zeit einen Text in kurzer Zeit fehlerlos schreiben, schnell korrekt Kopfrechnen, Vokabeln und Grammatik wie im Schlaf beherrschen zu können. Dies wurde erfolgreich als langweilig und altmodisch diskreditiert. Stattdessen seien kreative Anwendungsaufgaben von Nöten. Leider vergaß man, dass wenig anwenden kann, wer wenig weiß. 

Gerade in Mathematik hatte die Kompetenzorientierung den geringsten Erfolg. Jahrzehntelang hatten Schüler gemeckert: „Wozu brauchen wir das denn im Leben?“ Man nahm sich diese Frage nun zu Herzen und ersetzte jene Aufgaben, die ohne konkreten Sachbezug einfach nur dem Erwerb von Routine dienten, durch vielfältige Anwendungsaufgaben. Noch in den 90er Jahren konnte sich ein fleißiger Schüler mit seinem Mathebuch hinsetzen und garantiert Routine im Auflösen von Klammern oder Lösen von Gleichungen erlangen, indem er die vielen Übungen im Buch durcharbeitete. Was ihm das einmal nützen würde, blieb oft unklar. Aber wenn er sich später entschied, Ingenieur zu werden, beherrschte er das nötige Rüstzeug. 

Es fehlt die Routine

Heute enthalten Mathematikbücher keine Aufgabenblöcke mehr, mit deren Hilfe man Routine erlangen kann. Es ist praktisch unmöglich geworden, in einem Schulbuch plus Arbeitsheft genug Aufgaben zu finden, um irgendeine mathematische Fertigkeit „aus dem Effeff“ zu beherrschen. Universitäten müssen nun Vorkurse in Mathematik anbieten, da die Abiturienten nicht das nötige Rüstzeug mitbringen, um Ingenieurswissenschaften zu studieren. 

Aber in der Schule finden 13-Jährige jetzt Aufgaben, die ihnen zeigen, wie sehr man als Verpackungsdesigner auf Mathematik angewiesen ist. Sie dürfen das Netz einer Arzneimittelschachtel mit vier Laschen und drei Klebeflächen berechnen und müssen begründen, welche Vorteile das abgebildete „Netz“ gegenüber anderen denkbaren Möglichkeiten bietet. Nicht, dass sie das könnten, denn für diese komplexen Aufgaben fehlt ihnen eben die Routine. 

Aber die modernen Mathematikbücher nehmen der Frage „Wozu braucht man das?“ den Wind aus den Segeln. Nur leider hat das nicht den gewünschten Effekt, im Gegenteil. Seit diese Veränderungen eingeführt wurden, taucht plötzlich die psychiatrische Diagnose „Mathematikangst“ auf - eine Folge mangelnder Routine, die nun aber zum medizinischen Problem erklärt wird.

Halbherzig deklarativ

Überraschung: Der Vorwurf „Wozu brauche ich das denn?“ war schon immer ein typisches kurzsichtiges Teenager-Argument. Wir Erwachsenen hätten damit leben und geduldig darauf beharren müssen, dass wir besser wissen, wie Mathematik sowohl der Denkentwicklung als auch späteren beruflichen Aufgaben nützt. Denn meckern werden Jugendliche so oder so, Klappern gehört nunmal zum Handwerk. Wir haben ihnen keinen Gefallen damit getan, bewährte Lernwege abzuschaffen, weil sie angeblich gewalttätige Strukturen einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft repräsentieren. 

In den Fremdsprachen ist es ähnlich: Die irrige Annahme, mit vier Wochenstunden Englisch könne man einen „muttersprachlichen Ansatz“ verfolgen und die Schüler würden intuitiv Vokabeln und Grammatik lernen wie ein englisches Baby, das von seiner Mutter Sprechen lernt, hat die Fremdsprachendidaktik ruiniert. Grammatik wird nur noch halbherzig deklarativ vermittelt, obwohl das den kürzesten Weg in eine Fremdsprache darstellt. Vokabeln werden nicht trainiert und schon gar nicht mit Apps, obwohl hier die Digitalisierung endlich einmal Sinn ergäbe.

Angst, Schüler zu stressen

Weil sich der Unterricht in dieser Weise verändert hat, haben wir ein Problem mit den Hausaufgaben. Mehrere Entwicklungen kommen hier zusammen: Erstens sind Übungen, siehe oben, diskreditiert. Sie gelten als überflüssig. Hausaufgaben? Altmodisch. Zweitens werden viele Lehrer mit dem Stoff nicht fertig, weil sie mit ihrem Beruf überfordert sind. Sie haben zu wenig Autorität und verlieren viel Zeit mit Störungen im Unterricht. Sie verschwenden zu viel Zeit mit Online-Quizspielen und YouTube als vermeintlicher Digitalisierung. Sie haben nicht gelernt, hochwertigen Frontalunterricht zu halten, der Schüler fordert. Stattdessen haben sie Angst, ihre Schüler zu stressen. 

An einem mir bekannten Gymnasium z.B. geschah dies: Das Gymnasium organisiert prinzipiell allen Unterricht in Doppelstunden, damit es pro Tag für höchstens drei Fächer Hausaufgaben gibt. Den Junglehrern dort gelang es nicht, eine Doppelstunde lang den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Also beendeten sie den Unterricht nach 60 von 90 Minuten und ließen die Klasse den Rest der Zeit Seifenopern schauen, „weil die Kinder so müde aussahen“. Ein ganzes Schuljahr lang. Disziplinarmaßnahmen durch die Schulleitung blieben aus. 

Eine andere Lehrkraft verteidigte kürzlich in meinem Beisein, dass sie am Tag vor einer Klassenarbeit mit der gesamten Klasse „Mr. Bean“ schaute, statt zu üben: Eine Schülerin trauerte um ihren verstorbenen Hamster, und es sei ein „Gebot der Menschlichkeit“ gewesen, an diesem Tag nicht zu unterrichten. Spätestens seit dem Schulversagen während der Corona-Infektionswelle gilt es als legitim, Schüler daheim konzeptfrei den Stoff „erarbeiten“ zu lassen, den man vormittags nicht bewältigt hat. Das fördere Kreativität und Selbständigkeit, heißt es.

Altmodisches Mathe-Buch / Titze, H., Walter, H., Feuerlein

Drittens: Wer dennoch Übungen als Hausaufgabe stellen möchte, findet wegen der o.g. neuen Machart unserer Schulbücher kaum noch welche. Die wenigen Übungen, die es gibt, sind im Unterricht schnell erledigt. Dann bleibt für die Hausaufgaben nichts anderes als die „vertiefenden Übungen“, die Herr Krügers Fraktion der Grünen nun beklagt. Ich stimme ihm zu, dass bildungsferne Eltern damit überfordert sind. Aber die beklagenswerte Situation ist eine Folge der Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte.

„Kompetenzorientiertes Mathematikbuch“ / Schmid, A., Weidig

Natürlich wäre es wahnwitzig, Hausaufgaben generell abzuschaffen. Ohne Routine benötigt man 50 bis 100 mal so viele kognitive Ressourcen, um eine Aufgabe zu lösen. Das kennt jeder Autofahrer, der sein Können in der dritten Fahrstunde mit seiner Leistung nach 50.000 gefahrenen Kilometern vergleicht. Aber um sinnvolle Hausaufgaben zu erteilen, die dem Training dienen, müsste man die gesamte Unterrichtskultur und die Schulbücher im Sinne der „industriekapitalistischen Leistungsgesellschaft“ verändern.

Louis Krüger fordert auf seiner Website „mehr außerschulische Lernorte“, „mehr Diversität im Team Bildung“, „vollwertiges Kantinenessen“ und den „Abbau von Hierarchien“. Nichts davon wird am Problem etwas ändern. Hilfreicher wäre es, wenn unsere Politiker endlich einmal ihre Hausaufgaben machten.

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Thomas Romain | So., 16. Juni 2024 - 12:28

Wie schon im Artikel angeklungen, ist das Erarbeiten neuer Inhalte in Hausaufgaben sinnlos und (jedenfalls bis zur Oberstufe) nicht altersgerecht.
Das wiederhlote Üben ist wichtig, um Fertigkeiten auszubilden, dass weiss eigentlich auch jeder. Ob das jetzt zu Hause erfolgt, im Unterricht oder Nachmittags in der OGS ist eigentlich zweitrangig.
Dass früher im Schulsystem alles besser war, ist natürlich genauso falsch. Man denke nur an die ersten PISA ERgebnisse in den 90ern.
Generell sollte man sich mal an Ländern orientieren, wo Dinge gut funktionieren. Auch im Schulwesen.

Helmut Bachmann | So., 16. Juni 2024 - 13:11

beehrt uns die Autorin mal wieder mit unbegründeter Arroganz und Einseitigkeit. Der Niedergang der Schulen ist unbestreitbar, das Festhalten an immer schon schlechten Unterrichtsformen, nur weil die vor dem grünlinken Zeitgeist einmal beliebt waren, ist etwas wenig für einen interessanten Artikel. Grammatik soll der kürzeste Weg in eine Sprache sein? Das ist so falsch, dass es schmerzt.

Wer Ganztagesbetreuung als Einrichtung bezeichnet, " die der Familie die Kinder vom Halse schafft" diskreditiert sich in nicht unerheblichem Maße selbst. Dass Grammatik für Kinder der kürzeste Weg zum Fremdsprachenlernen sein soll, geht in die gleiche Richtung.
Das eigentliche Problem der Hausaufgaben hingegen wird nicht erwähnt: Für Kinder aus bildungsfernen Familien vergrößert sich die kluft zu Kindern, die zuhause Unterstützung erfahren. Letztere nämlich haben kein Problem mit Hausaufgaben.

Wilhelm Keyser | Mo., 17. Juni 2024 - 12:02

Antwort auf von Alice Friedrich

Letztlich geht es wieder nur um Gleichmacherei "nach unten", Orientierung an den schwächeren bzw. mit unvorteilhaftem Lernumfeld versehenen Schülern zum Nachteil der "besseren". Aufgrund der unfassbar hohen Migrantenquoten und dem ebenso unfassbaren Verzicht auf verpflichtendes, auch mit Sanktionen und Leistungskürzungen o.ä. durchzusetzendem Deutschlernen findet die Negativnivellierung ohnehin schon statt. Das sollte nicht noch formal abgesegnet bzw. zementiert werden!

Walter Bühler | So., 16. Juni 2024 - 17:51

Wenn man wissen will, welche Vorstellungen über das Leben der Berliner Jugend in inks-grün-queeren Kreisen gepflegt werden, dann muss man sich einige Folgen der Daily Soap "Berlin - Tag & Nacht" bei RTL+ ansehen.

Man begreift dann ohne weiteres, dass derart lebende Jugendliche mit Hausaufgaben wirklich nichts anfangen können. In diesen Filmchen ist denn aucch die Berliner Schule alles mögliche, nur kein Ort des Lernens.

Natürlich gibt es auch in Berlin vieleJugendliche, die völlig anders leben als die fiktiven Gestalten der Daily Soap.

Leider kann es aber trotzdem sein, dass grüne Bildungspolitiker ihr Wissen über Jugend und Schule nur aus solchen TV-Soaps oder aus solchen "communities" beziehen.

Außerdem ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich grüne Bildungspolitiker in ihrer eigenen Schulzeit häufig mit Hausaufgaben überfordert waren, und ohnehin grundsätzlich mit allem, was nach Leistung richt, auf Kriegsfuß stehen.