Madonna
Die Pietà des italienischen Künstlers Michelangelo ist im Petersdom in Rom zu sehen / dpa

Weihnachten und „Heiliges Jahr“ - Das Schöne und das Wahre

Wir alle sind vom Anspruch, moralisch perfekt zu sein, rettungslos überfordert. Da könnte die christliche Sicht des Menschen helfen, weil sie alle Menschen als Sünder versteht, die auf die Gnade Gottes angewiesen sind. Das sorgt für moralische Entlastung.

Lütz

Autoreninfo

Manfred Lütz ist Psychiater und Psychotherapeut sowie katholischer Theologe. Zuletzt ist von ihm erschienen: „Der Sinn des Lebens“.

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„Heute ist euch der Erlöser geboren, Christus der Herr“. Das ist die Weihnachtsbotschaft der Engel. Doch der Gedanke, dass Menschen fehlbar sind und daher letztlich nur Gott sie erlösen kann, erscheint gerade heute besonders befremdlich, wo Religion weitgehend durch Moral ersetzt ist. Das Gute, so scheint es, hat in der allgemeinen Wertschätzung den Sieg über das Wahre und das Schöne davongetragen. Die öffentlichen Debatten werden beherrscht von lärmenden moralischen Kommentaren, die in gefährlicher Weise die dringend erforderlichen Sachdebatten völlig überlagern oder gar komplett ersetzen. Da wechselt die persönliche moralische Diskreditierung der anderen Seite ab mit der Stilisierung der eigenen Position als moralisch absolut geboten.

In Wahrheit sind wir natürlich alle vom Anspruch, immer moralisch perfekt zu sein, rettungslos überfordert. Da könnte die christliche Sicht des Menschen hilfreich sein, weil sie alle Menschen als Sünder versteht, die auf die Gnade Gottes angewiesen sind. Das sorgt für moralische Entlastung. Sogar veritable christliche Heilige beklagten oft freimütig ihre moralischen Defizite. Aus dieser Sicht verbietet sich jede Selbstgerechtigkeit und die hemmungslose moralische Verdammung anderer Menschen. Ohnehin verstanden sich Kirchen ursprünglich nicht als Moralanstalten, sondern als Heilsanstalten, also Institutionen, die den Menschen Hoffnung, Heil und Sinn zusprechen. Wenn sie bloß noch wortreich allgemeine moralische Imperative christlich paraphrasierten, machten sie sich überflüssig.

Wenn er es für wahr hält, ist er Christ

Wenn es gelänge, die unselige Moralisierung zu überwinden, könnte das Schöne und das Wahre wieder in den Vordergrund treten, das dem Leben Sinn verleiht und das die Griechen noch vor dem Guten verehrten. Tatsächlich ahnen Menschen auch heute noch in Musik und Kunst das, was ihrem Leben Sinn gibt. Der gregorianische Choral, ein geistlich tiefer Gottesdienst, die neu erstandene Kathedrale Notre Dame in Paris sind Triumphe des Schönen und können vielen wieder einen Zugang zu den eigentlichen Quellen des christlichen Glaubens verschaffen. Wer das „Laudate Dominum“ aus den Versperae solennes de confessore von Wolfgang Amadeus Mozart hört, der kann Ewigkeit erleben, einen Moment, der die Zeit sprengt, in der er diese himmlischen Klänge wahrnimmt. 

Sogar Herbert Schnädelbach, der jüngst verstorbene bekennend atheistische Philosoph schrieb, er könne die „Matthäuspassion“ von Bach nicht hören, ohne dass ihm die Tränen kämen, aber er könne nun mal nicht glauben – was die Frage aufwirft, welch unsinnliches Glaubensverständnis er gehabt haben mag. Elke Heidenreich beschreibt ein ganz ähnliches Erlebnis, als sie als 16-Jährige erstmals die „Pietà“ von Michelangelo im Petersdom sah. Sie sei vor Erschütterung in Tränen ausgebrochen, es sei das größte Kunsterlebnis ihres Lebens gewesen, schreibt die 80-Jährige. Tatsächlich mag es sein, dass ein für Kunst sensibler Atheist, der sich einige Stunden lang verständig die „Pietà“ anschaut, Christ wird, ganz ohne Text. 

In den schweren Gewandfalten unten kann er noch all das Leid dieser Mutter ahnen, je mehr der Blick aufwärts geht, werden die Falten ruhiger und beim Angesicht Mariens angekommen, kann er sehen, wie sie ganz leicht und anmutig lächelt: eine Mutter, die lächelt angesichts der Leiche ihres Sohnes, die auf ihrem Schoß liegt. Dieses berührende Lächeln kann man nur verstehen, wenn diese Mutter wirklich an die Auferstehung glaubt, und mit der anmutigen Geste der linken Hand lädt sie uns alle ein, das auch zu glauben. Wem selbst gerade der Tod einen geliebten Menschen entrissen hat und er betrachtet die „Pietà“, steht vor der Entscheidung, dieses Lächeln entweder für Wahnsinn zu halten oder für wahr. Wenn er es für wahr hält, ist er Christ.

Hoffnung auf göttliche Erlösung

Die „Pietà“ im Petersdom ist die einzige Skulptur, die Michelangelo vollendet und signiert hat und tatsächlich erscheint der Leib Christi von geradezu göttlicher Schönheit. Hier kann man Menschwerdung, Fleischwerdung Gottes buchstäblich sehen. Menschwerdung Gottes – Weihnachten, Auferstehung – Ostern, alles andere im Christentum ist nebensächlich. Auf diese Weise kann Schönheit, kann große Kunst den Blick auf die Wahrheit öffnen, von der selbst in der Kirche kaum noch die Rede ist, obwohl die Überzeugung, dass es Wahrheit gibt, in Zeiten unendlicher fake-news höchst aktuell wäre. 

Friedrich Nietzsche, der an seinem eigenen unsinnlichen Christentumsbild verzweifelte, wusste noch, „daß auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist ...“

Die Wahrheit, der Sinn des Lebens, können uns tragen, die Schönheit uns erheben, damit wir an unserer moralischen Unzulänglichkeit nicht immer wieder verzweifeln. „Die Christen müssten mir erlöster aussehen“ hat Friedrich Nietzsche zu Recht gefordert. Wenn Menschen davon entlastet sind, sich selber erlösen zu sollen, wenn also Gott erlöst, wie die Weihnachtsbotschaft sagt, dann können sie zwar nicht lässiger, wohl aber gelassener mit Moral umgehen. Dann können sie Hoffnung auf göttliche Erlösung von eigener Schuldhaftigkeit haben. 

Innehalten, einen Neuanfang machen

Darauf zielt das „Heilige Jahr“ ab, das Katholiken alle 25 Jahre begehen und das Papst Franziskus am 24. Dezember eröffnen wird. In diesem Jahr sind Christen aufgefordert, innezuhalten, einen Neuanfang zu machen, mithilfe der Gnade Gottes ihre Sünden hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen. Dazu soll eine Wallfahrt nach Rom dienen – oder etwas Vergleichbares. Ich selber habe es mir auferlegt, in einem solchen Jahr allen Menschen, mit denen ich aus irgendwelchen Gründen den Kontakt abgebrochen habe, ein Gespräch anzubieten. Das war beim letzten Mal zwar ziemlich mühsam, aber im Ergebnis unglaublich befreiend.

Moralische Beurteilungen von Menschen sind aus christlicher Sicht gefährlich. In der Bibel weist Jesus darauf hin, dass es am Jüngsten Tag eine Art Computerfehler geben wird und in alle Beurteilungen anderer Menschen durch uns wird dann unser eigener Name eingesetzt („so wie ihr jetzt andere richtet, werdet auch ihr gerichtet werden“). Das könnte unangenehm werden. Deswegen sollte man definitive Urteile über Menschen am besten dem lieben Gott am Jüngsten Tag überlassen.

Auf diese Weise könnte der Umgang mit Menschen anderer Meinung – auch in der Politik - menschlicher ausfallen, und vielleicht auch der Umgang mit den Fehlleistungen von Kirchenleuten, von denen wir uns nicht unser Christentum rauben lassen sollten. Es gehört diesen Leuten nicht, es gehört uns allen, sogar dem ungläubigen Samariter, wie Jesus selber betont, der nicht über Moral spricht, sondern moralisch handelt. In diesem Sinne: Frohe Weihnachten, all ihr Ungläubigen und ihr Gläubigen!

 

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