- Nicht aus heiterem Himmel
Kolumne Grauzone. Wir leben nicht erst seit letzter Woche in Zeiten des Terrors. Doch Hysterie ist ein schlechter Ratgeber. Der Größenwahn des „Islamischen Staates“ ist zwar bedrohlich, jedoch mangelt es den Terroristen an Logistik
So richtig in seinem Element ist der moderne Deutsche, wenn er hysterisch sein darf, wenn der Weltuntergang droht und an die verträumte Welt bundesrepublikanischer Harmoniesucht blutig die Realität pocht. Dann gibt es kein Halten mehr. Dann wird getrauert, was das Zeug hält, dann werden Kerzen angezündet und Plüschtiere abgelegt, dann suhlt man sich in seiner Betroffenheit: Dann ist man hierzulande ganz bei sich.
Auf der Strecke bleibt dabei naturgemäß die Rationalität, der kalte Verstand. Der müsste einem sagen, dass die Anschläge von Paris so wahnsinnig überraschend und so unglaublich unfassbar nun auch wieder nicht waren. Spätestens seit dem 11. September 2001 sollte auch dem Letzten klar geworden sein, dass die westliche Welt akut bedroht ist. In Gestalt des militanten Islamismus ist ihr spätestens seit den 70er Jahren ein Gegner erwachsen, der herkömmliche Grenzen der Gewaltanwendung nicht kennt, sondern bereit ist, auch unter Selbstopfern maximalen Schaden anzurichten.
Madrid 2004, London 2005, „Charlie Hebdo“, der Anschlag auf die Metrojet-Maschine, aber auch die Terrorakte in Mumbai 2008 und in Tunesien im Frühjahr – um nur diese Anschläge zu nennen – sollten klar machen, dass es die westliche Welt mit einem brutalen, entschlossenen Gegner zu tun hat.
Zeiten des Terrors
Insofern kamen die Anschläge in Paris nicht aus heiterem Himmel. Sie waren nicht einmal besonders originell und auch nicht besonders minutiös geplant, sondern unterlagen der Logik des islamistischen Terrors. Wer angesichts dieser Anschläge von einer Zeitwende faselt und davon, dass nun nichts mehr ist wie zuvor, muss sich ernsthaft fragen lassen, in welcher Welt er in den letzten Jahren gelebt hat.
Tatsache ist: Wir leben in Zeiten des Terrors. Dass in Europa bisher nur alle paar Jahre ein größerer Anschlag stattgefunden hat, liegt nicht an mangelnder Entschlossenheit der Terroristen, sondern an ihrem bisherigen Unvermögen, eine dichte Abfolge solcher Gewaltexzesse zu organisieren.
Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Frequenz nimmt zu. Dass es Deutschland treffen wird, ist keine Frage des Ob, sondern des Wann. Wirklich schützen können wir uns davor nicht. Fußballstadien lassen sich zur Not in Festungen verwandeln, Weihnachtsmärkte nicht. Es ist kein Fatalismus, sondern nackter Realitätssinn, nüchtern das Schlimmste einzukalkulieren.
Ebenso rational wie die Gefährdungslage sollte auch der Gegner beurteilt werden. Die bisherigen Anschläge in Europa waren vor allem brutal, aber nicht brillant. Die Logistik, um unter dem herrschenden Beobachtungsdruck Europa in schneller Folge mit einer Serie von Terrorakten zu überziehen, fehlt offensichtlich.
Terror von Größenwahn und Selbstüberschätzung
Der IS versucht sich in einer Doppelstrategie – Terrororganisation im Westen, Guerillakrieg in seinen Kerngebieten. Letzterer ist bei weitem nicht so erfolgreich, wie er auf den ersten Blick erscheint. Insgesamt umfasst die Organisation maximal 30.000 Kämpfer. Damit ein Gebiet von geschätzten 300.000 Quadratkilometern zu beherrschen, ist unmöglich. Die Stärke des IS ist sehr punktuell. Im Irak wurde der IS stark zurückgedrängt. Und auch in Syrien musste er in den letzten Wochen erhebliche Rückschläge einstecken.
Niederlagen verkraften Organisation wie der IS, die mehr von ihrem Nimbus leben als von ihren faktischen Möglichkeiten, jedoch schlecht. Sehr wahrscheinlich, dass die Pariser Anschläge ein Ablenkungsmanöver von den militärischen Problemen in Syrien und im Irak waren. Und: Der IS leidet an Selbstüberschätzung. Wer sich mit Russland, China, den USA, Großbritannien und Frankreich gleichzeitig anlegt, ist größenwahnsinnig.
Deutsche Bodentruppen gegen den IS
All das bedeutet selbstredend nicht, die drohende Gefahr auf die leichte Schulter zu nehmen. Im Gegenteil. Zu der von vielen bisher beschönigten Realität gehört auch: Der IS gehört nicht irgendwie „eingedämmt“ oder „zurückgedrängt“, sondern vernichtet. Hört sich hässlich an, ist aber unabdingbar. Diese Zerstörung erreicht man nicht mit Luftschlägen, sondern nur mit Bodentruppen. Dazu werden früher oder später auch deutsche Bodentruppen gehören.
Doch das Ende des IS wird nicht das Ende des militanten Islamismus' sein. Danach folgt die zweite, weitaus schwierigere, politische Phase. Die beginnt damit, dass im Nahen Osten dringend flächendeckend staatliche Strukturen geschaffen werden. Dabei wird man auch mit Leuten zusammenarbeiten müssen, die nicht in dem Verdacht stehen, morgen einen Menschenrechtspreis zu gewinnen.
Innenpolitisch, auch das sagt einem der Realitätssinn, ist der militante Islamismus ein nachgeordnetes Problem. Vorgelagert ist der nichtmilitante, durchaus gewaltfreie, aber erzkonservative Islam, dem im Namen eines missverstandenen Pluralismus’ mehr und mehr Freiräume zugestanden werden. Es ist genau dieser antiliberale konservative Islam, der den kulturellen Nährboden bereitet für die Verachtung und den Hass auf den „dekadenten“ Westen. In Deutschland muss man sich schleunigst aus den hausgemachten Denkblockaden befreien.
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