- Transit-Zentrum zwischen Ost und West
Die regierende Partei „Georgischer Traum“ hat die EU-Beitrittsgespräche bis 2028 ausgesetzt. Tausende Georgier protestieren dagegen. Doch auch wenn die Regierung als russlandfreundlich gilt, braucht Georgien die Europäische Union nach wie vor als Quelle des Wirtschaftswachstums.
Im Dezember 2023 gewährte der Europäische Rat Georgien den offiziellen Kandidatenstatus für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union – ein Ergebnis, das von großen Teilen der Bevölkerung und den aufeinanderfolgenden prowestlichen Regierungen in Tiflis lange Zeit befürwortet wurde. Doch vorige Woche setzte die regierende Partei „Georgischer Traum“ die Beitrittsgespräche bis 2028 aus. Bis zu 200.000 Georgier gingen auf die Straße, um sich an den Protesten zu beteiligen, die sich von Tag zu Tag intensivierten; nach Angaben der Regierung wurden mehr als 200 Demonstranten festgenommen. Rund 100 Mitarbeiter des Außenministeriums und Vertreter von mehr als einem Dutzend Unternehmen unterzeichneten einen Brief an den Premierminister, in dem sie die Entscheidung zum Abbruch der Verhandlungen verurteilten.
Die Proteste sind nur die jüngste Episode in einer seit langem andauernden Auseinandersetzung zwischen dem „Georgischen Traum“, angeführt von Premierminister Irakli Kobachidse, und der Opposition, angeführt von Präsidentin Salome Surabitschwili. Jeder hat seine eigene Vorstellung von der georgischen Außenpolitik – die Opposition ist pro-westlich, während die Regierungspartei einen multisektoralen Ansatz bevorzugt, den manche als zu russlandfreundlich bezeichnen. Aber der eigentliche Riss entstand nach der Verabschiedung des „Gesetzes über ausländische Agenten“. Es verpflichtet zivilgesellschaftliche Gruppen wie Medienagenturen und Nichtregierungsorganisationen, die mehr als 20 Prozent ihrer Mittel aus dem Ausland erhalten, sich als Agenten einer ausländischen Macht registrieren zu lassen, sich strengen Prüfungen zu unterziehen oder Strafmaßnahmen zu ergreifen. Kritiker sahen darin eine Möglichkeit für die neu gewählte Regierung, an der Macht zu bleiben, indem sie die Kontrolle über die Medien verstärkt. Die Vereinigten Staaten und die Europäische Union haben wiederholt die Aussetzung des Gesetzes gefordert.
Die Opposition weigerte sich, das Wahlergebnis anzuerkennen
Die Spannungen innerhalb der Regierung nahmen nach den Parlamentswahlen im Oktober zu, bei denen der „Georgische Traum“ rund 53 Prozent der Stimmen erhielt. Die Opposition weigerte sich, die Ergebnisse als rechtmäßig anzuerkennen. Die EU stimmte dem zu und verabschiedete am 28. November eine Resolution, in der sie eine Neuwahl forderte und Sanktionen gegen Kobachidse und andere hochrangige Beamte vorschlug. In diesem Sinne kann die Aussetzung des Dialogs mit der EU als eine Form der politischen Vergeltung betrachtet werden.
Geopolitisch gesehen gibt es Grund zu der Annahme, dass Georgien den seit Jahren eingeschlagenen Kurs beibehalten könnte. Selbst wenn die derzeitige Regierung, wie von vielen behauptet, Russland übermäßig wohlgesonnen ist, muss sie erst noch versuchen, die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zu Russland zu stärken, da dies gleichbedeutend damit wäre, seine Souveränität aufzugeben und sich den Launen Moskaus zu unterwerfen. Georgien braucht die EU nach wie vor als Quelle des Wirtschaftswachstums und der Diversifizierung der Beziehungen, zumal das georgische Territorium auf dem besten Weg ist, als Transitzentrum zwischen Ost und West an Bedeutung zu gewinnen. Kobachidse selbst sagte, er bleibe dem Kurs der europäischen Integration treu und versprach, dass Tiflis, sobald Georgien 90 Prozent seiner Verpflichtungen aus dem EU-Assoziierungsabkommen und dem Abkommen über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone erfüllt habe – beides bis 2028 –, erneut die Frage der Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen aufwerfen werde.
Bald wird Georgien mehr Möglichkeiten haben, günstigere Bedingungen mit der EU auszuhandeln
Die Zeit wird zeigen, ob er es wirklich so meint, aber seine Erklärung lässt zumindest vermuten, dass Georgien trotz aller Unkenrufe die EU nicht ganz aufgeben kann. Es wäre auch nicht einfach, dies zu tun, selbst wenn es dies wollte. Der EU-Beitritt ist für Georgien eine Priorität, seit es die Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangt hat, und die russische Invasion im Jahr 2008 machte die Mitgliedschaft umso dringlicher. Im Jahr 2014 ging der Premierminister sogar so weit zu sagen, dass Georgien innerhalb von fünf bis zehn Jahren Vollmitglied der EU werden könnte. All dies hat dazu geführt, dass der EU-Beitritt in der Bevölkerung auf große Zustimmung stößt. Anfang 2023 ergab eine landesweite Umfrage des Internationalen Republikanischen Instituts, dass 89 Prozent der Georgier den EU-Beitritt befürworten und die Mehrheit die Europäische Union auch als politischen Partner Georgiens betrachtet. Ein Ausstieg aus dem Projekt wäre wahltechnisch gesehen Selbstmord.
Brüssel hat seinerseits noch keine endgültige Entscheidung über seine Beziehungen zu Georgien getroffen, aber die Tür offen gehalten, indem es erklärte, dass die Beitrittsgespräche unter bestimmten Bedingungen wieder aufgenommen werden könnten – das heißt, sobald die Regierung ihren demokratischen Rückzug korrigiert und auf Handlungen verzichtet, die den Grundsätzen und Bedingungen der EU-Mitgliedschaft widersprechen. Dies gibt den verschiedenen Fraktionen in Tiflis politischen Spielraum. Der Parlamentspräsident hat beispielsweise erklärt, dass die verschiedenen Handelsbeschränkungen Georgiens der Wirtschaft des Landes einen schweren Schlag versetzen könnten, wenn es heute der Europäischen Union beitreten würde.
Damit könnte er sogar Recht haben. Während des Ukrainekriegs hat sich Georgien zu einem wichtigen Transitknotenpunkt zwischen China und Zentralasien sowie Europa entwickelt, und obwohl Tiflis nie „nie“ zur EU sagen kann, wird das Land bald weitere Interessenten für den Handel haben, wenn es das nicht schon tut. Und wenn dies der Fall ist, wird Georgien mehr Möglichkeiten haben, günstigere Bedingungen mit der EU auszuhandeln.
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Bekanntes Drehbuch, Maidan 2014 jetzt Tbilissi 2024. Was mich irritiert ist der Fakt, das Wahlen wenn sie nicht wie gewünscht ausgehen, gefälscht, ungültig sind und an allem Putin Schuld ist.
Russland ist nun mal der Nachbar Georgiens und die georgischen Weinsorten sind dort bekannter und im Zwischenhandel ( Sanktionsumgehung) lässt sich auch etwas verdienen. Alles verständlich.
Welches Interesse hat die EU, gegen „Gesetze über ausländische Agenten“ zu sein? Will man ggf. selbst über NGOs Einfluss auf die Politik eigenständiger, nicht EU-Länder nehmen? Macht die EU damit das, was sie Russland vorwirft? Warum sonst diese Abwehr der finanziellen Offenlegung (nicht Verbot)?
Würde ein EU-Beitritt von Georgiens Bevölkerung ebenfalls so herbeigesehnt werden, wenn keine EU-Hilfen damit verbunden wären, wenn es NUR um den Abbau von z. B. Zöllen ginge?
Würde dem EU-Beitritt auch eine NATO-Mitgliedschaft folgen? Dann wäre Russland von EU und NATO „eingekreist“, von Finnland im Norden über die Baltischen Länder, Polen, Slowakei, Ungarn bis Rumänien und künftig noch Ukraine und Georgien. Hat Russland noch eine realistische Chance, sich gegen einen Überfall der NATO – was nie geschehen würde – zu wehren? Man sehe die Probleme beim Überfall auf die Ukraine – ohne Nato-Kriegseintritt! Auch hier: Macht die EU (mit Geld), was man Russland (mit Waffen) vorwirft?
Es sind natürlich ebenso wechselhafte wie unschöne Verhältnisse in Georgien. Mir fällt immer wieder auf, wie m.E. unprofessionell vor allem die EU-Granden damit umgehen. Mein Eindruck ist: Nachdem die EU-Zustimmung in Kerneuropa und vor allem auch unter den jünger beigetretenen Mitgliedstaaten kippt, geht es ihnen in Georgien nicht zuletzt darum, die zunehmend ausbleibende, vermisste Anerkennung für "ihre" Teuronen, Aussicht auf EU-Mitgliedschaft, weitere Teuronen etc. zu bekommen.