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"Eine List der Vernunft"
Jürgen Habermas sieht Europa in einer Sackgasse. Der monetären Einigung müsse endlich die politische folgen. Dieser Prozess sei gefährdet durch die um sich selbst kreisende Mentalität einer selbstzufriedenen Politikergeneration, so der Philosoph.
Unter dem Titel „Ach, Europa“ haben Sie 2008 in Deutschland ein Buch veröffentlicht, das in Großbritannien mit dem Untertitel: „Das taumelnde Projekt“ erschien. Sehen Sie sich angesichts der griechischen Schuldenkrise in Ihren Befürchtungen bestätigt? Taumelt das Projekt nur, oder ist es nicht schon fast gescheitert?
Die Schuldenkrise Griechenlands hat einen politisch wünschenswerten Nebeneffekt. Ich kann mich nicht erinnern, dass in der überregionalen Presse, und nicht nur in den Wirtschaftsteilen, über Zukunft und existenzielle Bedeutung der Europäischen Union je so anhaltend und lebhaft debattiert worden ist. Diese Diskussion trifft die Union in einem ihrer schwächsten Augenblicke, lenkt aber die Aufmerksamkeit auf das tiefer liegende Problem, das viele für den Geburtsfehler einer unvollendeten, auf halbem Wege stecken gebliebenen politischen Union halten. In einem Wirtschaftsraum von kontinentalem Ausmaß und riesiger Bevölkerungszahl ist ein gemeinsamer Markt mit teilweise gemeinsamer Währung entstanden, ohne dass auf europäischer Ebene Kompetenzen eingerichtet worden sind, die die Wirtschaftspolitiken der Mitgliedstaaten wirksam koordinieren könnten. Es ist eine List der Vernunft, dass die Schuldenkrise und der wackelnde Euro die Kernfrage wenigstens berühren: Genügen Reparaturen an einem durchlöcherten Stabilitätspakt, um die unerwünschten Folgen einer gewollten Asymmetrie zwischen ökonomischer und politischer Einigung auszubalancieren? Es geht doch, wie der Zusammenbruch des spanischen Baumarktes zeigt, nicht nur um griechische Schummeleien. Der Währungskommissar Olli Rehn fordert für die Europäische Kommission aus guten Gründen Eingriffs- und Mitspracherechte bei den nationalen Haushaltsplanungen.
Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble meinte, die Eurozone sollte in der Lage sein, ihre eigenen Probleme ohne fremde Hilfe zu lösen. Er hat die Gründung eines Europäischen Währungsfonds angeregt, der fremde Hilfen in künftigen Krisen überflüssig machen würde. Ist das machbar oder wünschenswert? Könnte Europa wirklich die Verwüstungen eines spekulativen Kapitalismus abwehren, die Griechenland in den Staatsbankrott zwingen und die Eurozone zu zerstören drohen? Oder bietet der Internationale Währungsfonds (IWF) eher die Gewähr, dass dies gelingt?
Die aktuelle Gefährdung des Euro wirft Licht auf ein grundsätzliches Problem, weil sie in den Konsequenzen den alten Konflikt zwischen den „Integrationisten“ und, sagen wir, den „Markteuropäern“ berührt. Der Europäische Rat hatte ja schon unter Führung des Präsidenten Herman Van Rompuy eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um Vorschläge für eine Vorsorge gegen künftige Staatsbankrotte auszuarbeiten. In diesen Diskussionen werden Schäubles Überlegungen ebenso eine Rolle spielen wie die Forderung der Kommission, auf die Haushaltsplanung der Mitgliedstaaten Einfluss zu nehmen. Man darf sich über die Zweideutigkeit dieser Vorstöße nicht täuschen. Die vordergründige Absicht zielt nur auf die zuverlässigere Einhaltung des Stabilitätspaktes. Andererseits können die verstärkten Kontrollrechte, die mit einer Kreditvergabe oder mit erweiterten Kompetenzen der Kommission verbunden wären, auch als Einstiegsdroge für eine Eurozonen-Wirtschaftsregierung verstanden werden. Wolfgang Schäuble hat Anfang der neunziger Jahre schon einmal die Idee eines „Kerneuropa“ lanciert. Und wenn der EU-Finanzkommissar die Haushaltsplanungen der Mitgliedstaaten sehen möchte, bevor sie den nationalen Parlamenten vorgelegt werden, ist das keine Frage des besseren Managements mehr. Das Haushaltsrecht des Parlaments ist der Kern der Demokratie. Sobald die Rechte der nationalen Parlamente ausgehöhlt werden, ist eine entsprechende Erweiterung der Rechte des Straßburger Parlaments fällig. Der inzwischen aufgespannte „Rettungsschirm“ für den Euro zeigt, dass diese Überlegungen nicht aus der Luft gegriffen sind. Die Tatsache, dass die Steuerzahler der Eurozone gemeinsam für die Haushaltsrisiken jedes einzelnen Mitgliedstaates haften, muss für die Legitimation entsprechender Beschlüsse Konsequenzen haben. Eine weitere „Vertiefung“ der europäischen Institutionen ist unvermeidlich.
Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte im Bundestag, die bestehenden EU-Regeln seien nicht streng genug, um die gegenwärtige, von Griechenland ausgelöste Krise zu meistern, und dass es unter Umständen notwendig werden könnte, ein Land aus der Eurozone herauszuwerfen. Hat sie recht? Was wären die Konsequenzen, wenn zum Beispiel Griechenland aus der Eurozone ausgeschlossen würde? Was hätte dies für Folgen für das europäische Projekt?
Mit einem derart unsolidarischen Vorgehen wäre wohl das ganze Projekt geplatzt. Zwar machte Angela Merkel diese Äußerungen vor der wichtigen Wahl in Nordrhein-Westfalen für den innenpolitischen Hausgebrauch. Aber dass sie für das desaströse Echo in den anderen Mitgliedstaaten kein Gespür hat, zeigt besser als alles andere die neue Indifferenz der neuen Bundesrepublik. Merkel ist ein Beispiel dafür, dass „Bauchpolitiker, die bereit waren, für Europa innenpolitische Risiken einzugehen, eine aussterbende Gattung sind“. Das sagt Jean-Claude Juncker, selbst einer der letzten proeuropäischen Dinosaurier. Gewiss, Angela Merkel ist in Ostdeutschland aufgewachsen, und der Rheinländer Jürgen Rüttgers würde nicht so reden wie sie. Aber die deutsche Hartleibigkeit hat tiefere Wurzeln. Abgesehen von einem bald ermüdeten Joschka Fischer, regiert seit dem Amtsantritt von Gerhard Schröder eine Generation in Deutschland, die eine national nach innen gekehrte Politik betreibt. Ich will die Rolle Deutschlands in Europa auch nicht überschätzen. Aber für Europa ist der Bruch der Mentalitäten, der nach Helmut Kohl eingesetzt hat, von erheblicher Relevanz.
Was sind die Ursachen für diesen Bewusstseinswandel?
In der Konstellation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag die behutsam vorangetriebene europäische Einigung im Interesse eines Landes, das nach den Enthüllungen über den Holocaust, nach den Massenverbrechen des eigenen Regimes in den Kreis der zivilisierten Völker zurückkehren wollte. Die Westdeutschen schienen sich mit der nationalen Teilung ohnehin abfinden zu müssen. Ihnen konnte es in Erinnerung an ihre nationalistischen Exzesse nicht schwerfallen, auf Souveränitätsrechte zu verzichten und erforderlichenfalls Vorleistungen zu erbringen, die sich sowieso für die Bundesrepublik auszahlen würden. Seit der Wiedervereinigung hat sich diese Perspektive verändert. Allmählich genießen die deutschen Eliten wieder selbstzufrieden ihre nationalstaatliche Normalität. Wir können wieder so sein wie die anderen! Ich fürchte nicht wie einst Margaret Thatcher, dass mit dieser „Normalisierung“ des öffentlichen Bewusstseins alte Gefahren wiederkehren. Aber verschwunden ist die Bereitschaft eines gründlich besiegten Volkes, schneller zu lernen. Die um sich selbst kreisende Mentalität eines selbstzufriedenen Kolosses in der Mitte Europas ist nicht einmal mehr ein Garant dafür, dass die EU in ihrem schwankenden Status quo erhalten bleibt.
Ist also das Festhalten an der Eurozone weiterhin wichtig für die Zukunft Europas als eines politischen Projekts?
Die ökonomische Einigung ist der Kern der politischen. Auf dem Kontinent haben wir diese Erfahrung während des 19. Jahrhunderts schon bei den nationalen Einigungsprozessen gemacht. Allerdings ist die europäische Einigung bisher ein Elitenprojekt geblieben. Bis heute haben wir keine europäische Wahl gehabt, in der über etwas anderes als über nationale Themen und Tickets entschieden worden ist. Bis zum Vertrag von Maastricht war der Einigungsprozess auch von der Schubkraft ökonomischer Interessen angetrieben worden. Seitdem damals die Interessen der „Markteuropäer“ befriedigt worden sind, sind die ökonomischen Antriebskräfte für eine weitere Vertiefung des institutionellen Zusammenhangs erlahmt. Die Osterweiterung der Union war eine große historische Leistung. Aber sie hat uns an die Grenzen eines elitären, über die Köpfe der Bevölkerungen hinweg betriebenen Politikmodus geführt. Die in höchster Not vorgenommenen Reparaturarbeiten des Vertrages von Lissabon sind mit dem Verzicht auf eine weiter gehende politische Integration erkauft worden. Die Finanzkrise hat die nationalen Egoismen noch verstärkt und merkwürdigerweise die neoliberalen Grundüberzeugungen unter den Hauptakteuren nicht wirklich erschüttert. Heute steckt das europäische Projekt zum ersten Mal in einer Sackgasse.
Und wie könnte es aus dieser Sackgasse wieder herauskommen?
Stellen wir uns demgegenüber das unwahrscheinliche Szenario einer wirksamen Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in der Eurozone vor. Diese müsste eine Politikverflechtung auf anderen Sektoren nach sich ziehen. Dann könnte ein bisher eher administrativ vorangetriebenes Projekt auch in den Köpfen und Herzen der nationalen Bevölkerungen Wurzeln schlagen. Die Symbolkraft einer gemeinsamen Außenpolitik würde beispielsweise das Bewusstsein stärken, über nationale Grenzen hinweg dasselbe politische Schicksal zu teilen; und das würde wiederum eine weitere Demokratisierung der Union – zunächst im Kern Europas – erleichtern.
Das Gespräch führte der britische Publizist Stuart Jeffries
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