Ulrike Moser stellt Neuerscheinungen vor / dpa

Moser liest - Entfremdung, Zerstörung, Ohnmacht

Nora Bossong erzählt von dem unbekannten Geliebten der Goebbels-Gattin, Fleur Jaeggy schreibt vor Kälte klirrende Variationen über Einsamkeit, und Paul Lynch schildert, wie eine gewählte Regierung über Notverordnungen nach und nach den Rechtsstaat aushöhlt.

Autoreninfo

Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Geliebter der Goebbels-Gattin

Wahrscheinlich hieß er Fritz Gerber. Sicher ist, dass Magda Goebbels, als sie noch mit dem Industriellen Günther Quandt verheiratet war, ein Verhältnis mit einem Studenten hatte. Diesen Unbekannten macht Nora Bossong zur zentralen Figur ihres Romans „Reichskanzlerplatz“. Hans Kesselbach heißt er dort, ein junger Mann, der Quandts Sohn Hellmut in schwärmerischer Freundschaft verbunden ist. Trotz seiner Homosexualität beginnt Hans eine Affäre mit Magda, die ihn fasziniert mit ihrer Kultiviertheit und Intelligenz, aber auch durch ihre innere Leere, ihren Drang nach Aufstieg und Geltung. Bossong erzählt die Geschichte von Hans als die einer zunehmenden Entfremdung: zu der Frau, die mit ihrer Ehe mit Joseph Goeb­bels zum Aushängeschild des Reiches wird. Und als Protokoll der Distanzierung zum Regime, in dem Hans als Homosexueller in ständiger Gefahr ist. Wie Bossong dessen Radikalisierung immer wieder mit wenigen Worten beschreibt und doch alles sagt, ist große Kunst.

Nora Bossong: Reichskanzlerplatz. Suhrkamp, Berlin 2024. 295 Seiten, 25 €

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Sabine Lehmann | Di., 17. September 2024 - 18:10

Unbedingt lesenswert. Atemlos ist schon der Einstieg in diese Geschichte, dem Sog des Textes, ganz ohne Absätze, kann man sich kaum entziehen. Lynch schreibt mit literarischer Eloquenz und hohem Tempo. Die Düsternis der Thematik umfängt den Leser schon nach der Lektüre der ersten Sätze.
Das vordergründige Thema, eine Dystopie, rührt an aktuellen Ängsten vor Diktaturen und Diktatoren. Kaum erschienen, wen wundert's, wurde das Buch auch schon von den üblichen Verdächtigen der links-grünen Agenda vereinnahmt, sah man sich doch mit diesem Werk bestätigt im woken Kampf gegen Rechts. Wie "rächts" und despotisch hingegen ihre eigene wohlfeile, moralinsauer Agenda in Wahrheit und irgendwie auch so banal vordergründig daherkommt, das sehen sie nicht. Sie sind blind!
Und so darf sich von diesem Buch Jeder angesprochen fühlen, der nicht nur mit dem Begriff des "Propheten" schon so seine Assoziationen hat, sondern so ganz grundsätzlich ein Freund der Freiheit, echter Demokratie u. Literatur ist.