- Das deutsche Modell taugt nicht für Frankreich
Wie reagiert man, wenn der Nachbar ungeheuren Erfolg hat? Die Franzosen schwanken zwischen Komplexen und Bewunderung
Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Januar-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen.
Bon Dieu, wie machen die Deutschen das nur, dass sie stärker sind als wir? Haben sie ein Chromosom mehr und können sich deshalb nach jeder schwierigen Phase, nach jedem Zusammenbruch wieder aufraffen und noch besser dastehen als vorher?
Europa steckt in der Krise. Griechenland steht kurz vor dem Erstickungstod, Spanien und Italien geht es immer noch schlecht, und Frankreich könnte sich zum Hauptproblem der Eurozone entwickeln, mit seiner Spirale aus Schulden und industriellem Abschwung, seiner Unfähigkeit zu tiefgreifenden Reformen und seiner Philosophie des „Weitermachen, als wäre nichts geschehen“.
Aber in diesem großen Tohuwabohu kommt Deutschland gut zurecht: Das Land wankt nicht einmal. Inmitten seiner schwächelnden Nachbarn steht es stark da. Und wir Franzosen müssen uns eingestehen: Bei denen läuft es besser als bei uns. Aus dieser Feststellung wird ein Cocktail widersprüchlicher Gefühle gemixt: Neid und Minderwertigkeitskomplexe einerseits, naive Bewunderung und der Wunsch, es ihnen gleichzutun, andererseits.
Angesichts der deutschen Erfolge verzweifeln wir Franzosen fast: Die Arbeitslosigkeit war seit der Wiedervereinigung nicht mehr so niedrig. Deutschland bleibt Exportchampion. Das Wachstum ist zwar nicht überwältigend, aber es gibt weit und breit auch keine Spur von Rezession. Die Unternehmer, große wie kleine, sind optimistisch. Beim Anblick des ins Schlingern geratenen europäischen Marktes haben sich die Großkonzerne, aber auch der Mittelstand ohne Zögern aufgemacht, die neu entstehenden Märkte zu erobern, in den neunziger Jahren in Osteuropa, heute in China. „Made in Germany“ genießt nach wie vor einen exzellenten Ruf. „Wer kauft schon einen Peugeot, wenn er einen Mercedes oder einen BMW bekommen kann?“, tönt ein deutscher Autobauer. Kein Tag vergeht in Berlin, ohne dass sich ein deutscher Politiker zu so viel Stabilität beglückwünscht.
Die meisten Franzosen schauen nicht ehrfürchtig nach Deutschland, sondern mit Furcht
Dass die Deutschen zufrieden sind, ist legitim. Darin erkennen aber viele Franzosen einen Hauch von Verachtung für die weniger Erfolgreichen, manche fühlen sich gar bedroht. Die Ausbrüche von Sarkasmus und Bitterkeit, die die polierte Oberfläche des politischen Diskurses in meiner Heimat regelmäßig zerreißen, erinnern mich an meine Großmutter. Sie lebte im Elsass und beobachtete in den fünfziger und sechziger Jahren den Wiederaufstieg Deutschlands, sein imponierendes Wirtschaftswunder: „Das ist doch wirklich nicht zu begreifen“, rief sie aufgebracht. „Sie haben den Krieg verloren und sind jetzt reicher als wir!“ Als Witwe eines Hauptmanns der französischen Armee empfand sie die strotzende wirtschaftliche Potenz des „Boche“, wie der Deutsche seit Jahrhunderten in Frankreich abfällig genannt wird, als Ungerechtigkeit der Geschichte. Bekanntlich sind die Verlierer eines Krieges häufig die Gewinner des wiedergefundenen Friedens.
Genügt das als Erklärung für die unverschämten und absurden Entgleisungen, die politische Spitzenkräfte sich in meinem Land mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms erlauben? Ein linker Abgeordneter vergleicht Angela Merkel mit Bismarck und beschuldigt sie, „den Euro zu töten“. Eine Gruppe Sozialisten beschimpft sie als „Kanzlerin der Sparpolitik“, nur an der „in Berlin festgeschriebenen Handelsbilanz und an ihrer politischen Zukunft“ interessiert, und fordert François Hollande auf, seiner Partnerin „die Stirn zu bieten“, statt sie „egoistisch ihre eigenen Interessen verteidigen zu lassen“. Diese neueren Geistesblitze aus der Sozialistischen Partei grenzen an germanophobe Hysterie. Umso mehr, als sich unter diesen irrationalen Eruptionen ein Wirrwarr von Gefühlen verbirgt, die man sich nicht eingestehen mag: Neid auf den Erfolg des Nachbarn, das Unvermögen, mit den ökonomischen Problemen im eigenen Land fertig zu werden und, um die Dinge klar zu benennen, ziemlich viel Dummheit und Bösartigkeit. Als konkurrierten die Sozialisten plötzlich mit dem Front National darum, wer die antieuropäische Fackel höher hält und die deutsche „Hegemonie“ lauter anprangert.
Die Eurokrise hat Deutschland in eine unangenehme Lage gebracht: Das Land ist der Motor in Europa, und seine Nachbarn erwarten viel von ihm. Doch sobald Angela Merkel Konsequenz zeigt, fuchteln ihre Nachbarn jenseits des Rheins mit den alten Schreckgespenstern herum. Diese Angriffe laufen allerdings ins Leere. Während Willy Brandt bei solchen Attacken entsetzt gewesen wäre und Helmut Kohl zumindest peinlich berührt, sagt Angela Merkel mit einer erstaunlichen Zen-Ruhe, jeder habe das Recht auf freie Meinungsäußerung, das sei das Gesetz der Demokratie.
Ihre Kaltblütigkeit ist beeindruckend. Man stelle sich nur einmal den umgekehrten Fall vor: Wie fielen die Reaktionen in Frankreich aus, sollten ein paar Hinterbänkler der SPD es wagen, François Hollande mit Napoléon oder Pétain zu vergleichen und die Dämonen der Geschichte heraufzubeschwören? Ein Skandal! Tobsuchtsanfälle der Pariser Politiker wären garantiert.
Interviewt man dagegen heute deutsche Politiker, versichern sie, es sei nicht ihre Aufgabe, den anderen Lektionen zu erteilen, aber unverkennbar fällt es ihnen immer schwerer, ihren Ärger über die Nachbarn zu kaschieren. Mindestens bis zum Ende der achtziger Jahre war Europa für die Deutschen eine heilige Kuh, und diese Ersatzidentität half ihnen, dem undankbaren Los als deutsche Staatsbürger zu entkommen. Mit Inbrunst war man Europäer, um nur nicht Deutscher zu sein. Nur rechtsradikale Splitterparteien und ein paar Konservative, die keiner ernst nahm, sagten laut, dass sie genug von der Rolle als europäische Milchkuh, als Zahlmeister hätten. Nach dem Fall der Berliner Mauer haben die Deutschen sich entspannt. Sie haben Selbstvertrauen entwickelt. Deutschland ist kein Wirtschaftsriese mehr in der Haut eines politischen Zwerges.
Sehnsucht nach mehr Effizienz?
Kein Monat vergeht, ohne dass die Wochenzeitung Le Point, für die ich aus Berlin berichte, anruft, um deutsche Erfolgsstorys anzufordern. Ich habe schon eine ganze Sammlung abgeliefert: von Haribo bis Bosch, von Miele bis Metro, von Kärcher bis Porsche. Ich besuche diese weltberühmten Firmen in der deutschen Provinz, spreche mit ihren gut gelaunten Chefs und ihren friedlichen Betriebsräten. Und immer wieder beschreibe ich das Räderwerk der sozialen Marktwirtschaft und versetze meine französischen Leser in Erstaunen, wenn ich ihnen erzähle, wie die Unternehmen mit der Wirtschaftskrise in den Jahren nach 2000 fertig geworden sind.
Das damalige Deutschland sah dem Frankreich von heute nämlich überaus ähnlich: das Wachstum auf halbmast, die Arbeitskraft zu teuer, eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Träumen die Franzosen nicht davon, das modèle allemand, das „deutsche Modell“ zu kopieren, jene sehr auf Einvernehmen und Effizienz ausgerichtete Methode, mit der die Wirtschaft am Laufen gehalten wird? Ein System, von dem in meinem Land niemand so genau weiß, wie es eigentlich funktioniert.
Man weiß nur, dass die Deutschen nicht wegen jeder Lappalie streiken, dass das gesellschaftliche Klima friedlicher ist als in Frankreich, dass die nicht so radikalisierten Arbeitnehmer und Gewerkschaften, fast ohne mit der Wimper zu zucken, in Krisenzeiten Lohnkürzungen hinnehmen, um ihrem Betrieb aus der Klemme zu helfen, und dass die Rente mit 67 Konsens ist.
In Deutschland handelt man einen Kompromiss aus. Man setzt sich an einen Tisch und spricht miteinander. Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft sind für die Franzosen Zauberformeln. Das „deutsche Modell“ sei ein „Schatz“, sagte Nicolas Sarkozy – worüber man sich hier in Berlin sehr amüsiert hat –, und er huldigte im jüngsten Wahlkampf unablässig dem Sozialdemokraten Gerhard Schröder und seiner „Agenda 2010“. Nicolas Sarkozy lud den Altkanzler Schröder sogar nach Paris ein. Der französische Präsident nahm sich das Recht heraus, beim besten Schüler der europäischen Klasse abzuschreiben. Wenn es bei ihnen funktioniert, warum dann nicht auch bei uns?
Das Problem dabei: Nicht mal im Traum wäre in Frankreich an eine solche Medikation zu denken. Die Gewerkschaften gingen sofort auf die Barrikaden: Streik, endlose Verhandlungen, Lähmung, Wagenburgmentalität, Konfrontation. Die französische Linke schreit gegen die „neoliberale Gewalt“ Deutschlands. Sie wenden sich gegen die Kürzung des Arbeitslosengelds, die prekäre Beschäftigung, die Inflation von Niedriglöhnen, befristete Stellen, Teilzeitarbeit und die berühmt-berüchtigten „Minijobs“. Kein Mindestlohn! Erbärmliche Gehälter! Die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Armen und Reichen in Deutschland! Man dürfe sich nicht nur die wohlhabenden Länder Baden-Württemberg und Bayern anschauen! Merkel sei ein gefährlicher Klon von Margaret Thatcher!
Dabei ist es höchste Zeit, dass wir Franzosen uns den Tatsachen stellen: Das deutsche Modell taugt nicht für Frankreich! Wir müssen unseren eigenen Weg finden und endlich handeln.
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