Das Journal - Der Weltgeist zu Pferde reitet nicht mehr

Er war Machtmensch, Gewaltherrscher, Propagandist: Napoleon, der erste Diktator der Moderne, hält die Biografen in Atem

Es gab zu viel falsches Pathos in den vergangenen 200 Jahren; uns ist diese Emp­fin­dung fremd geworden. Vielleicht ist sie bei Friedrich Schiller noch am ehesten zugänglich, dessen Pathos in der Exaktheit seiner Sprache konserviert ist. Der andere große Pathetiker der Revolutionszeit ist Napoleon Bonaparte; aber er war auch der Erste, der das Pathos verunreinigt und in den Dienst der Propaganda gestellt hat.

Klein, linkisch in seinen Bewegungen, in seiner Frühzeit schlecht gepflegt, sein Leben lang unsicher in Gesellschaft. Arbeit­sam, detailversessen, dabei immer mit einem Blick für das Wesentliche. Sehr belesen und noch in seinen widerlichsten Äußerungen von jener Klarheit, die die französische Sprache des 18. Jahrhunderts auszeichnet; dabei bar jeden Humors. Ein Maß an Auffassungsgabe, Zynismus, Machtversessenheit, wie es sonst wohl nur noch bei Stalin zu finden ist. Er war der erste Großmeister der Propaganda; von der verkrachten Ehe bis zur verlorenen Schlacht gab es nichts, was er nicht umlügen konnte. Er hat die Revolution beendet und den Krieg gebracht, in beidem ein begnadeter Organisator. Seine Bewunderer hießen Goethe, Hegel, Stendhal; aber Talleyrand sah klarer und verriet ihn, als die Hybris nicht mehr zu bremsen war.


Deutsche denken immer an Hitler

Diesseits des Rheins ist ein Buch über Napoleon immer Teil einer Plutarchschen Doppelbiografie: Unwillkürlich denkt man an Hitler, mag der Vergleich auch nicht weit reichen. «Ein gelassenes Verhältnis zu Napoleon bringt kein Deutscher auf», schrieb Friedrich Sieburg 1956. «Die besondere Art seiner Größe rührt in uns Saiten an, deren Schwingungen keine Harmonie ergeben.» Hier klingt nicht zuletzt die Erinnerung an die Besetzung Deutschlands an, die Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches und die überfällige Neuordnung der Länder, die unter dem Vorwand des Revolutionsexports geschah – und doch nur der besseren Ausbeutung der Okkupationszone diente.

Volker Ullrich zitiert diese Sätze Friedrich Sieburgs in der Einleitung zu seiner Napoleon-Biografie. Ullrich scheint der traditionellen deutschen Befangenheit entgehen zu wollen; jedenfalls ist sein Buch von ausgeprägter Nüchternheit. Es ist faktenorientiert, um ausgeglichene Stellungnahme bemüht. Die Saiten geraten gar nicht erst in Schwingung. Darin liegt ein großer Vorzug dieses kleinen Bandes: ein solides Nachschlagewerk, hervorragend bebildert.

Dagegen kann man die große, mehr als 700 Seiten starke Biografie von Johannes Willms nicht anders als leidenschaftlich nennen – leidenschaftlich in seiner Gegner­schaft zu Napoleon. Es ist geradezu eine persönliche Abrechnung. Seine Grundthese lautet: Napoleon war ein reiner Machtmensch – und nichts weiter. Ihm fehlte von Anfang an jede politische Idee. Er war nur Opportunist: Bis 1799 hängte er sein Fähnlein nach dem politischen Wind, als Dikta­tor war er visionslos und betrieb eine Politik des Augenblicks. Seine Macht war nicht legitimiert und musste durch den Ruhm der Kriege erhalten werden, die überdies dazu dienten, den maroden französischen Staatshaushalt aus den eroberten Ländern zu füttern. Deshalb war er auch unfähig, einen dau­erhaften Frieden zu schließen, der, jeden­­falls nach Willms, durchaus denkbar ge­wesen wäre. Was man Napoleon gemeinhin positiv anrechnet: die Integration der Roya­listen, der Kirche, der Juden und der Jakobiner, den Code civil, die inneren Reformen, also die Beendigung der Revolution und die Stabilisierung des Landes – all das erfüllte in Willms’ Augen den einzigen Zweck, die Krie­ge zu ermöglichen, die ihn an der Macht halten sollten.


Harem mit zwanzig Frauen

So diskutabel das alles ist, so rutscht die Kritik gelegentlich doch ins Ressentiment ab. Willms hat für die literarische Produktion des jungen Bonaparte nur Verachtung übrig. Und was Napoleons Verhältnis zu Frauen anging, so habe er, seit er von Joséphines Lotterleben erfuhr, einen ausgespro­chenen Frauenhass entwickelt. Auch habe er, trotz seiner Position, «nur» mit etwa zwanzig Frauen ein Verhältnis gehabt.

Solche Invektiven gelten der Legende, die sich um Napoleon gesponnen und zu der er selbst am meisten beigetragen hat. Willms hat dieser Legende schon vor einigen Jahren ein Buch gewidmet. Eben weil Napoleon ein so begnadeter Schauspieler war, weil er gewissermaßen sich selbst zum Kunstwerk machte, ist seine Figur offen für alle erdenklichen Interpretationen. Über Napoleon sind mehr Bücher verfasst worden, als Tage seit seinem Tod vergangen sind. Man kann wählen, was man will: Es gibt
Gedichte und historische Romane, es gibt Massen von Militär- und Diplomatie­geschichtlichem, es gibt Bücher über Joséphine, Marie Louise und Maria Walewska, Seichtes und Seriöses. Und wonach man auch greift, es ist nie ganz schlecht erzählt; auch dies bezeugt das Ungewöhnliche, wenn nicht das Große dieses Mannes.

Dabei ist von «Größe» längst nicht mehr in dem emphatischen, ja, pathetischen Sinn früherer Zeiten die Rede, selbst in Frank­reich nicht. Der jüngste Fernsehfilm mit Christian Clavier und Gérard Depardieu lebt vom Kuriosen, Romanhaften seines Hel­den, während die akademische Ge­schichts­schrei­bung sine ira et studio die historischen Strukturen beschreibt und eher zu abwägender Anerkennung als zu Bewunderung neigt. Schließlich kann Napoleon heute auch nicht mehr als Chiffre für politische Einstellungen dienen. Anlässlich der Zweihundertjahrfeiern des 18. Brumaire – jenes 9. No­vem­ber 1799, als Napoleon die Macht ergriff –  kam es nur noch an den Rändern des poli­tischen Spektrums zu Äußerungen wie derjenigen, Napoleon sei zwar «ein großer Mann, aber kein großer Franzose», weil er die Bourbonen vom Thron ferngehalten habe.

Kaum jemand klagt heute noch so grundsätzlich an, wie Willms es tut. Der Historiker und Frankreich-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» hat sich aus den Quellen gut munitioniert, und man kann sich seiner flüssigen Argumentation kaum entziehen, wenngleich ihre Einseitigkeit zu denken gibt. Es lässt sich eigentlich nur ein Einwand gegen ihn vorbringen; der allerdings ist grundlegend und dürfte seine Leser­schaft spalten: Willms bezieht seine Maßstäbe von hier und heute. Er schreibt als Demokrat, unempfindlich gegen pathetische Attitüden, skeptisch gegen die Macht. In der Tat würde kein vernünftiger Mensch heute einen Diktator gutheißen; insofern zeichnet Willms den Napoleon, der uns gemäß ist. Aber er reißt ihn aus seiner Zeit und seinem Erfahrungshorizont.


Nicht bei Habermas gelernt

Kann man behaupten, dieser General, Konsul, Kaiser habe keine politischen Vorstellungen gehabt? Es waren eben keine demokratischen. «Die Stärke», sagte Napoleon, «ist das wichtigste Prinzip jeder Regierung: Schwäche führt zu Bürgerkriegen, die Macht erhält Ruhe und Wohlstand in den Staaten.» Napoleons Vision war die Autokratie, die Befehlskette. Und sie wurzelte nicht in einer Theorie – er wetterte gern gegen die «Metaphysiker» –, sondern war gesättigt allein aus der Erfahrung. Napoleon hat das Denken nicht bei Habermas gelernt, sondern beim Militär, nicht nach 1945, sondern nach 1789. Wenn die Revolution etwas Funktionstüch­tiges hervorgebracht hat, dann die Armee, seine zweite Heimat, in der Befehl, Gehorsam und Begeisterung eine seltene Allianz eingegangen sind. In der hierarchischen Befehlsstruktur des Heeres hat er das Rezept gefunden, mit dem Revolution und Bürgerkrieg beendet werden konnten. Dieses innenpolitische Ziel hat er in kürzester Zeit erreicht, dank seiner Initiative und Tatkraft; und diese Seite kommt bei Willms zu kurz.


Don Carlos und Alba in einer Person

Es ist ja wahr, dass Napoleons Hybris am Ende Hunderttausende das Leben gekostet hat, dass er den Polizeistaat perfektionierte, dass er die Menschen blendete, dass er zum Friedensschluss nicht imstande war, weil er sich nur aufs Befehlen, nicht aufs Verhandeln verstand. Aber man kommt eben doch ins Schlingern bei diesem Kommisskopf, diesem «Don Carlos und Alba in einer Person» (Jacques Presser) – der im Code civil nicht nur das Gleichheitsprinzip verrechtlicht und verstetigt, sondern zugleich die
Eigentumsgarantie festgeschrieben hat, die der Egalité entgegenwirkt. Er hat, mit ande­ren Worten, das Unvereinbare pragmatisch und zukunftsweisend zusammengeführt. Man muss nicht an den Weltgeist zu Pferde glauben, um das würdigen zu können.

Einen anderen, unscheinbaren, aber zentralen Unterschied zu seinen diktatorischen Nachfolgern nennt Willms erst ganz zum Schluss; den nämlich, dass allein in Napo­leons «Sprachintelligenz», seiner «Anekdotenfähigkeit» sich ein Indiz seiner historischen Größe erkennen lässt. «Von einem Hitler oder Stalin werden keine Anekdoten erzählt, und wir suchen in ihrer Hinterlassenschaft auch vergeblich nach Aphorismen und anderen Zeugnissen eines überlegenen Geistes.» Und Willms muss bekennen, «dass Napoleon entschwindet, je mehr wir über ihn zu wissen glauben … Diese Irritation, dieses Rätsel muss aushalten, wer sich auf ihn einlässt und sich mit seinem Leben auseinandersetzt.»

Vielleicht ist Willms zu hart im Urteil, zu radikal, zu empört; und vielleicht gesteht er das an dieser einen Stelle ein. Aber es ist ein passioniertes Buch und insofern seinem Gegenstand wesensverwandt. Die zeitgenössische Napoleon-Literatur kennt dieses Kämpferische nicht mehr. Sie erforscht Strukturen und ist auf Ausgleich bedacht, sie verwaltet die Geschichte und hat die Schlachten satt. Was Napoleon einmal bedeutet hat, welch falschem, propagandistischen, mächtigen Pathos es einmal gegenüberzutreten galt, das erschließt sich bei Willms, 200 Jahre nach der Schlacht von Austerlitz, noch einmal mit großer Kraft. Und so trifft auch hier, was Goethe – wiederum nicht ohne Pathos – über die «Mémoi­res de Napoleon» von Fauvelet de Bourrienne gesagt hat: «Die Gewalt des Wahren ist groß. Aller Nimbus, alle Illusion, die Journalisten, Geschichtsschreiber und Poe­ten über Napoleon gebracht haben, verschwindet vor der entsetzlichen Realität dieses Buches; aber der Held wird dadurch nicht kleiner, vielmehr wächst er, so wie er an Wahrheit zunimmt.»

 

Johannes Willms
Napoleon. Eine Biographie
C. H. Beck, München 2005. 900 S., 34,90 €

Volker Ullrich
Napoleon. Eine Biographie
Rowohlt, Reinbek 2004. 180 S., 17,90 €

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