- „Ich will manipulieren“
Der Dirigent Christian Thielemann spricht im CICERO-Interview über Rauschzustände in der Musik, den Maestro als Menschen und einen Haufen Vorurteile und sagt „Tristan ist gesünder als LSD“
Probentag in Bayreuth: Fliegender Holländer. Wir treffen uns in der getäfelten Festspielkantine. Christian Thielemann kommt gerade von einer Massage – der Rücken macht Probleme. Das viele Proben. „Draußen oder drinnen?“, fragt er und sagt dann, ohne eine Antwort abzuwarten, „draußen, oder?“ Schon vor dem Gespräch wird klar, wie er bekommt, was er will: offen, charmant, bestimmt. Dieser Christian Thielemann hat nichts mit dem Mann zu tun, der in der deutschen Presse gern als ewig Gestriger, als Hans Dampf, als Urdeutscher beschrieben wird. Dieser Christian Thielemann ist ganz bei sich. „Hier in Bayreuth fühle ich mich zu Hause“, sagt er. „Hier sind wir eine Familie.“ Im September wird er noch eine Familie dazubekommen. Eine Wunschfamilie. Thielemann wird offiziell die Sächsische Staatskapelle Dresden übernehmen. Das Orchester Webers und Wagners – seiner Idole. Und, so sagen viele, eine der besten Musiktruppen Deutschlands.
Herr Thielemann, warum machen Sie eigentlich
Musik?
Um ehrlich zu sein, darüber habe ich nie nachgedacht. Das war immer
so.
Sie meinen, man muss für die Musik geboren
sein?
Wahrscheinlich schon. Im Idealfall wird man in ein Umfeld der Musik
hineingeboren. Bei uns zu Hause war das Musizieren immer
selbstverständlich. Der Beruf Musiker war klar wie Kloßbrühe. Ich
habe als Kind Beethovens Egmont-Ouvertüre gehört. Das hat einen
gewaltsamen und mächtigen Eindruck auf mich gemacht. Zwei komische
Worte, oder? Gewaltsam und mächtig! Aber es war irgendwie schön
gewaltsam. Und es war schön mächtig.
Haben Sie so große Gefühle jemals außerhalb der Musik
empfunden?
Och ja, irgendwann schon – natürlich im Privatleben. Wenn man mit
anderen Menschen zusammen ist und dankbar ist, eine bestimmte
Situation gemeinsam zu erleben. Oder wenn ich eine Landschaft
anschaue – wie die Sonne untergeht oder die Vögel zwitschern. Das
ist auch schön. Aber ich habe auch festgestellt, dass das, was mir
in der Musik so gewaltsam und mächtig und dabei gleichzeitig so
schön vorkam, im Privaten manchmal nur gewaltsam und mächtig ist –
und manchmal enttäuschend und unschön.
Sie meinen, dass die Musik selbst dem menschlichen
Abgrund eine gewisse Ästhetik gibt?
Darin liegt ihr großer Reiz. Und genau darin liegt auch ihre
Gefahr. Musik schafft es, selbst das Böse schön erscheinen zu
lassen. Ich habe lange gebraucht, um zu lernen, diese Gefühle zu
kontrollieren. Es ist ein langer Weg, bis man feststellt, dass die
Musik so groß ist, dass sie einen auch kaputtmachen kann. Dass man
sich in ihr verlieren kann. Dass sie zerstörerisch wirkt.
Wie meinen Sie das?
Das ist eine psychische Sache. Manchmal scheint die Musik mehr über
mich zu wissen als ich selbst. Was sie mit mir anstellt, ist so
privat, so intim, so nackt, dass ich Angst habe, es zuzulassen. In
diesen Augenblicken ist sie wie ein Dämon, der das Archaische in
mir berührt und mich dazu zwingt, mich ihr vollkommen auszuliefern.
Sie saugt alles aus mir heraus. Ich hatte etwa oft Angst, unter dem
Einfluss von Musik in Situationen zu geraten, in denen ich alle
Grenzen verliere. Zum Beispiel Drogen zu nehmen oder zu schnell mit
dem Auto zu fahren und am Baum zu landen. Inzwischen habe ich das
etwas besser im Griff. Ich weiß, dass ich an dieser Stelle sehr
angreifbar und verführbar bin. Dass die Musik mich aufputscht, mich
antreibt und aufbaut. Und dass all das, was sie schafft, auch in
sich zusammenfallen kann. Die Intensität, mit der man in der Musik
lebt, ist so hoch, dass man selbst irgendwann leer ist.
Musik kann also lebensgefährlich werden?
Jede Kunst ist selbstverständlich eine Gefahr für das Leben. Alle
Formen der Kunstvermittlung haben ja etwas Existenzielles. Denken
Sie an Maria Callas, an Wilhelm Furtwängler, an Dietrich Fischer-
Dieskau. Um mit der Musik ein großes Publikum zu erreichen, müssen
Sie all ihre Konzentration sammeln und befinden sich automatisch an
der Grenze der Selbstaufgabe. Kunst entsteht auf jeden Fall immer
nur an dieser Grenze. Um auf ihr zu balancieren, braucht der
Künstler Bauch und Kopf. Und ein Bewusstsein von der Gefahr des
Rausches und für die wahre Welt.
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie, während Sie
dirigieren, auch private Bilder zu der Musik im Kopf
haben?
Selbstverständlich.
Umso verwunderlicher ist, dass Sie Ihr Privatleben
komplett aus der Öffentlichkeit heraushalten.
Ja, weil es sich ja um meinen persönlichen Film handelt! Welche
Bilder, Situationen und Gefühle man zur Musik erlebt, ist
individuell. Diese Nacktheit entsteht nur im eigenen Kopf – aus dem
eigenen Leben. Meine Aufgabe als Dirigent ist, das Persönliche zum
Allgemeinen zu erheben. Erst so kann die Musik in Kommunikation mit
einem Publikum treten. Deshalb rede ich bei den Proben ja auch
nicht viel. Bei den Musikern ist es ja genauso: Sie müssen ihren
eigenen Zugang, ihre eigene Existenz in den gleichen Noten finden.
Und letztlich ist das doch auch bei den Komponisten so: Sie werden
vom eigenen Leben inspiriert, aber ihre Sinfonien und Opern sind
Werke der allgemeinen Menschlichkeit. Ganz abgesehen davon, dass
die Sichtbarkeit des allzu Privaten meiner Erziehung widerstrebt.
Es ist nicht meine Sache, mein privates Empfinden in der Zeitung
auszubreiten.
Vielleicht machen sich die Leute deshalb so viele
Gedanken um Ihr Leben? Weil Sie in der Öffentlichkeit so exzessiv
wirken?
Mag sein. Sollen sie ruhig.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum Musik auch ein Experimentierfeld für das Leben ist
Ist die Musik für Sie auch ein Experimentierfeld für das
Leben?
Das muss sie sein, weil sie uns einen risikofreien Raum schenkt, in
dem es kein Gesetzbuch gibt. Auf der Opernbühne muss ich dafür
sein, dass Tosca von der Engelsburg springt. Gleichzeitig muss ich
aber auch einer Meinung mit Scarpia sein, der sie vergewaltigen
will. Daran sehen Sie die Schizophrenie der Musik. Man bewegt sich
– ob man will oder nicht – Takt für Takt in einem vielfältig
zwiespältigen Kosmos. Zum Wahnsinnigwerden eigentlich, das
alles.
Und wie genau kühlen Sie sich wieder ab?
Ich habe mir Dinge gesucht, mit denen ich von der Musik loskomme.
Ich beschäftige mich mit Geschichte und bildender Kunst. Gestern
zum Beispiel war ich im Neuen Schloss in Bayreuth und habe nach
Gemälden gesucht, die ich unbedingt finden wollte. Das sind
Unternehmungen, um der Macht der Musik wenigstens zeitweise zu
entkommen. Ganz nach dem Motto von Tannhäuser: „Aus deinem Reiche
muss ich fliehn!“
Merken Sie eigentlich, dass Sie durch die Musik auch
selbst mächtig werden?
Orchestermusiker schwärmen von Ihrer Inspiration, von Ihrer Art zu
bekommen, was Sie wollen … Das ist ja keine Macht im eigentlichen
Sinne. In den Proben geht es darum, das Feuer, das in den
Partituren steht, zu entzünden. Tatsächlich gibt es nur wenige
Menschen, die das können. Die diese Prometheus-Qualität haben, weil
sie selber brennen. Aber das ist eine naturgegebene Begabung.
Und wie steht es mit dem Publikum – merken Sie, dass Sie
eine Macht über Ihre Zuhörer haben?
Natürlich will ich das Publikum manipulieren. Mir ist es wichtig,
dass mein Publikum das Theater in einem guten Sinne manipuliert
verlässt. Nicht, dass ich sie zu Dingen treiben will, die sie nicht
wollen. Aber ich möchte sie günstig beeinflussen – und vielleicht
auf sich selbst, auf ihre Nacktheit, zurückwerfen. Ich möchte ihnen
jenen Raum öffnen, der sich auch mir durch die Musik öffnet: eine
Welt, in der man hemmungslos und ohne Rücksicht auf die Regeln der
Welt denken und fühlen darf. Ich möchte den Menschen mit der Musik
zeigen, dass wir in einer Sinfonie oder einer Oper Grenzen
überschreiten können, die im Leben unmöglich wären. Würden wir zehn
Flaschen Wein trinken, hätten wir eine Alkoholvergiftung. Hören wir
zehn Mal den „Tristan“, erweitert der Rausch unser Bewusstsein.
Jetzt hören Sie sich an wie ein Alt-68er! Sie meinen,
„Tristan“ ist besser und gesünder als LSD?
Aber natürlich! Grundsätzlich hat der Mensch Rauschzustände ja sehr
gern. Weil es im Rausch um das Gleiche geht wie in der Musik, um
die Erweiterung des Bewusstseins. Ich finde es immer ein bisschen
lustig, dass die 68er gegen den Rausch von Hitlers Reichstagsgedöns
waren – völlig zu Recht natürlich – und sich zu Hause ihren eigenen
Rausch geschaffen haben, indem sie sich mit LSD vollballerten, bis
sie ihren privaten Lichtdom gesehen haben. Beide Arten von Rausch
sind mir suspekt, weil sie entweder manipulativ sind oder man in
ihnen jede Kontrolle verliert. Mir ist die Bewusstseinserweiterung
durch eine „Tristan“- Aufführung lieber.
Und welche Wirkungen hat diese Erfahrung auf Ihr
Leben?
Jeder Rausch beeinflusst uns – weil wir in ihm Dimensionen
erfahren, die wir im echten Leben nicht erreichen.
Macht „Tristan“ uns etwa zu besseren
Liebhabern?
Das kann durchaus sein. Ich glaube schon, dass Menschen, die
„Tristan“ kennen, potenziell bessere Liebhaber sein könnten. Diese
Musik kann einen fantasiemäßig beflügeln. Sie zeigt einem die
Sinnlichkeit und das Existenzielle. Auf jeden Fall macht dieses
Erlebnis freizügiger und regt an. Das ist schon irre. Ich finde,
wir müssen überhaupt bessere Musikliebhaber und bessere Liebhaber
werden. Sicher ist: Die Kunst ist eine sinnenfrohe Angelegenheit.
Und davon können wir im Leben nur lernen.
Erkennen Menschen, die Ihnen nahestehen, eigentlich den
Christian Thielemann auf der Bühne wieder, den sie auch von zu
Hause kennen?
Oder sind Sie vor dem Orchester ein anderer Mensch? Leute, die mich
gut kennen, sagen oft, dass mein eigentliches Wesen beim Dirigieren
am besten zu sehen ist. Letztlich ist das Künstlerische ja nur eine
Ausblühung des Menschen, der diese Kunst betreibt. Und es ist egal,
was jemand tut, ob er sich für Topfbegonien interessiert oder
Streichholzschachteln sammelt – in dem Moment, in dem Sie sich in
einer Sache auflösen, sind Sie ganz bei sich. Dann entsteht ein
positiver Fanatismus, der andere nicht behindert. Ich liebe diese
Spinner. Und, ja, ich bin einer von ihnen. Ich habe immer etwas für
Leute übrig, die eine gepflegte Macke haben. Aber sie soll, bitte
schön, gepflegt bleiben.
Lesen Sie auf der nächste Seite, warum Wagner nichts dafür kann, dass er von Hitler vereinnahmt wurde
Wegen Ihrer Macken wurden Sie lange angefeindet.
Inzwischen sind Sie Everybody’s Darling. Was hat sich
geändert?
Für mich persönlich nur, dass ich vor 15 Jahren dachte, mich und
mein Leben vorhersehen zu können. Inzwischen genieße ich es, wie
unvorhersehbar ich für mich selber geworden bin.
Sie müssen sich also immer neu erfinden?
Der Kern bleibt wahrscheinlich. Aber ich befrage mich gern neu und
definiere meine Position in der Welt. Ich arbeite ja nur mit
Partituren ohne Einzeichnungen. Ich sehe also nicht, wie ich einen
„Holländer“ vor einigen Jahren gemacht habe. Ich muss diese Opern
immer wieder neu entdecken. Und manchmal denke ich an einer Stelle:
„Da steht zwar kein Ritardando – aber ich fände es schön.“ Das sage
ich dann den Musikern. Und manchmal fragen die mich: „Aber warum
denn, das steht doch gar nicht drin.“ Und ich antworte: „Weil ich
das schön finde.“ Dann schmunzeln sie – und machen es.
Früher wurden Sie noch angefeindet, weil Sie Werke von
Hans Pfitzner aufgeführt haben, der in das Nazi-System verstrickt
war. Davon ist heute nicht mehr die Rede.
Weil es mir nie um Politik ging, sondern um die Musik. Ich habe
Pfitzners Kompositionen studiert und geschaut, ob sie etwas taugen.
Das tun sie! Also habe ich sie aufgeführt. Heute kann ich
zurückblicken und feststellen, dass ich mir in diesen Fragen treu
geblieben bin. Und dass die Zeit und der Zeitgeist mir
entgegengekommen sind.
Sind denn am Ende alle Werke legitim? Egal, wie ein
Künstler gelebt hat?
Schauen Sie, wir hatten das doch schon einmal, dass Komponisten
aufgrund ihrer Überzeugungen oder Religionen nicht aufgeführt
wurden. Und nun wollen einige Leute sich noch immer als moralischer
Wächter aufspielen? Wir können doch nicht auf der einen Seite
Ressentiments und Rassismus anklagen und auf der anderen Seite
Rassismus in einen guten und in einen schlechten unterteilen. Ich
war immer der Meinung, dass wir ohne Ressentiments an die Musik
herangehen müssen. Und, ja, auch dass wir es uns gerade als
Deutsche nicht so leicht machen dürfen und einige Musiker von
vornherein aus dem Kanon streichen, weil uns die Auseinandersetzung
mit ihrer Musik auf ein gefährliches Feld führt. Das gehört zu
unserer Kulturtradition.
Es ist also nichts verboten?
Ich weiß nicht, wie Sie sich so einen Kanon vorstellen. Sollen wir
jetzt zum Wagner- Jahr eine Liste der politisch unbedenklichen
Wagner‑Werke herausgeben und eine der politisch belasteten Stücke?
Also, mit Verlaub: ohne mich!
Im Falle Wagner geht es ja auch um die Vereinnahmung
durch Adolf Hitler. Eine Frage, die sich gerade wieder in Israel
gestellt hat.
Aber was kann Wagner denn dafür? Sicher, wir müssen uns mit seinem
Antisemitismus auseinandersetzen. Aber in den meisten seiner Werke
ist davon nichts zu lesen. Wir können doch nichts für die
Verbrecher, die im Festspielhaus gesessen haben. Unten im Graben
wird C‑Dur gespielt. Und dieses C‑Dur klang 1944 genauso wie heute.
Musik ist stärker als ihre Vereinnahmung.
Es gab eine Zeit, da haben Sie Ihre Meinung provokanter
vorgetragen.
Auf jeden Fall habe ich unterschätzt, wie provokant meine Thesen
aufgenommen wurden. Und wie ideologisch die Situation damals war.
Das ging ja so weit, dass sogar über meinen Scheitel geschrieben
wurde. Auf dem Höhepunkt dieser Stimmung hätte ich meine Haare
zerwühlen müssen, damit mein Wagner politisch korrekt gewesen
wäre.
Und heute?
Schauen Sie – ich ruhe in mir. Und vielleicht ist das die größte
Veränderung. Ich merke, wie die Ruhe in meinen Körper kommt. Ich
muss Ihnen ehrlich sagen: Ich habe auch immer gewusst, dass das
vorbeigehen würde. Weil ich wusste, dass ich die zeitlose Wahrheit
der Noten auf meiner Seite hatte und nicht die schwankende Wahrheit
der modischen Politik. Mich hat es wirklich irritiert, dass die
Leute gesagt haben, ich wollte provozieren. Aber irgendwann haben
sie dann festgestellt: „Ach Gott, der ist ja wirklich so.“ Ich war
glaubhaft in dem, was ich getan habe. Und deshalb haben die
Menschen aufgehört, sich aufzuregen.
Vielleicht auch, weil Sie offener geworden
sind?
Es hat bei mir vielleicht etwas gedauert, dass ich Meinungen, die
nicht meine sind, akzeptiert habe. Heute weiß ich, dass ich sie
nicht teilen muss, dass ich sie rhetorisch erwidern kann – und dass
es wichtig ist, jede Meinung als gegeben zur Kenntnis zu nehmen.
Aber dieses Recht fordere ich auch für mich ein. Darum ging es
letztlich auch in Israel: Ich finde, dass man niemanden dazu
zwingen darf, etwas zu hören, was er nicht hören will. Aber ich
finde auch, dass man niemandem verbieten sollte, das zu hören, was
er gern hören möchte. All das ist eine Frage der Toleranz. Ich
beobachte, dass unsere Musik gerade in diesen Zeiten immer besser
verstanden wird. Weil sie den Menschen auf das eigentliche Ziel der
Politik zurückführt: den einzelnen, freien und selbstbestimmten
Menschen.
Lesen Sie auf der nächste Seite, wie politisch Musik ist
Wie politisch ist die Musik denn wirklich?
Musik sind zunächst einmal Noten. Ob Wagner Revolutionär war oder
Beethoven seine Sinfonie Napoleon widmen wollte – das sind Fragen
für Musikhistoriker. Für einen Musiker sind sie weniger
entscheidend. Die Sprache der Musik ist Politik einer anderen Art:
Es ist die Politik des Unterbewussten, des Menschlichen, des
Individuums. Und es macht mich wütend, wenn ich Traktate der
Musikwissenschaftler lese, die versuchen, eine Partitur einer
Ideologie unterzuordnen. Keines dieser Bücher zeigt mir, wie ich
die „Meistersinger“ besser dirigieren kann. Mir ist es auch
unmöglich, aus einem späten Beethoven-Quartett abzulesen, ob er
gerade Probleme hatte, schlechte Laune oder Hunger. Inzwischen
beobachte ich, dass die Ideologisierung der Musik schwindet.
Können Politiker denn trotzdem etwas von Musik
lernen?
Angela Merkel ist Stammgast in Bayreuth, kommt nach den Konzerten
zu Ihnen hinter die Bühne … Ich glaube, es geht in der Musik um
Authentizität. Und darum, dass Politik immer beim humanistischen
Individuum anfängt. Das ist bei Wagner genauso wie bei Mozart. Das
Private macht nicht nur die Musik, sondern auch die Politik. Und es
geht um Wahrhaftigkeit. Als Dirigent kann ich nicht heute weniger
Steuern versprechen und dieses Versprechen morgen nicht einlösen.
Ich muss mir, bevor sich der Vorhang hebt, eine Position
erarbeiten. Die muss nicht allen gefallen, aber sie muss kongruent
mit mir sein – und das wünsche ich mir zuweilen auch von der
Politik.
Sie gelten als konservativ. Gleichzeitig geben Sie sich
aber auch revolutionär. Wie ordnen Sie sich selbst politisch
ein?
Wenn Sie mir ein Quäntchen Selbstherrlichkeit erlauben, antworte
ich Ihnen, dass ich die neue Avantgarde bin. Ich bin ein
geläuterter Konservativer. Ich bin nicht engstirnig und trotzdem
traditionsbewusst. Ich fühle mich sehr in meiner Tradition
verwurzelt und bin gerade deshalb in der Lage, neugierig auf
anderes zu sein.
Ist die konservative Politik schon genauso weit wie
Sie?
Nein, wahrscheinlich nicht. Deshalb rede ich ja von Avantgarde.
Und was ist der Unterschied zwischen einem geläuterten
68er und einem geläuterten Konservativen?
Die können sich inzwischen gut begegnen. Es ist doch so, dass die
wahren Konservativen die Grünen geworden sind. Wir befinden uns ja
in einer Umwertung sämtlicher Begriffe. Konservativ bedeutet nicht
mehr: engstirnig, ausländerfeindlich und rechtsradikal. Konservativ
bedeutet: das Alte ehren und daher neugierig auf das Neue sein. Ich
habe durch meinen Beruf gelernt, dass die alten Stereotype nicht
mehr greifen. Für mich ist es politisch wie künstlerisch dort am
spannendsten, wo große Persönlichkeiten mit eigener Meinung
zusammenarbeiten. Schlechtes Benehmen und mangelnde Qualität sind
für mich Zeitverschwendung. Und überall gilt die Regel: Je höher
das Niveau ist, desto gelassener kann man miteinander umgehen. In
der Musik sind wir an diesem Punkt angekommen, in der Politik
vielleicht noch nicht ganz.
Spielt die Zeit, in der ein klassisches Werk
interpretiert wird, eigentlich eine Rolle für den
Klang?
Der große Vorteil der klassischen Musik ist, dass die gleichen
Noten in vielen unterschiedlichen Zeiten und in vielen
unterschiedlichen politischen Kontexten interpretiert wurden. Klar,
wenn Furtwängler 1942 Beethoven zwischen zwei Bombenangriffen
dirigiert hat, klang das anders als ein Beethoven, bei dem uns
höchstens der EU-Rettungsschirm beschäftigt. So gesehen
verschmelzen in der Zeitmaschine Musik Vergangenheit und Gegenwart
immer wieder aufs Neue. Die Noten bilden den historischen Fixpunkt.
Das ist der Unterschied zwischen Musik und einem Museum. Die Mona
Lisa sieht seit Jahrhunderten gleich aus. Wagner klingt jeden Abend
anders.
Sie werden mit der Staatskapelle in Dresden nun ein
Orchester mit langer Tradition übernehmen – Weber und Wagner haben
hier dirigiert. Und die Staatskapelle wird bis heute für ihren
deutschen Klang gefeiert …
Ich treffe in Dresden auf eine historisch einmalige Situation:
Neben vielen negativen Dingen ist im Osten ein historischer Vorteil
auszumachen. Während im Westen, ausgelöst durch die 68er-Bewegung,
versucht wurde, möglichst viele Traditionen über Bord zu werfen,
ist diese Mode am Osten vorbeigezogen. So hat sich vieles erhalten,
was wir heute sehr schätzen. Und das hört man auch heute noch im
Klang der Orchester.
Daniel Barenboim hat einmal gesagt, dass man in der
Staatskapelle in Berlin noch den Klang von 1932 hört …
Das trifft für Dresden ebenfalls zu. Das liegt auch daran, dass es
lange Zeit kaum einen Zuzug von frischem Fleisch gab, dass das
Orchester auf eine merkwürdig wohltuende Art im eigenen Saft
gekocht hat. Heute sehen wir, dass in Dresden eine alte Tradition
lebt. Und das ist in einer Zeit, in der große Orchester Gefahr
laufen, gleich zu klingen und ihren Klang zu globalisieren, ein
großes Pfund.
Lesen Sie auf der nächste Seite, in welchen Momenten Christian Thielemann vor einem Konzert am liebsten fliehen würde
Es fällt auf, dass Sie wenig mit fremden Orchestern
zusammenarbeiten …
Ich mag es lieber, mit Menschen zu arbeiten, die ich kenne – und da
hat sich in den vergangenen Jahren einfach die Achse
Dresden-Wien-Bayreuth ergeben. Das ist ein überschaubares Areal, in
dem ich machen kann, was ich will. Und wenn ich die Welt sehen
will, fahre ich eben mit meinen Dresdenern oder den Wienern
los.
Die Wiener Philharmoniker scheinen es Ihnen besonders
angetan zu haben.
Von denen heißt es ja immer, dass sie so verstockt seien. Aber ich
erlebte immer wieder ein unglaublich offenes Orchester. Ich glaube,
das liegt daran, dass es sich seiner Tradition bewusst ist. Die
Wiener wissen, woher sie kommen, und können deshalb offen für
anderes sein. Sie verkörpern den offenen Konservativismus – und,
ja, das gefällt mir sehr. Andererseits gibt es keine andere Stadt,
in der die Erwartungen so hoch sind. Das geht so weit, dass ich
Wien manchmal meiden muss, weil der Druck mir zu groß wird. Nicht
nur vom Publikum, sondern auch vom Orchester. Ich kann so langsam
nachvollziehen, dass der legendäre Carlos Kleiber manchmal vor
einer Aufführung die Flucht ergriffen hat.
Gibt es diese Momente bei Ihnen auch, dass Sie vor einem
Konzert am liebsten fliehen würden?
Ja, das gibt es. Ich denke dann: Jetzt ins Auto und einfach nur
weg. Aber meine preußische Erziehung verbietet mir das. Dann gehe
ich da hin und dirigiere. Manchmal macht mir meine Nervosität auch
Angst. Ich verstehe mich da selbst nicht.
Gibt es denn einen Moment, in dem Sie keine Musik mehr
machen würden?
Nein – weniger, das kann ich mir gut vorstellen. Aber gar keine
Musik? Nein! Auf keinen Fall. Was hat Loriot gesagt? Ein Leben ohne
Möpse wäre möglich, aber sinnlos. So verhält sich das auch mit der
Musik.
Das Gespräch führte Axel Brüggemann
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