- „Ich bin die Wahrheitspresse“
Kolumne: Stadt, Land, Flucht. Kolumnistin zu sein und gleichzeitig in einem Dorf zu leben, ist ein Drahtseilakt. Marie Amrhein hat als Journalistin den Anspruch, wahrheitsgemäß über ihr Umfeld zu berichten. Für das soziale Miteinander aber wäre eine Lüge oft förderlicher
Gewöhnlich würde ich ein freundliches „Hallo“ durch den Laden rufen, wenn ich dort meine Nachbarin treffe. An diesem Morgen aber wandte ich beschämt mein Gesicht der Tiefkühlpizza zu. Ich hatte Angst, wollte nicht über eine Kolumne sprechen, die auch von ihr gehandelt hatte. Trotz anonymer Beschreibung hatte sie sich erkennen können als Besitzerin eines Thermomixers, also als – so hatte ich einen Soziologen zitiert – „fantasiefreien Konsumzombie“. War das der Dank für den Marmorkuchen, den ich in ihrer Küche genossen hatte? Einen Tag zuvor hatte ich mich noch darüber beschwert, dass hier auf dem Dorf viel hinter den Rücken der anderen getratscht werde. Nun stand ich da und fürchtete die Konsequenz meiner eigenen Worte.
Ich bin sehr schlecht im Lügen. Das glauben mir manche Leser vielleicht nicht, ist meine Branche doch in einigen Kreisen gerade dafür verschrien, die besten Lügner des Landes für ihre Arbeit zu bezahlen. Ist aber so. Ich kann mir nichts ausdenken. Meine an den Betten meiner Kinder selbst erdachten Geschichten sind buchstäblich zum Einschlafen. Aber Dinge, die wirklich passiert sind, die schreibe ich gerne auf. Ich bin die Wahrheitspresse. Nun müsste ich aber auch zu dem stehen, was ich geschrieben habe – und mich nicht in der Tiefkühltruhe verstecken.
Ehrlichkeit hat ihren Preis
Mir kommt es vor, als wäre es in der anonymen Großstadt leichter gewesen, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Die sozialen Gefüge sind elastischer, auf dem Dorf dagegen bestehen Beziehungen über Generationen. Die Menschen müssen miteinander auskommen – jahrelang, manchmal ein ganzes Leben. Eine Situation, die der Feigheit Vorschub leistet?
Wer sich im politischen Berlin aufhält, findet das gleiche Dilemma vor. Auch hier greifen dörfliche Strukturen. Die gefährliche Nähe zwischen Politik und Medien ist vielfach beschrieben worden, die Unkenrufe über die vermeintliche Lügenpresse haben auch damit zu tun. Denn Ehrlichkeit hat ihren Preis, Diplomaten können davon ganze Hymnen pfeifen. Solange Menschen sich fern sind, ist es einfach, ihr Tun mit kühlem Kopf zu analysieren. Wer beim Feierabendbier am selben Tisch sitzt, dem fällt es mitunter schwerer, objektiv zu bleiben.
Ist das nun alles unmoralisch? Wäre die Welt besser, wenn alle die Wahrheit sprächen? Nein, sagen Wissenschaftler. Ohne die gemeine Alltagslüge zerbräche unsere Gesellschaft. Verschiedenste Wissenschaftler kamen in ihren Erhebungen regelmäßig zu dem Schluss, dass die soziale Verträglichkeit im menschlichen Miteinander den Vorrang vor der Wahrheit hat.
Volker Sommer, Anthropologe am University College in London, beschreibt in seinem Buch „Lob der Lüge“, wie die Unehrlichkeit im Lauf der Zeit unsere Evolution vorangetrieben hat. Sie sei der „Wetzstein der Intelligenz“, so Sommer, denn nur einem Lebewesen mit leistungsfähigem Gehirn sei das für die Lüge notwendige Lesen der Gedanken des Gegenübers möglich. Ein Forscherteam aus Mexiko, Finnland und Großbritannien konstatierte zudem kürzlich, kleine Flunkereien fungierten als Klebstoff zwischen Personengruppen mit unterschiedlichen Ansichten und moralischen Werten. Chronische Lügner dagegen geraten laut diesen Untersuchungen ins Abseits ihrer Gemeinschaften.
Dass ich an diesem Morgen mit der Nase in der Tiefkühlpizza steckte, erscheint im Lichte dieser Erkenntnisse vielleicht nicht weniger erniedrigend. Aber doch verständlicher.
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