- Meinungsfreiheit mit doppelten Standards
Das Plädoyer der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, das eine Gefährdung der Meinungsfreiheit durch den Bundestagsbeschluss zum BDS sieht, hat heftige Kontroversen ausgelöst. In einem Gastbeitrag widerspricht der Dramaturg und Autor Bernd Stegemann den namhaften Unterzeichnern der Initiative und stellt zugleich die Frage, wer hier eigentlich wen cancelt.
Die Erklärung „GG 5.3 Weltoffenheit“ hat inzwischen einen Sturm in der deutschen Kulturlandschaft ausgelöst. Was ist passiert? Die Intendanten hochsubventionierter Kulturinstitutionen beschweren sich darin, dass sie in ihrer Meinungsfreiheit durch einen Bundestagsbeschluss eingeschränkt seien. In diesem Beschluss, den nachzulesen lohnt, wird sachlich aufgelistet, dass antisemitische Organisationen wie der BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) keine Steuergelder erhalten sollen und auch keine Veranstaltungen in Räumen machen dürfen, die der Bundestagsverwaltung unterstehen. Der Antrag wurde von der breiten Mehrheit des Parlaments mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Grünen und der FDP beschlossen.
Die Unterzeichner der Resolution GG 5.3 fühlen sich durch diesen demokratischen Beschluss empfindlich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt. In dieser gewagten Interpretation des Bundestagsbeschlusses liegen zwei entlarvende Widersprüche verborgen. Der eine betrifft das Verständnis, das die Kultureinrichtungen gegenüber der Meinungsfreiheit haben. Und der zweite betrifft den blinden Fleck ihres Kampfes. Beginnen wir mit dem ersten Widerspruch. Die Kulturinstitutionen und ihre zahlreichen Unterstützer im Feuilleton vertreten einen Doppelstandard der Meinungsfreiheit. An einem harmlose Beispiel lässt sich die Wucht ihrer Doppelmoral zeigen. Vor einigen Wochen wagte es ein Musikredakteure der Süddeutschen Zeitung, sich in einem polemischen Text über den Twitter-Moralismus des Pianisten Igor Levit lustig zu machen.
Ein antisemitischer Sonnenuntergang
Die Druckerschwärze war noch nicht getrocknet, als der Autor dafür deutschlandweit als Antisemit beschimpft wurde. Wer vorher nicht gewusst hatte, dass Igor Levit Jude ist, wäre erstaunt gewesen, denn diese Tatsache spielte in dem Text keine Rolle. Doch mit größter Selbstverständlichkeit sollte ein Journalist als Antisemit gebrandmarkt und damit aus dem Kreis derjenigen, die in der SZ veröffentlichen dürfen, hinausgeworfen werden.
Die Begründungen für seinen angeblichen Antisemitismus blieben zwar dürftig und mussten über seltsame Umwege hergeleitet werden, doch die Zeitung nahm die Beschuldigungen ernst und bat den Pianisten in einem reumütigen Text um Entschuldigung. Der um keine Polemik verlegene Maxim Biller sah sich daraufhin bemüßigt, seinem Freund Igor Levit sanft zu erklären, dass in dem Artikel eben soviel Antisemitismus stecke wie in einem Sonnenuntergang, nämlich gar keiner. Im Kontext solcher alltäglichen Debatten ist die Unterstellung des Aufrufs, dass durch den Bundestagsbeschluss ein missbräuchlicher Umgang mit dem Antisemitismusvorwurf befördert würde, besonders absurd.
Jede Differenzierung weicht die Front der Guten auf
Dieser Fall zeigt hingegen, dass in Deutschland oft und gerne der Antisemitismusvorwurf gemacht wird. Und nicht immer muss er auch zutreffen. Umso erstaunlicher ist es, dass dasselbe Milieu für den Umgang mit dem BDS, der unverhohlen das Ziel verfolgt, den Staat Israel zu schädigen, um ihn abzuschaffen, jetzt so viel Langmut predigt. Der Kampf für Meinungs- und Kunstfreiheit scheint in diesem Teil des wohlmeinenden Kulturbetriebs an der Grenze des eigenen Geschmacks und der eigenen Weltanschauung zu enden.
Geht es um Feuilletondebatten oder beispielsweise die Frage nach Auftritten für AfD-Politiker oder um Kritiker des Islam, wird mit voller Überzeugung der Kampf gegen die böse Meinung ausgerufen. Hier ist man sich plötzlich ganz einig, dass man diesen Stimmen den öffentlichen Auftritt verweigern muss. Und jede Differenzierung dient nur der Aufweichung der Front der Guten.
Zweierlei Maß
Doch geht es um den BDS, werden die großen Ideale der Toleranz beschworen. Ein einziges Zitat aus den zahlreichen Verteidigungsschriften, die gerade überall erscheinen, ist exemplarisch dafür: „Ist es wirklich so schwer zu verstehen, dass man gegen eine politische Haltung sein kann und trotzdem für das Recht dieser Person einsteht, sich zu äußern?“
So fragt mit gespielter Naivität die Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Ich möchte ihr direkt antworten: Nein, es ist nicht schwer zu verstehen. Es ist nur auffällig, dass die Institutionen, die sonst keine Schwierigkeiten damit haben, unliebsame Meinungen auszuschließen, gerade in diesem Fall auf eine Voltairesche Toleranz verweisen. Entlarvend haben ihre eigenen Studierenden sogleich eine Protestnote gegen ihre Direktorin verfasst, in der sie ausführlich auf die einseitige Tendenz der Lehrangebote verweisen.
Haben die Kritiker ihre Institutionen gefragt?
Es fehlen ihnen vor allem kritische Auseinandersetzungen mit dem islamischen Antisemitismus. So stellt sich bei diesem Aufruf auch die Frage, in wessen Namen die Unterzeichner sprechen. Haben die Intendanten der großen Kultureinrichtungen zuvor eine interne Diskussion darüber geführt, und wurde darüber abgestimmt, oder haben sie, wie offensichtlich die Direktorin des Instituts der TU Berlin, alleine gehandelt und ihre Institutionen ungefragt mit hineingezogen? Was hat beispielsweise der Stiftungsrat des Humboldt Forums dazu gesagt, in dem auch die Kulturstaatsministerin sitzt, die den Bundestagsbeschluss aus Überzeugung gut heißt?
Der blinde Fleck
Und damit kommt man zum zweiten Widerspruch. Doppelmoral produziert hartnäckige blinde Flecken, und dass keiner der vielen honorigen Unterzeichner den blinden Fleck des Aufrufs bemerkt, führt zur Ausgangsfrage zurück. Wie lässt sich die gemeinsame Front gegen den Bundestagsbeschluss erklären?
Oder anders gefragt: Woher kommt die Inbrunst, mit der man für die Freiheit kämpft, Israel in jeder denkbaren Form kritisieren zu dürfen, während man in allen anderen Bereichen wenig Probleme damit hat, unliebsame Meinungen auszuschließen oder ihren Ausschluss fordern zu dürfen? Diese Frage können die Unterzeichner des Aufrufs wohl nur selbst beantworten. Und ich hoffe, dass diese Diskussion dazu genutzt wird, etwas breiter über die Meinungskorridore in der deutschen Kultur nachzudenken, als es bisher der Fall ist.
Keine Reflexion der Doppelmoral
Was ich hingegen als Beleidigung des logischen Denkens empfinde, sind alle diejenigen, die es ablehnen, über Cancel Culture zu sprechen, weil es sie angeblich gar nicht gibt, und die nun dem Bundestag vorwerfen, er würde Cancel Culture betreiben. Dass die Unterzeichner ihre eigene Doppelmoral nicht reflektieren, stellt die eine Seite des Ärgernisses dar. Dass sie sich aber über die grundlegenden Unterschiede zwischen einem Israel-Boykott und beispielsweise dem Artikel eines Musikjournalisten nicht im Klaren sind, ist brisant.
Und damit ist man bei der Interpretation der Erklärung. Wie soll man ein vehementes Eintreten für den BDS verstehen, wenn er von einer Seite kommt, die sich sonst durch eine anti-Voltairesche Intoleranz auszeichnet? Wo sind die Veranstaltungen, bei denen mit der gleichen Inbrunst der Iran, Saudi Arabien oder Ägypten kritisiert werden?
Der BDS setzt Veranstalter unter Druck
Warum meinen die Unterzeichner, dass es einen Mangel an scharfer Israel-Kritik in der Welt oder gar in Deutschland gebe, der dringend ausgeglichen werden muss? Warum bedienen sie damit das antisemitische Vorurteil, dass man alle kritisieren dürfe, nur nicht die Juden? Ich bin ein überzeugter Vertreter der Meinungsfreiheit, doch gerade der Bundestagsbeschluss ist kein Beispiel für Cancel Culture. Denn wenn der Begriff irgendeinen Sinn machen soll, dann meint er einen Ausschluss, der von einzelnen Aktivisten gefordert wird und dem sich dann eine Institution unterwirft.
Der BDS praktiziert erfolgreich diese Technik. Er setzt durch eine Empörungswelle Veranstalter unter Druck, diejenigen auszuladen, die sich nicht von Israel distanzieren wollen. Der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe praktizierte genau diese Cancel Culture, als er auf einer Tagung in Südafrika eine Rednerin auslud, nur weil sie einen israelischen Pass hatte. Im Kern verfolgt der BDS dabei eine alternative Geschichtserzählung. Israel soll nicht mehr die Folge des Holocaust sein, sondern eine Kolonialmacht, die das Land der Palästinenser besetzt hält.
Das Existenzrecht Israels ist unverhandelbar
Der Beschluss des Bundestages lehnt diese Umdeutung der Geschichte kategorisch ab. Er ist sowohl in seinem demokratischen Verfahren als auch in seinen Empfehlungen das genaue Gegenteil zu den Cancel-Aktionen des BDS. Er stellt hingegen fest, dass das Existenzrecht Israels für die Bundesrepublik unverhandelbar ist. Aus diesem Grund sollen Steuergelder nicht für Veranstaltungen verwendet werden dürfen, auf denen die Existenz Israels bekämpft wird. Und der Beschluss ist eine Empfehlung und kein Gesetz, das heißt jeder ist frei, ihm zu folgen oder ihn zu ignorieren.
Dass nun diese Klarstellung der Rechtsform des Beschlusses von den Initiatoren des GG 5.3-Aufrufs als ihr Erfolg gefeiert wird, verkehrt die Wahrheit. Der Beschluss war immer schon eine Empfehlung, und daran hat sich auch jetzt nichts geändert. Es stellt sich darum umgekehrt die Frage, warum die Institutionen so ein großes Problem mit dieser Empfehlung haben. So landet man wieder bei der Ausgangsfrage, warum für die Vertreter der Hochkultur der Unterschied zwischen dem BDS und anderen Meinungen so schwer zu verstehen ist. Wenn sie sich an dieser Stelle weiter dumm stellen und eine abstrakte Meinungsfreiheit einfordern, die sie im konkreten Fall selbst oft genug nicht gewähren, so muss man sie immer wieder auf diesen Widerspruch hinweisen.
Mut zur Selbstbefragung
Über ihre Antriebe, warum sie gerade bei Israel keine Grenzen der Kritik akzeptieren wollen, müssen sie sich hingegen selbst Rechenschaft ablegen. Aber wenn sie nicht wollen, dass diese Einseitigkeit Anlass zu Spekulationen gibt, wäre eine öffentliche Selbstbefragung ratsamer als das Wehklagen darüber, dass man sich gerade bei der Israel-Kritik in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlt.
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... und doppelte Moral, das ist so alt wie die Menschheitsgeschichte. Wir und Die.
So viele Religionen, Ideologien, Parteiprogramme, jede hält sich für die einzig wahre und zieht ihre eigene Gewissheit daraus das alles andere nur falsch sein kann.
Heute feiern wir Jesu Geburt und mit ihm unser Weihnachtsfest.
Wie wäre es mit einem gemeinsamen Weltfeiertag für alle Religionen und Ideologien, ein Welt-Transzendenztag?
Vielen Dank, Herr Stegemann, für dieses klare und erhellende Statement. Es dürfte den Unterzeichnern eher egal sein, denn sie alle wähnen sich ja als die Vertreter des Guten. Die Doppelmoral und Scheinheiligkeit dieser intellektuellen Elite, muss man gnadenlos bloßstellen. Herr Levit ist das beste Beispiel. Auf der einen Seite lässt er sich feiern und schlägt sich auf die Seite der Gutmenschen und Weltrettungsaktivisten, nicht ohne marketingpolitisches Eigeninteresse, auf der anderen Seite sollte er sich nicht wundern, wenn er dafür auch (berechtigte) Kritik einstecken muss. Dass diese aber zugleich als angeblich "antisemitisch" etikettiert wird, offenbart, welch perfider Mechanismus dahintersteckt. Die Gutmenschen und Weltretter glauben ihre Meinungshoheit behaupten zu können, indem sie alle Kritiker in die bekannten Schubladen sortieren. Es ist daher wichtig zu signalisieren, dass es noch Menschen gibt, die das Spielchen der Links-schickeria mit der Meinungsfreiheit durchschauen.
Die Meinungen sind gegensätzlich, jeder sieht andere Dinge, vernetzt sie kausal auf andere Weise ... überzeugen wird man kaum jemanden.
Was mich am meisten stört, ist der offensichtliche Missbrauch von Begriffen, einer davon ist "Weltoffenheit". Das ist eine zarte, aber durchaus interessante Idee, was damit gemeint sein könnte. Aber diese plumpe Zurschaustellung, wie sie üblich ist und auch von der Initiative verwendet wird, finde ich ärgerlich.
Ganz offensichtlich sind die Vertreter der Initiative engagierte Menschen, die von weiten Teilen der Menschheit angekotzt sind, so wie die Welt eben ist: bunt und widersprüchlich. Es geht zuerst mal darum zu sagen, dass man selber Recht hat und die anderen Unrecht. Das kann man gerne so machen - aber was bitte ist dabei "weltoffen" und wäre "weltoffen" positiv, wenn soviele in der Welt so falsch denken?
In diesem Punkt scheint die verhasste (Meuthen-)AFD insofern ehrlicher, dass sie von ihrer (deutschen) Ecke spricht, nicht von der Menschhei
Die Heuchelei der Initiatoren ist in der Tat unerträglich, Herr Stegemann.
Immer nur da, wo es der eigenen Meinung passt Toleranz einfordern.
Mich würde interessieren, was sie gemacht hätten, wenn Dieter Nuhr, Lisa Eckhart oder Gott bewahre, jemand von der afd hätte unterschreiben wollen. Die wären wahrscheinlich umgehend aus der Initiative für „Weltoffenheit“ rausgecancelt worden.
Allen Redakteuren und Foristen trotzdem eine gesegnete Weihnachten.
sind seit Jahren unser Markenzeichen. Die Moralkeule und Antisemitismuskeule sind heutzutage gängige gern gebrauchte Disziplinierungsmittel, aus allen Richtungen und in alle Richtungen. Ich gebe zu, dass es mich amüsiert wenn eifrige Keulenschwinger vor lauter Eifer sich selber aufs M... hauen oder in den Moralfallstricken die sie so fleißig auslegen sich verheddern und sich selber zu Fall bringen. Mein Eindruck ist, dass heute viel öfter als früher die Moralkeule als Ersatz für gute Politik eingesetzt wird.
"Im Kern verfolgt der BDS dabei eine alternative Geschichtserzählung. Israel soll nicht mehr die Folge des Holocaust sein, sondern eine Kolonialmacht, die das Land der Palästinenser besetzt hält. ... Der Beschluss des Bundestages lehnt diese Umdeutung der Geschichte kategorisch ab."
Dazu zitiere ich mal aus dem Buch "Es war einmal ein Palästina" von Tom Segev:
"Die häufige Behauptung, die Staatsgründung sei eine Folge des Holocaust gewesen, entbehrt daher jeder Grundlage, ..." (S. 539)
Tom Segev ist vielleicht der anerkannteste israelische Historiker. Es ist schon ein starkes Stück, Tom Segev "alternative Geschichtserzählung" vorzuwerfen.
Absolute Zustimmung Herr Stegemann. Den Staat Israel gibt es nun mal und das sollte von niemandem mehr in Zweifel gezogen werden. Ja, man darf die Politik eines Staates an konkreten Themen kritisieren. Das gilt für Israel, wie für alle Staaten dieser Erde. Das hat aber sachlich und fair zu erfolgen und darf sich eben nicht nur daran ausrichten, das die einen alles kritisieren dürfen, die anderen nur ausgesuchte Themen und wieder andere überhaupt nicht, weil die "bäh" sind.
Ich habe die Verlinkungen alle gelesen und mag an der Beschlussempfehlung der Parteien nichts Verwerfliches finden. Das Organisationen nicht auch noch staatlich unterstützt werden, auf welche Weise auch immer, die das Existenzrecht Israels anzweifeln und bekämpfen ist für mich an der Stelle nicht verhandelbar. Ob Israel immer alles richtig macht? Welcher Staat tut das schon, gerade wenn er seit seiner Gründung faktisch ständig im Kriegsmodus lebt. Auch ich kritisiere den Siedlungsbau, habe aber nichts gegen Juden.
Ihr Artikel, Herr Stegemann: Ein richtiges kleines Weihnachts-Lese-Geschenk. Besten Dank.
Ein weiterer Punkt, der m. E. in dem sonst exzellenten Text leider zu kurz gekommen bzw. unerwähnt geblieben ist: Es ist zweierlei, ob eine Meinung „unterdrückt“ wird, oder ob empfohlen wird, für bestimmte Aktivitäten keine staatlichen Mittel mehr zur Verfügung zu stellen.
Leider werden diese beiden Dinge in den sogenannten „linksliberalen Milieus“ allzuoft konfundiert, aber „liberal“ bedeutet, dass der Staat etwas NICHT REGULIERT, dass er sich da schlichtweg RAUSHÄLT.