Reportage Daniel Pennac - Couscous und wilde Metaphern

Ein Spaziergang durch Belleville mit dem französischen Kultautor Daniel Pennac, Erfinder der Sippe Malaussène

Hier ist alles zu haben, von der Tuareg-Teekanne, 30-Francs-Klamotten, Säcken voll Kardamom bis zum fangfrischen Babyhai. Alle Arten von Kopfbedeckung tanzen durchs Getümmel: Tschador, Kippa, Burnus, Baseballcap. Eine moderne Synagoge lebt in Eintracht mit einer Videothek, die mit schriller arabischer Musik lockt. Aus der Bäckerei weht der süßschwere Duft orientalischer Patisserie. Koschere tunesische Restaurants laden zum Couscous. In den Tiefen dämmriger Teestuben, sicher vor der Mittagshitze, hocken Männer mit Wasserpfeifen.
Markttag auf dem Boulevard de Belleville, 20. Arrondissement im Norden von Paris. Am Rande, vor einem zugemauerten alten Kino, posiert ein Mittfünfziger: Pfeife und randlose Brille, ausgebeulte dunkelblaue Jacke und sockenlos getragene Sandalen, für ein Foto; schwitzend, etwas säuerlich, aber kooperativ. Mit unerschütterlicher Freundlichkeit redet Daniel Pennac Autolenkern, Afrikanern mit dicken Camions, algerischen Müttern mit gesti­kulierenden Kindern auf dem Rücksitz, gut zu: Bitte nicht hier parken, une photo, vous comprenez.
Niemand erkennt hier den Schriftsteller – unter anderem deswegen liebt Daniel Pennac Belleville. Dabei ist die schäbige, zum Abriss verurteilte Kinoruine hinter ihm mit ihrem Wahrzeichen, dem Zebra im Sprung, Hauptschauplatz seines Opus magnum, der 600 Seiten dicken Belleville-Saga «Monsieur Malaussène». Alles in einem: Kunstkino, Probebühne, Kantine und Aktionszentrale der Malaussène-Sippe, die das Haus gegen Spekulanten verteidigt und zugleich als Widerstandsort gegen die Bilderflut des Fernsehens behauptet. Heute, fünf Jahre danach, sind in der Realität beide Kämpfe verloren. «Tant pis pour la réalité», sagt Pennac, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen.
Daniel Pennac, 56, Schriftsteller mit Millionenauflagen, lebender Kultautor des Hauses Gallimard, bis vor kurzem auch noch Französischlehrer; in über 20 Sprachen übersetzt, vom Lettischen bis zum Chinesischen. Während sich viele Pariser Literaten als anti-narrative Minimalisten in der Tradition des nouveau roman verstehen, ist der Autor der (bislang) sechs Malaussène-Romane einer, der wieder erzählt, ein wahrer Großfabulierer.
Als in Deutschland die ersten drei Malaussènes in der Reihe rororo-Thriller herauskamen, war die Resonanz bescheiden. Das wurde anders, als Kiepenheuer & Witsch Pennac mit dem Essay «Wie ein Roman» (1994) unter die Fittiche nahm. Ein Katechismus des Lesens, dessen erster Satz lautet: «das Verb ‹lesen› duldet keinen Imperativ»; der das Recht, nicht zu lesen, proklamiert; dessen wichtigste Empfehlung heißt: Laut vorlesen. Diese pädagogische Anti-Pädagogik gefiel deutschen Eltern fernseh- und videosüchtiger Sprösslinge, aber auch den Kritikern.
Seit 1997 gibt es «Monsieur Malaussène», vorzüglich übersetzt von Eveline Passet, auf Deutsch. Nach dem – malaussènelosen – Schulschwank-Intermezzo «Große Kinder, kleine Eltern» folgen in diesem Herbst zwei neue Kurz-Malaussènes, mit denen sich Pennac der gebieterischen Forderung seiner Leser nach Fortsetzung beugte: «Adel vernichtet» und «Vorübergehend unsterblich». Zudem kündigt der Verlag die ersten drei Malaussène-Romane in der neuen Übertragung von Eveline Passet an.

Was ist das, ein Malaussène-Roman?

Erste Antwort: ein Zwitter zwischen Krimi und Märchen, «une conte de fées policier», wie ein französischer Kritiker gesagt hat. Am Ende von «Monsieur Malaussène» heißt es: «Der Gute war gerettet, die Trottel und die Bösewichte waren zum Teufel geschickt.» Aber was geschieht davor? Kaum möglich, einen Malaussène-Plot nachzuerzählen. Höchstens so: Es geht um Geburt und Tod und das, was dazwischen ist, das Leben und die Liebe. Oder auch so: Es ist eine turbulente Comédie humaine auf der Erzählbühne von Pennac, und das kaputte paradiesische Belleville, «sein» Belleville, liefert Personal und Kulissen.
Ja, Pennac ist ein glänzender Regisseur, ein Meister des überraschenden Drehs. Allein schon, wie «Monsieur Malaussène» anfängt. Ein früher Morgen: der Gerichtsvollzieher La Herse (die Egge) stürmt mit Assistent und Schlosser ein Haus am Boulevard de Belleville. Ziel: Pfändung in einer Wohnung von Mietverwei­gerern. Ein entsetzlicher Anblick erwartet sie: An der Tür hängt ein blutender gekreuzigter Junge. Pennacs erster Dreh: die Kreu­zigung erweist sich als Werk filmreifer Macquillage, der Junge, le Petit aus der Sippe Malaussène, der die Pfändung gilt, entwischt. Zweiter Dreh: La Herse dringt in die Wohnung ein, lässt alles abschleppen, hat allerdings im blinden Eifer der Justitia übersehen, dass es die Wohnung von Witwe Griffard ist, der klageführenden Hausbesitzerin.
Es lohnt, einen Augenblick beim Schlosser, Cissou la Neige, zu verweilen. Früher Kneipier in Belleville, assoziiertes Mitglied der Malaussène-Sippe und dem Koks zugetan, hat er bei jedem amtlichen Einsatz seinen Auftraggeber bereits düpiert. Eine Marx-Brothers-reife Technik: am Abend zuvor hilft er den Pfändungsbedrohten dabei, ihr Hab und Gut in Sicherheit zu bringen, und füllt die Wohnung mit wertlosem Krempel. Der wird am Morgen drauf abgeschleppt, und am Abend steht die Originalhabe wieder an Ort und Stelle.

Erzählen wie am afrikanischen Lagerfeuer

Ein weiterer Dreh: Der Erzähler kommt ins Bild, Benjamin Ma­laussène, umgeben von der ganzen Sippe, die ihn im Chor anfleht, die Fortsetzung zu erzählen, die Sache mit den 2676 vollgeschissenen Windeln, die sie in der Wohnung der Witwe Griffard verteilten. Demnach war das Erzählte eine zurückliegende Episode der Stammesgeschichte, die der Stamm von seinem Oberhaupt immer wieder gerne hört.

Dieser Benjamin ist der flexible Sachwalter Pennacs im Roman, nicht immer als Ich an der Erzählrampe, oft auch diskret auf der Hinterbühne. Erzählen ist seine wichtigste Aufgabe, aber er hat auch andere. Um nur ein paar zu nennen: Ältester Sohn einer «Maman», die er – von kulturquerbeet wechselnden Vätern – nur schwanger kennt; demnach «hochverantwortlicher Familienbruder», fürsorglicher Ernährer und Erzieher von bislang sieben Halbgeschwistern: Clara, Thérèse, Louna, Jérémy, le Petit (der kleine Jesus-Darsteller, mit kleinem l zur Unterscheidung vom gleichnamigen Camembert), Verdun, C’Est Un Ange – zudem eines epileptischen Köters namens Julius.
Des weiteren: Liebhaber der emanzipierten Journalistin Julie, die in «Monsieur Malaussène» von ihm ein Kind erwartet; Lektor in einem Verlag, dessen Name «Edition du Talion» ein finsteres Programm verheißt: Vergeltung Zahn um Zahn; geborener Sündenbock und Prügelknabe, ständig scheußlicher Verbrechen verdächtig (in «Monsieur Malaussène»: der serienweisen Häutung von Nutten bei lebendigem Leibe), aber noch jedes Mal am Ende unschuldig. Fazit: an einer Überdosis Empathie leidend.
Dies ist es genau, was ihn zum mündlichen Erzähler, zum Erzähler im wahren Sinn des Wortes prädestiniert: die flinke mimetische Einfühlung in die Figuren, und sei’s nur einen Satz lang. Modell ist das afrikanische Lagerfeuer, um das sich die Sippe versammelt. Der Erzähler beginnt mit der Geschichte, andere fallen ihm ins Wort, rufen ihm etwas zu, das er aufnimmt. Die Fama geht, Pennac habe die Malaussène-Geschichten jeweils auf diese Art im Freundeskreis ausprobiert, vornehmlich mit denen, die in transponierter Form schon einen Stammplatz beim Serienpersonal hatten.
Für die komische Wirkung heißt das: Was bei Pennac/Malaussène so frenetisches Amüsement auslöst, ist nicht so sehr das Erzählte, sondern der Erzähler mit seinem mimetischen Talent. Der Unterschied ist zu sinnfällig, als dass er nicht auch in der Sippen-Küche erörtert würde. «Man nennt ihn Stil», befindet Suzanne, die weise irische Betreiberin des «Zèbre».
Daniel Pennac mag diese Stelle. Er kaut zufrieden an seiner Pfeife, während wir die steile, von bunker­ähnlichen Wohnblocks gesäumte Rue de Ramponeau erklimmen, um durch den Parc de Belleville zum höchsten Punkt des Viertels zu gelangen. Gelegenheit, beim gemächlichen, nur durch Hundekot irritierten Gehen, seine Poetik zu erläutern. «Sie werden bemerkt haben, dass es bei mir keine Balzacschen oder Zolaschen Beschreibungen gibt», lässt er sich in sonorem klassischen Schulfranzösisch vernehmen. Gut, es kommen die «Realien» des Viertels vor, Stadtteilzerstörung, Dro­genprobleme, Prostitution, Rassismus, Verbrechen, aber nicht in einem realistischen Sinn. «Belleville wird nie wirklich beschrieben, es wird evoziert.»
Den Unterschied illustriert Pennac mit dem Anfang von «La fée carabine», dem zweiten Malaussène-Krimi. Es wird eine eingemummelte alte Frau beschrieben, die sich im Winter zentimeterweise über einen mit Glatteis bedeckten Platz in Belleville voranschiebt. Aber das Glatteis ist nicht nur Glatteis: «Es glich einer Karte von Afrika.» Von einem Flic mit blondem Bürstenschnitt beobachtet, durchquert die alte Frau also gerade die Sahara. Und dann der wie eine Filmsequenz aufgebaute Clou: Als er auf sie zugeht, um ihr seinen Arm anzubieten, zieht sie einen deutschen Wehrmachtsrevolver, eine P 38, und schießt ihn in den Schädel. Der explodiert mit den ganzen Ideen – die des Front National, wie der Leser schon weiß –, und die Blutfontäne bildet «eine hübsche Blume im Winterhimmel».

«Der ideale Pennac-Regisseur müsste den Autor verraten»

Schnitt. Le Petit, ein weiterer Beobachter der Szene, erzählt zu Hause im Hauptquartier der Malaussènes aufgeregt, er habe eine Fee gesehen: «Sie hat einen Bullen in eine Blume verwandelt!» Würde ein Junge in Wirklichkeit oder in einem realistischen Roman in Metaphern sprechen? «Er würde vermutlich in die Psychiatrie eingeliefert», beantwortet Pennac launig selber die Frage. Wenn schon Realis­mus, dann beansprucht er für seine Romane einen «metaphorischen Realismus». Das Bildhafte, ja Filmische seiner Schreibweise ist oft bemerkt worden, jedoch gibt er zu bedenken: «Ich schreibe keine Bilder, sondern Metaphern, die der Leser im Kopf zu Bildern umarbeitet.» Der Unterschied sei dem Regisseur Yves Boisset schmerzlich klargeworden, der sich als bisher einziger an der Verfilmung eines Malaussène-Krimis – «La fée carabine» – versuchte: ein realistisches Missverständnis.
«Der ideale Pennac-Regisseur müsste sich die Freiheit nehmen, den Autor absolut zu verraten.» Pennac vergleicht es mit dem Problem der Übersetzung: «Da die Argots, die ich verwende, in anderen Sprachen nicht existieren, muss der Übersetzer kreativ sein.» Ein Anlass, Eveline Passet, seine deutsche Übersetzerin, zu preisen: Sie erschafft in der Tat den ihm scheinbar aus der Hand wachsenden Pennac-Sound, diese kunstvolle Kombination aus klassischem Französisch, einer am amerikanischen roman noir à la Chandler geschulten Metaphorisierung und den diversen Argots (Gauner-, Jugend-, Immigrantenslang) ganz neu. Das ist Pennac soviel wert, dass er ihr ein Prozent von den Tan­tiemen abgibt.

Bandenkriege in Belleville

Oben auf dem Hügel, wo in winkligen, kopfsteingepflasterten Gassen noch etwas vom Arbeiterviertel des 19. Jahrhunderts erhalten ist, tut sich nach Süden hin das hitzeflimmernde Panorama der Stadt auf: der Riegel der Wohnblocks aus den 70er Jahren, dahinter die neue blinkende Skyline und das Strichmännchen des Eiffelturms. «Von hier aus sieht man das architektonische Massaker von Belleville in der Ära Giscard.» Es spricht der Alt-68er: «Es gibt Kriegsverbrecher, aber es gibt auch Friedensverbrecher.» Das Verbrechen ist laut Pennac nicht nur ästhetisch, sondern auch sozial, Giscards Wohnbaupolitik ganz einfach «criminogène».
Dass Kriminalität und Bandenkriege in «seinem» Belle­ville nicht ethnisch, sondern städtebaulich bedingt seien, gehört zum fes­ten Überzeugungsbestand Pennacs. «Es sind hier lauter Menschen hergekommen, die etwas Wesentliches verloren haben, ihre Heimat, und hier nichts anderes wollen, als friedlich zu ko­existieren.» Er zählt die Einwanderungswellen auf: 1915 die Armenier nach dem Massaker in der Türkei; die Juden nach den Pogromen in Polen und Russland und der Verfolgung in Hitlerdeutschland; die Maghrebiner, Schwarzafrikaner und Viet­na­mesen im Gefolge der Auf­lösung der französischen Kolonien; schließlich die chinesischen Kaufleute nach dem Abzug der Amerikaner aus dem Chinesenviertel Saigons. In der Mischung, die hier entstand, sieht Pennac nichts weniger als «eine verwirklichte Utopie». Hat er sich deshalb für Belleville als Lebensort entschieden? Nein, so kann man es nicht sagen. Dass er als frisch diplomierter Lehrer 1969 hierherzog, hatte pragmatische Gründe: Ein befreundeter Philosophieprofessor hatte ihm eine günstige Wohnung zur Miete angeboten. Er hatte hier auch keinen Job; seine erste Stelle war außerhalb von Paris in einer Internatsschule in Soissons. Doch gleichwohl, mit den Kulturen, die Pennac hier antraf, ist er biografisch seltsam verwoben: Bis er mit 14 in ein französisches Internat einrückte, wurden seine Lebensorte durch den Vater, einen französischen Kolonialoffizier korsischer Abkunft, bestimmt.
 

«Millionär zu werden ist Zufall»

In Kurzfassung: geboren 1944 in Casablanca als Daniel Pennacchioni; früheste Kindheit in Idar-Oberstein, wo der Vater Besatzungsdienst leistete (ein einziges deutsches Wort hat sich ein­ge­­prägt: Das Fenster); mit fünf in Djibouti (quälende französische Sprachübungen); dann, unter anderem, Brasilien, Vietnam. Seinen Vater beschreibt Pennac als einen liberalen, geistreichen Mann; legendär sein Bonmot: «Ich arbeite an der Hexagonisierung des französischen Empires.» Als der Sohn 1973 sein erstes Buch veröffentlicht, eine Abrechnung mit seinem Wehrdienst («Le service militaire à qui sert-il?»), nimmt er aus Rücksicht auf den Vater, der inzwischen General ist, den nom de guerre Pennac an.
Das lange Leben in Gruppen hat ihn geprägt: Internatsjahre als Schüler; Soldat; Internatsjahre als Lehrer, das summiert sich zu beinah zwei Jahrzehnten. Wie verändert einen das? Man ist im sozialen Dauertraining – «nichts ist lebendiger als eine Klasse mit 30 Wilden» –, lernt dabei aber auch, gegen den Druck von außen eine Innenwelt zu errichten. Benjamin im Wort- und Handgemenge mit seiner Sippe: das ist offenkundig auch Niederschlag einer biografischen Erfahrung. Pennac lächelt. «Mein Leben ist ein bisschen paradox.» Und präzisierend: «Je suis un solitaire convivial.»
Vor einem Jahr hat der «gesellige Einzelgänger» seine letzte Stelle an einer Privatschule im 7. Arrondissement aufgegeben. Wie bekommt ihm das Leben ohne? «Es gibt keinen Bruch.» Von Jahresbeginn bis jetzt hat Pennac nicht geschrieben, sondern ist als Gast durch Klassen gezogen, in Schulen der Pariser Banlieue, aber auch in Lyon, St. Etienne, in der Bretagne, zudem im Ausland, in der Türkei, in Palästina, England, Spanien, Italien. Was den Schriftsteller gemeinhin zum Reisen bringt, die Einladung zu Konferenzen und Kolloquien, findet Pennac unnütz. In den Schulen, da findet er das Leben. Und was tut er dort? Er liest seine Bücher laut vor – was sonst. Und aus dem Gespräch über die Figuren entwickeln sich Rollenspiele, entstehen kleine Theaterinszenierungen.
Als Lehrer hat er 6000 Francs verdient, jetzt hat er Millionenauflagen. Hat sich sein Lebensstil verändert? «Nein, ich lebe genauso wie vor 15 Jahren.» Er hat es nicht angestrebt, Millionär zu werden, er sieht es als «Zufall» an. Immerhin, räumt er ein, hat er seine Pariser Wohnung gekauft und braucht nicht mehr zu rechnen. Er geht fast nie aus, er hat dieselben Freunde wie früher. «Sie treffen mich nie auf Cocktails.» Es sei denn, ein befreundeter Schriftsteller bekommt einen Literaturpreis. Und sein Stammlokal wechselt er schon gar nicht.
Das «Aux Deux Rives» an der Rue des Pyrénées, der pla­tanenbeschatteten gutbürgerlichen Einkaufsstraße im oberen Belleville, ist ein bescheidenes tunesisches Restaurant, so bescheiden, dass die chinesische Einrichtung des Vorgängers – rot lackierte gedrechselte Möbel, gelb schummernde Laternen – unverändert übernommen wurde. Areski, der junge Patron, begrüßt Pennac mit Handschlag. Hier isst er tagaus, tagein sein Couscous, mit und ohne Journalisten. Heute ein Makoul, mit gedämpftem Gemüse und ein wenig Olivenöl, ohne Fleisch, dazu Pfefferminztee.

Die Freundin Nathalie Sarraute

Auch in den Malaussène-Romanen wird ständig Couscous gegessen, und nicht selten im «Aux Deux Rives». Und dann kommt unvermeidlich – wie in «Vorübergehend unsterblich» – der Moment, wo das Couscous zur Metapher wird. «Der Grieß war wie ein Zuwachs an Stille, der in unseren Teller rieselte.» Noch einen drauf: «Stiller Regen der Körner ... bald waren es Dünen.» Das Essen demnach: eine «Wüstendurchquerung».
Guter Anlass, gegen den Feind jeder Metaphorisierung, den nouveau roman, zu wettern. Für Pennac ist er eine «Katastrophe», die das Land zwischen 1960 und 1985 heimgesucht hat, eine «Beschlagnahme der Literatur durch die Universität», unter Vermittlung von Strukturalismus, Linguistik, Semiotik etc. Immerhin, einen Verdienst billigt er dieser «formalistischen Diktatur» zu: Da die Literatur, die zählte, die man gelesen haben muss­te, unlesbar geworden war, wurde viel übersetzt: die Südamerikaner, die Deutschen, die Amerikaner; mit Vorliebe las Pennac die amerikanischen Krimis in der Série Noire, wo er später – nach etlichen Kinderbüchern – bei Gallimard debütierte.
Lässt er gar nichts vom nouveau roman gelten? Doch, zwei Autoren werden seiner Ansicht nach übrigbleiben, weil sie «absolut freie, nicht domestizierbare Temperamente» waren: Nathalie Sarraute und Georges Perec. Mit der Sarraute war Pennac in den letzten Jahren befreundet, sie habe die Malaussène-Bücher wegen ihrer «Parteinahme für die Freiheit» geschätzt. Als sie «Au bonheur des ogres», den ersten Malaussène, las, habe sie ihn gebeten, ihn nachts anrufen zu dürfen, wenn sie sich fürchtete. Pennac, lächelnd: «Sie war auch ein kleines Mädchen». 
Ansonsten steht Schreiben nach intellektuellem Konzept ganz oben auf der Ekelskala. Da ist Pennac sogar Cèline als Kronzeuge recht, der befand: «Auf dem Gebiet des Romans gibt es nichts Vulgäreres als eine Idee.» Die Vehemenz, mit der Pennac gegen die rationalistische Erblast der französischen Romanciers wettert, verwundert nicht sonderlich: Es ist auch Vorwärtsverteidigung. Kein Text von Pennac nämlich, der nicht einen Diskurs über das Schreiben enthielte; in «Monsieur Malaussène» ist er zusätzlich verknüpft mit einem über die Bilder.
Da stülpt Pennac über das Ganze die Kinometapher – im Erscheinungsjahr des Romans, 1995, wurde der Film 100 Jahre alt –, macht ein Kino zum zentralen Ort und erfindet ein mythisches Kino-Pionier-Paar: Job, Herr über eine Cinemathek in den Alpen, mit dem Projekt des einen Films des Jahrhunderts beschäftigt, und Liesl, eine österreichische Jüdin, die dafür die Töne des Jahrhunderts sammelt; der fertige Film, von dem es nur eine Kopie gibt, wird in einer Verfolgungsjagd der MacGuffin des Romans. Barnabé, ein Enkel von Job und Liesl, ist das Pendant von Christo: Er verhüllt die Dinge nicht, sondern lässt sie – etwa das Kino «Zèbre» – verschwinden und wieder erscheinen; zudem duldet er kein Foto von sich, da er an seinem eigenen Un­­sichtbarwerden arbeitet.
Auf der anderen Seite wird die Welt der «schlechten» Bilder pompös inszeniert: Prostituierte werden mit Video gefilmt, während ihnen ein kunstwahnsinniger Triebtäter bei lebendigem Leib die Haut abzieht, um in den Besitz der Tätowierungen – Kreuzabnahme-Motive des florentinischen Meisters Pontormo – zu gelangen. Benjamin, der zu Unrecht Verdächtigte, muss in der Untersuchungshaft die schlimmste aller Folterungen erdulden: unabschalt­bares Fernsehen, und sein Prozess – O. J. Simpson lässt grüßen – wird in alle Welt live übertragen. Hier schlägt sich bei Pennac allzu viel moralischer Eifer in Überkonstruiertheit nieder: Es wird Kunstgewerbe.
Ein anderes Problem ist der Hedonismus, die all­umfassende Sinnlichkeit, die Pennac reichlich über den
ganzen Roman ausschüttet: «die Feier des Lebens». In Belle­ville treibt man es, anders als in den gutbürgerlichen Arrondissements, offenbar besonders gern. Einsame Spitzenreiterin: Benjamins «Maman», die heilige Mutter-Hure, deren originellste Schwängerung in «Vorübergehend unsterblich» beschrieben wird: durch einen jüdischen New Yorker Cop im Koma, der sich als Roman­figur (von Jerome Charyn) herausstellt. Um das Treiben der Sippe herum inszeniert Pennac noch ein romantisiertes, kreischendes Rotlicht-Milieu, dessen gesunder Fröhlichkeit auch die Schilderung bestialischer Nuttenmorde keinen Abbruch tut.
Auch Benjamin und Julie tun es oft, zeitweilig tage- oder gar wochenlang. Dabei fällt indes eine seltsame Disproportion auf: Dem Quantum der behaupteten exzessiven Betätigung steht die diskrete, fast kindliche Art ihrer Beschreibung gegenüber. Schlichter gesagt: Es gibt bei Pennac keine harten, scharfen Stellen. Der Sex, auch er, unterliegt der Metaphorisierung, das Kühnste noch, wenn Benjamin und Julie «ineinander eintauchen». Pennacs wendiger Erzähler lässt sich die Chance eines Selbstkommentars nicht entgehen: «Über dieses Thema wirst du von mir nichts anderes als Metaphern zu hören kriegen», informiert Benjamin vorsorglich das werdende Kind in Julies Bauch.

«Wenn ich Houellebecq lese, dann vergeht mir für drei Wochen die Liebe»


«Liebe ist eine Metapher – auch wenn ihr Resultat sehr real sein kann.» Pennac, seit 30 Jahren mit einer Journalistin verheiratet, Vater einer Tochter, lächelt. Dabei schaufelt er noch eine Flanke von der Couscous-Düne auf den Teller. Wie denkt er über Michel Houellebecq und seine Dämonisierung des Hedonismus der 68er-Generation? Wie empfindet er den tristen Realismus der Sexualszenen in «Elemen­tarteilchen»? Pennac wird etwas schmallippig. Kein Zweifel, die depressive Stimmung dieses Romans widerspricht zutiefst seinem auf Harmonie gestimmten Universum. Die eigene Generation – «Söhne und Töchter von Tätern, immerhin!» – selber wieder zu Tätern, zum Ursprung eines neuen universalen ­Unheils zu erklären: dazu hat er in Benjamin, dem ewigen Sohn und Sündenbock, einen wünschenswert deutlichen Kommentar abgegeben. «Wenn ich Houellebecq lese, dann vergeht mir für drei Wochen die Liebe», sagt Pennac kauend. Für so lange? «Sagen wir, für drei Tage. Drei Stunden!» Er wird geradezu heiter. «Dann bin ich wieder geheilt.»
Kann er sich vorstellen, aus Belleville wegzuziehen? «Vielleicht.» Was er mehr als die politisch-ökonomische Zerstörung fürchtet: dass Belleville so etwas wie das Montparnasse von vor hundert Jahren oder wie das Village in New York wird. Schon jetzt ziehen viele Künstler hierher, weil die Mieten noch nicht so hoch sind. Schrecklich die Vorstellung für Pennac, «ich könnte mir auf der Straße bald nur noch selber begegnen». Ja, dann wäre es Zeit wegzuziehen, nach Marseille zum Beispiel. Jetzt, nach diesem Gespräch, fährt er für mehrere Monate ins Vercors, zwei TGV- plus anderthalb Autostunden von Paris, auf das gebirgige Hochplateau zwischen Grenoble und Valence, wo er ein einsam gelegenes Bauernhaus besitzt. Dort in der Abgeschiedenheit schreibt er, dort sind alle Malaussènes entstanden. Gibt es nach soviel Büchern prallvoll von Stimmen wie ein Bus Schulkinder nicht auch das Bedürfnis nach einer ruhigen, entspannten Schilderung? Pennac, nach einer Pause: «Ja, Sie haben recht.» Er arbeite an einer Sammlung von Erzählungen, mit längeren Beschreibungen, fast ohne Dialoge, objektiv. «Pseudoobjektiv», korrigiert er. Das heißt, die Malaussène-Serie ist abgeschlossen? «Für den Augenblick, ja.» Er trinkt seinen Pfefferminztee aus. «Aber wenn ich wieder eine Idee habe...»


Bücher von Daniel Pennac

Monsieur Malaussène
Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1997, 607 S., 45 DM

Adel vernichtet – Ein Malaussène-Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 208 S., 36 DM

Vorübergehend unsterblich
Kiepenheuer & Witsch Taschenbuch, Köln 2000, 78 S., 12,90 DM

Wie ein Roman
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 197 S., 29,80 DM

Große Kinder, kleine Eltern
Taschenbuch, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 255 S., 18,90 DM

Kamos gesammelte Abenteuer
Beltz & Gelberg, Weinheim 2000, 261 S., 24,80 DM


Eveline Passet hat fünf der sechs Bücher Pennacs aus dem Französischen übersetzt; Uli Aumüller übersetzte «Wie ein Roman»

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