- Wo sind die Elefanten?
In Amerika erscheint Gott als Papierkorb, im Iran verkleiden sich Frauen zu Kakerlaken, aus China kommt ein Meisterwerk, wie es noch keines gab: Die Berlinale wird zum politischen Ländertreffen. Und der Wettbewerb zur Lachnummer
Das Internationale der Internationalen Filmfestspiele zeigt sich am Gedanken des Runden Tischs: Hier kommen die zusammen, die sonst selten miteinander reden, und sie haben eine gemeinsame Sprache, die Sprache des Films. Im aktuellen Jahrgang der Berlinale sind China, der Iran und die Vereinigten Staaten von Amerika zum einerseits imaginären, andererseits handfesten Dialog geladen. China überrascht mit einer Extraportion Fatalismus, im Iran blüht die Dekadenz, Amerika bietet das Erwartete: Optimismus und Selbstverbesserung bis zum Abwinken, auf chinesischen Pfaden freilich.
Der Skurrilitätenkosmos des Gus Van Sant
Gus Van Sant ist Patriot. Seit „My Private Idaho“ von 1991 kommt kaum einer seiner Filme ohne wehende Nationalflagge aus. Verschroben (und schwul) ist Regisseur Gus Van Sant freilich auch, sodass die Stars and Stripes, vor denen nun ein querschnittsgelähmter Cartoonist seine Läuterungsgeschichte zum Besten gibt, Zitat sein kann. Damit endet die jüngste amerikanische Nationenerkundung „Don’t worry, he won’t get far on foot“, angesiedelt in den siebziger Jahren, der Carter-Ära, als der mühsam trocken gewordene Alkoholiker John Callahan (Joaquin Phoenix) in seiner Behinderung eine Chance entdeckt, zur wahren Bestimmung durchzudringen, dem Künstlertum, dem Zeichnen politisch sehr unkorrekter Witze. Keine Lesbe, kein Farbiger, kein Jesus ist vor Callahans Sarkasmus sicher: eine ideale Hauptfigur im Skurrilitätenkosmos des Gus Van Sant.
Ein iranischer Serienkiller
Als geheilt wird Regisseur Hassan nicht aus dem iranischen Beitrag „Khook“/„Schwein“ entlassen. Doch als Lebender, und das ist eine Menge, denn „Khook“ handelt von einem Serienkiller: „Jemand läuft durch die Stadt und ermordet unsere Filmemacher.“ Hassan lebt noch, das grämt ihn –„Würde er mich töten, hätte man Respekt vor mir!“. Die eigene Mutter tröstet ihn in einer aberwitzigen Szene, „keine Sorge, er kommt schon noch zu Dir, ich verspreche es Dir.“ Ein wüster Genremix ist „Schwein“ von Mani Haghighi, eine knallbunte Klamotte aus dem Teheraner Künstlerleben vor allem, aber auch Krimi, Musical, Gespenstergeschichte. Der weinerliche Wüterich Hassan zeigt sich egoman und anmaßend. Kein Mustermoslem weit und breit.
In der persischen Welt, in der Zottelkopf Hassan lebt, gibt es „massenweise Irre“, Gesellschaftspartys von spätrömischer Dekadenz, sexy Frauen in feuerroten Kostümen, mal Kakerlaken für einen Werbespot darstellend, mal Heavy Metal spielend aus dem Reich des Satans, von AC/DC bis Black Sabbath, und – als wäre das nicht synkretistisch genug – jederzeit mit Instagram mobilisierbare Massen. Sie rehabilitieren Hassan, den eine Bloggerin zu Unrecht des Mordes bezichtigte. Angesichts der sehr realen Debatten und Gefährdungen in der Islamischen Republik um Soziale Medien, Massenbewegungen, Freiheit und Abweichung, ist der parabolische Kern von „Khook“ bemerkenswert. Vieles ist in diesem Iran möglich, auch das Abwegige, Abgründige, eines aber nie: dass Frauen ihr Kopftuch ablegen. Oder ihre Kakerlakenkappen.
Im Rollstuhl überwand John Callahan gut 40 Jahre vorher seine Sucht, auch dank der Hilfe eines esoterisch angehauchten Millionenerbes und Gurus (Jonah Hill). Callahan lernt, auf gut amerikanische Weise, er müsse allen alles verzeihen und sich selbst begnadigen. Gott sei ein Papierkorb, in den man seine Probleme werfen müsse, damit sie verschwinden, „es gibt Entdeckung, Offenbarung und Momente der Wahrheit“. Der blonde Vollbart-Guru zitiert gern und zeitgeistkonform Laotse. Die übertrieben psychologisierende, stellenweise in der Endlosschleife aus Absturz und Aufbruch gefangene Erweckungskomödie ist vergnüglich, ohne originell zu sein. Wir lernen: Patriotismus kommt auch im Rollstuhl vom Fleck.
Chinesische Momente der Wahrheit
Momente der Wahrheit, Offenbarungen gar? Daran können die Chinesen nicht glauben, die Regisseur und Drehbuchautor Hu Bo in seinem vierstündigen Spielfilmdebüt „An Elephant Sitting Still“ versammelt. Eine Trabantenstadt im Umland von Peking, gemacht aus Schmutz und Abfall, Brachen und Geschrei, Hochhäusern mit engen Wohnungen. Niemand lacht hier, niemand geht schnell. Staub liegt auf den Seelen. Leben ist Agonie, sagt der Lehrer, der seiner Lieblingsschülerin Avancen macht; sein Leben sei wie ein Müllcontainer, der überlaufe, bekennt ein Kleinganove, der den Tod seines Bruders rächen will; es habe keinen Zweck, aufzubrechen, „es gibt nichts anderes als dieses Leben, also überzuckere ich es“, weiß ein Rentner, den der Sohn ins Pflegeheim abschieben will. Verpfuscht sei ihr Leben, schreit die Schülerin der Mutter entgegen. Solche Sätze fallen oft. Hu Bo zeigt ein China der tristen Sorte, Nihilismus ohne Sonne, Dasein ohne Lebenswille, und doch ist da Schönheit, wache Schönheit in der Erzählweise, den Bildern, der rauen Musik, dem kunstvollen Plot. Die Traurigen wollen sich aufmachen nach Manzhouli. Dort, in der Inneren Mongolei, gebe es einen Elefanten, der nur still da sitze, immer nur sitze. Den wollen sie anschauen. So etwas Lustiges hätten sie noch nie gehört. Lustiges?
Hauptsächliches im Nebenprogramm
Der an einem einzigen Tag spielende „Elephant“ ist eine chinesische, ganz ungöttliche, ganz melancholische Komödie, eine Geschichte vom Menschen und seinen Anfechtungen, wie sie nur alle Jubeljahre gelingt, ein Meisterwerk, das ergriffen macht. Das graue Tier weitet sich, ohne dass es je gesichtet wird, zum Symbol aller Sehnsüchte, die uns einen, in Teheran, in Los Angeles, Peking und Jena. Nicht vom Wissen verderbt ist unser Blick, der weiß, dass Hu Bo sich im Oktober 2017 das Leben nahm, 29-jährig, nach Fertigstellung des Films und vor seiner Welturaufführung nun in Berlin.
Nein, auch ohne dieses Wissen bleibt es ein Skandal, dass „An Elephant Sitting Still“ nur in der Nebenreihe „Forum“ lief, nicht im offiziellen Wettbewerb. Dessen Plätze waren für teils belanglose, teils ärgerliche Filme von David und Nathan Zellner („Damsel“), Erik Poppe („Utoya 22. Juli“), Axel Petersen („The Real Estate“) oder Philip Grönig („Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“) reserviert. Es ist eine Schande. Ein Unglück noch mal. Wo seid ihr Elefanten, wenn man euch braucht?
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in einer kritischen Phase.
Ich würde schon das Durchstehen predigen wollen.
Aktive Menschen sind nun mal keine Elefanten, aber die Reise wäre es doch gewesen... :
Ich kann nur einen Tipp geben, wie es gehen könnte, mit einer Prise Schrillem, Schrulligkeit und Schrägem.
Zudem darf man sich nicht übersteigen wollen, man muss nicht der/die Beste sein, man darf es aber werden.
Es gibt einen Schauspieler, der das für mich verkörpert, I can`t help it, Woody Harrelson, vielleicht auch zum Teil, weil er Jennifer Lawrence so bedingungslos anhimmelt:)
Man hat es nicht leicht, aber leicht hats einen und deshalb halte ich mich an leicht verrückten Sachen fest.
Mir hilft es.
fällt mir noch ein, dass es eine Anspielung auf "Die Reise nach Westen" sein könnte?
Der Affenkönig kommt, glaube ich, bis nach Indien, wofür evtl. nur noch der Elefant steht.
Sie haben recht - aber was ist mit dem russischen Film Dovlatov und dem deutschen Transit?
„Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
Friederich Nietzsche
wäre es sinnvoller, um Berlin und seiner "Berlinale" eine Gesamtmauer zu bauen mit für drei Tage geöffnetem Tor. Es ließen sich sämtliche private Dieselautos und Fernlastzüge einfahren und die Berliner Luft wäre richtig KNORKE!