- Die Welt ist noch nicht fertig
Die Weihnachtsgeschichte ist die wohl berühmteste Erzählung der Menschheit. Doch die Menschwerdung scheint nicht in unser modernes Denken zu passen. Vielleicht bleibt eine Sehnsucht nach einer Wirklichkeit, in der Unmögliches möglich wird und in der die Normalität zerreißt.
Martin Walser hält die beiden ersten Kapitel des Lukasevangeliums für das größte Stück Literatur, das er kennt. Da zieht ein Meister der Feder vor einem Kollegen seinen unübersehbaren Hut. Dazu hatte er auch allen Grund, denn der Text hat in der Tat beachtliche literarische, insbesondere kompositorische Qualitäten. Wer zwölf Minuten Lesezeit investiert, kann Walser Recht geben.
Kunstvoll verschränkt Lukas die doppelte Erscheinung des Erzengels Gabriel. Zuerst kündigt dieser die wunderbare Geburt Johannes des Täufers an und überbietet sie dann mit der noch wunderbareren Ankündigung der Geburt Jesu. In dem, was dann geschieht, steckt eine Architektur von sinnreichen Parallelen, von Vor- und Querverweisen. Ihren Schlussstein bildet der Auftritt des zwölfjährigen Jesus im Tempel. Mit der erstaunlichen Belehrung der Schriftgelehrten durch einen Jüngling verweist Lukas zielsicher auf dessen späteres Lebensthema, die Auseinandersetzung mit dem Gottesmedium Schrift.
Die zum Kultobjekt gewordene Schrift war nach dem babylonischen Exil der Jerusalemer Judäer das klassische Medium des biblischen Monotheismus geworden, das die Kultbilder des Polytheismus ersetzen konnte. Man hatte die Heilige Schrift erfunden. Grapholatrie statt Idolatrie. Ihre Spur zieht sich bis in das neuzeitliche vor allem protestantische Christentum. Auch der Jude Jesus hat vor der Tora den schuldigen Respekt, will aber mehr, als eine Schrift je kann.
Große Wirkungsgeschichte
Die kompositorischen Qualitäten des Lukas werden leicht übersehen, weil uns meist nur die glänzendsten Perikopen vorgesetzt werden. Diese suchen tatsächlich auch schon solitär ihresgleichen. Die Weihnachtsgeschichte natürlich, mit dem nächtlichen Engelsboten, den Hirten auf dem Feld und dem Stall von Bethlehem. Zuvor schon jene zauberhafte Begegnung des Engels Gabriel mit einer Jungfrau, von der schon der Prophet Jesaja gewusst hatte.
Welche Wirkungsgeschichte kann sich mit der dieses Verses Lk 1,28 messen? „Gegrüßet seist du Maria voll der Gnade“: Ave Maria - oft und herzergreifend und sehr süß vertont, o dulcis virgo Maria… Der Gruß des Engels wird zum Mantra der frommen Beter und kommt seit Jahrhunderten laut oder gemurmelt über ihre Lippen. Immer noch läutet hie und da um 12 Uhr mittags die Glocke zum Angelus. Dem evangelischen Norden mag das zu viel des Guten sein, aber die Worte des „englischen Grußes“, immergleich wie die Perlen des Rosenkranzes, verdienen durchaus dieses performative Framing, denn sie umkreisen das Mysterium der Episode, in der Lukas aus der Berührung von Himmel und Erde eine Geschichte gemacht hat. Kunstvoll inszeniert er nichts weniger als den Höhepunkt einer Heilsgeschichte, in welcher der Geist des großen Gegenübers ins Menschenfleisch einzieht.
Wuchtiger bringt es der Evangelist Johannes auf den Punkt: „Und das Wort ist Fleisch geworden.“ (1,14) „Verbum caro factum est“ : Inkarnation! Er braucht für sein Weihnachten nur einen einzigen Satz! Diesmal war das Wort nicht Schrift, sondern Mensch geworden.
Der brennende Dornbusch
Auch die Vorgeschichte wird meist unterschlagen, denn all das ist nicht denkbar ohne die große Verheißung, die in der sprachlogischen Singularität des Gottesnamens enthalten ist. Es lohnt sich, diesen einmal unter die Lupe zu legen, denn eigentlich nimmt in ihm das Mysterium von Weihnachten seinen Anfang. Auch er ist in einer Geschichte verpackt. Es ist die große Gründungsgeschichte von der Befreiung der Kinder Israels aus dem Sklavenhaus Ägypten. Sie nimmt Fahrt auf, wenn der Erzähler einen Dornbusch brennen aber nicht verbrennen lässt. Damit installiert er eine Wirklichkeit, in der Unmögliches möglich wird. Indem er seine Leser/Hörer in ein brennendes Feuer blicken lässt, zerreißt er eine Koordinate ihrer Normalität. Wo ließen sich die unumkehrbaren Taten der Zeit besser verfolgen, als wenn man zusieht, wie alles in einem Feuer zu Asche vergeht? Diesmal nicht! Er behauptet nichts weniger als die Suspendierung der Zeit.
Immanuel Kant, unser gerade wieder gefeierter Erkenntnistheoretiker und Erklärer der normalen Wirklichkeit hätte das nicht genehmigen können, denn bei Ihm gelten für alle empirischer Erkenntnis immer schon, „a priori“, die „reinen Anschauungsformen von Raum und Zeit“. Ohne diese Koordinaten unserer Vorstellungskraft scheint nichts in unseren Kopf zu passen. Das Buch Exodus dagegen amplifiziert die Wirklichkeit und sprengt am Fuße des Sinai den Zeitkäfig. Die Abwesenheit der Zeit kann nicht erlebt aber sie kann gedacht und in einer erzählten Unmöglichkeit installiert werden. Sie steht wie ein Vorzeichen vor dem, was dann folgt.
Auch diese Erzählung läuft auf einen Höhepunkt zu. Das ist die Offenbarung jenes „Namens“ mit dem sich Mose nach seinem Auftrag, das Volk aus dem Sklavenhaus Ägypten herauszuführen, bei seinen Leuten legitimieren soll.
Unter Theologen ist es ein verbreiteter Topos, dass in der Bibel nicht philosophiert wird. Das wird meist mit dem Argument begründet, dass das Hebräische nicht über eine mit dem Griechischen oder Deutschen vergleichbare Abstraktionsfähigkeit verfügt. Da ist etwas Wahres dran. Aber sollen wir im Ernst annehmen, dass dem alten Israel vernünftige Argumente, Philosophie also, fremd gewesen seien? Seit John Longshaw Austins berühmtem Aufsatz „How to do Things with Words“ wissen die Sprachphilosophen, dass man nicht nur mit Worten handeln, sondern auch mit Handlungen sprechen kann. Wenn man diese dann nacherzählt, entstehen Geschichten, die es in sich haben. Die Texte der Bibel sind ein Urwald in dem überall philosophische Keime sprießen.
Die vorenthaltene Präsenz
Der „Name“ mit dem Mose sich bei den Kindern Israels legitimieren soll, wenn sie ihn fragen, in wessen Auftrag er zum großen Exodus, der Flucht aus dem Sklavenhaus Ägypten aufruft, ist ein sprachliches Gebilde, das seinesgleichen sucht. Die vier Buchstaben JHWH, „Ich bin da“ sind einzig. Sie behaupten ein Dasein, das nicht besichtigt werden kann und das überhaupt keine empirische Entsprechung hat. Mit JHWH wird ein neues Kapitel der Religionsgeschichte aufgeschlagen. Die sichtbare Anwesenheit dieses neuen Gegenübers bleibt ausdrücklich vorenthalten. Das (Gottes-) Bilderverbot wird am Anfang der Zehn Gebote wuchtig eingeschärft. Was für eine Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung!
Wenn es dann in Ex 3,15 heißt: „Das ist mein Name für immer und so wird man mich anrufen von Geschlecht zu Geschlecht.“ folgt daraus, dass JHWH „Ich bin da“ niemals und nirgendwo nicht da ist. Mit der Suspendierung der linearen Zeit hatte uns die Erzählung ja schon bekannt gemacht, hier wird sie noch einmal deutlich bekräftigt. Diese einzigartige ubiquitäre Präsenz, die sich zugleich den Sinnen vorenthält, ist eine Wirklichkeit, die ihrem Begriff auf ungewöhnliche Weise entspricht, nämlich ausschließlich dadurch, dass sie wirkt.
Die Folgen dieser Singularität kann man nicht übertreiben. Sie wird zu einer wirkmächtigen Verheißung. Wenn der ubiquitäre Gottesgeist wirklich niemals und nirgendwo nicht da ist, müsste er sich doch auch einmal in einem Menschen – wo sonst? zeigen. Das ergibt sich wie von selbst aus dem so einzigartigen „Namen“. Aus ihm erwächst so etwas wie eine vorjesuanische Christologie. Israel wartet auf die Parusie eines Messias, griechisch „Christos“. Ohne diese Erwartung hätte man Jesus von Nazareth nicht gefragt ob er es ist, „der da kommen soll“ (Mt 12,3) Das Warten auf einen solchen Christus erzeugt ein neues Lebensgefühl. Die Welt ist noch nicht fertig. Dieses Noch nicht, färbt den Blick und macht sensibel für das, was aussteht. Die Latenz, die sich damit aufspannt, wirkt wie ein Vorzeichen einer neuen nach vorne und nach oben offenen Wirklichkeit.
In diesen dunklen Tagen eines wieder aufgeflammten Antisemitismus ist es für alle, denen das Fest etwas bedeutet, höchst angezeigt, sich daran zu erinnern, wie tief die Pointe von Weihnachten, also die Erzählung davon, wie der Gottesgeist mit dem Menschenfleisch in Kontakt gekommen ist, im Alten Testament verwurzelt ist. An der Glut aus dem brennenden Dornbusch entzündet sich das Licht von Bethlehem. Die Verwandtschaft von Judentum und Christentum springt noch deutlicher ins Auge, wenn man das Warten auf einen Messias der noch kommen soll, mit dem Warten auf den Christus vergleicht, der nicht mehr da ist, dessen Wiederkunft aber ebenfalls erwartet wird.
Ob und wie diese Ereignisse auf der Zeit-Koordinate Immanuel Kants eingetragen werden können, wird immer öfter bezweifelt. Was aber bleibt, ist jene Latenz, die zur Energiequelle werden kann. Der biblische Monotheist, ob Jude oder Christ, geht auf Distanz zu dem, was ist; sein Bewusstsein wird eschatologisch fermentiert. Wenn sein Blick auf ein Sklavenhaus fällt, sucht er den Exodus.
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Dieser Beitrag von Herrn Nordhofen ist für mich nur schwer zu verstehen. Ich gebe mir Mühe. Bin halt kein Theologe. Doch nun lese ich die ersten beiden Kapitel des Lukasevangeliums.
Allen vom Cicero, den Redakteuren und seinen Lesern, wünsche ich gesegnete Weihnachten und ein gutes neues Jahr 2025.
Was ich mir politisch für Deutschland wünsche, bringt Johann Walter zum Ausdruck:
"Wach auf, wach auf, du deutsches Land!
Du hast genug geschlafen. .................
Die Warheit wird jetzt unterdrückt.
will niemand Wahrheit hören;
die Lüge wird gar fein geschmückt,
man hilft ihr oft mit Schwören;
dadurch wird Gottes Wort veracht',
die Wahrheit höhnisch auch verlacht,
die Lüge tut man ehren"
Nur einer kann u. wird unsere Welt "fertig" machen, u. das ist der, welcher sie geschaffen hat.
Wer an den Schöpfer u. Vollender, den wir Gott nennen, glaubt, entnimmt der Bibel, daß der Welt ein turbulentes Ende bevorsteht, von dem wir weder Tag noch Stunde kennen. Deshalb sollten wir vorbereitet sein auf das endgültige "AUS" u. auf das Gericht, welches dann über jeden von uns gehalten wird.
Viele belächeln ihre gläubigen Mitmenschen.
Es sei ihnen unbenommen. Gott zwingt niemanden. Er hat uns die Freiheit gegeben, uns in allem für oder gegen ihn zu entscheiden.
"Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang auszuhalten", hat Karl Rahner einmal gesagt.
Richtig.
Aber es heißt vor allem, sich der unendlichen Barmherzigkeit u. Liebe Gottes anzuvertrauen und seinem Frieden, den die Welt nicht geben kann.
In diesem Sinne wünsche ich allen, die dies lesen, ein frohes Weihnachtsfest
u. ein friedvolles Jahr 2015, in dem Glaube, Hoffnung u. Liebe niemals fehlen werden.
Jesus wurde geboren in einer Scheune - auch damals gab es Wohnungsnot. Er war im Grunde - für Ungläubige - ein unehelich geborenes Kind, seine Eltern waren arm, es gab auch noch kein Bürgergeld. Er wurde geboren in einem besetzten Land, Rom war der Vorgänger der USA. Das auserwählte Volk wartete schon 4000 Jahre auf den Erlöser. Aber die einzigen, die ihm huldigten, waren Vertreter anderer Völker. Im Gegenteil, als Jesus später seine Mannschaft um sich versammelte und gegen die Besatzung predigte und Wunder bewirkte, wurde er zu einer politischen Gefahr für die herrschende Klasse. Das Volk wurde durch die Regierenden derartig aufgehetzt, dass sie zum Schluss seinen gewaltsamen Tod befürworteten. Wer aus dieser Geschichte keine Rückschlüsse auf unsere derzeitige Situation schließen kann, hat den tieferen Sinn der Weihnachtsgeschichte nicht verstanden. Es setzt sich meist erst das negative durch, bevor es besser wird - alles, wirklich alles wiederholt sich im Kreislauf der Weltgeschichte
Herr Fiedler, schließe mich Ihrem Kommentar an und den Weihnachtgrüßen an.
Ebenso dem Text von Johann Walter, den ich bis jetzt nicht kannte.
Habe auch ein Lied von ihm gefunden, was in die Weihnachzeit paßt und mir aus der Seele spricht. Hier nur die ersten vier Zeilen:
"Allein auf Gottes Wort will ich
mein Grund und Glauben bauen.
Das soll mein Schatz sein ewiglich,
dem ich allein will trauen."