Schwerpunkt: Krise als Chance - About Schmidt

Metamorphosen eines Mehrheitsdeutschen. Eine kritische Würdigung zu Helmut Schmidts 85. Geburtstag

Vor Augen bleibt, wie über so viele Jahre Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt im kleinen Konferenzraum der «Zeit» nebeneinander sitzen, beide trotz ihres Alters wach, beide mit sehr eigenen Maßstäben und Urteilen ausgerüstet, und beide schätzen und respektieren einander offensichtlich. Bis zum Tode «Marions», wie Schmidt sie nannte, blieb das so. Eine eigentümliche deutsche Paarung war da zusammengekommen, alles andere als selbstverständlich. Und das nicht nur, weil «die Gräfin» als junge Frau aus preußischer Familie dem deutschen Widerstand eng verbunden war, während der Ex-Kanzler ein Soldat der Wehrmacht war, der in den letzten Kriegsjahren am liebsten an vorderster Front gekämpft hätte, um eine Niederlage noch zu verhindern. Beim Lesen der gerade erschienenen Helmut-Schmidt-Biografien werde ich dieses Bild der beiden nicht los: als habe sich in der letzten «Paarung», «Helmut» und «Marion», zweierlei deutsche Bürgerlichkeit miteinander versöhnt. Hat sie?
 
Wenn man begreifen will, wie die Bundesrepublik sich nach dem großen Zivilisationsbruch selbst lernte, dann lohnt sich die biografische Exkursion in ein Politikerleben, wie Hartmut Soell sie mit «Helmut Schmidt. Vernunft und Leidenschaft» vorlegt, ungemein. Soell geht akribisch vor. Er differenziert aus. Er lässt mitlesen in Briefen, Notizen und Reden. Er schweift ab. Er blickt auch auf den Rand. Er stellt in den Kontext. Man muss sich hineinziehen lassen. Material endlos, aber es lohnt sich. Er ist der dezente Biograf, der die Mosaiksteine liefert. Er geht auf Samtpfoten. Man darf auch andere Schlüsse ziehen. 
 
Und dennoch, auch diese Methode führt zu einem Bild: Auf eine viel komplexere Weise ist Schmidt der «Mehrheitsdeutsche», als den man ihn gerne sieht. Die «Mehrheit» der Deutschen wurde befreit. Repräsentant der winzigen Minderheit war der Emigrant Willy Brandt, der «andere Deutsche». Brandt war Anarcho-Syndikalist, junger Sozialist, kaum erwachsen, schon Emigrant und auf den Barrikaden gegen das große Falsche. Schmidt kam aus britischer Kriegsgefangenschaft und wurde 1946 Sozialdemokrat. Später hieß es, er sei der «richtige Kanzler in der falschen Partei». Nie war das richtig. Sozialdemokrat ist er, aber einer aus der deutschen Mehrheit.
 
Um das zu verstehen, auch um zu begreifen, was Schmidt derart populär macht, muss man sich auf die deutsche Mitte einlassen. Was ist das? Das Gefühl, in einem Familienalbum zu blättern, gewinnt man bei Hannelore («Loki») Schmidts Memoiren noch weit unmittelbarer als bei Soells Rekonstruktion des Hamburger Sozialmilieus. In lockerem, selbstironischem Parlando erzählt «Loki», wie sie im Zug «vierte Klasse» fuhr, weshalb sie nicht aus kleinbürgerlichen, sondern aus «kleinen Arbeiterverhältnissen» stamme, warum die Eltern zu einer Art «Ur-Kommunismus» neigten und «nie flaggten» (gemeint sind Hakenkreuz-Fahnen), die Schülerin aber auch «Kriegslieder» sang. Wie sie Lehrerin an einer (bei den Nazis verpönten) koedukativen Schule wurde und weshalb sie bei der Kinderlandverschickung unter Bettdecken schliefen, die sonst schon mal für die Besucher des Nürnberger Parteitags gebraucht wurden. Es ist das eher hingetupfte Selbstbildnis eines BDM-Mädchens und einer autonomen, kenntnisreichen Frau, arm, aus der «vierten Klasse» eben, die im Januar 1942 ihren Freund und ehemaligen Mitschüler, aus der «dritten Klasse», kleinbürgerlich, heiratet. Sie widmet sich Kindern und der Natur. Botanik wird ihr alles. Ihm wird Politik alles.
 
Mister Mustermann – mit jüdischem Großvater In der Politik allerdings bedeutet eine Lebenswunde etwas anderes als anderswo. Bei Schmidt ist dies die Erfahrung als «Soldat der Wehrmacht»: Man meint, damit geradezu Mister Mustermann vor sich zu haben. Geboren am 23. Dezember 1918 als Sohn einer Kleinbürgerfamilie, die sich «im Aufstieg ins mittlere Bürgertum» befand – wie es seine Frau mit feinem Sinn für soziale Differenzen beschreibt –, und an der untypisch nur ist, dass der Großvater Jude war. Gegen die Wehrmachtsausstellung des Reemtsma-Instituts hat Schmidt sich leidenschaftlich gewehrt, weil er dahinter etwas pauschal Denunziatorisches witterte, das mit der Wehrmacht auch ihn traf. Mit der Wehrmacht, so der «offizielle» Biograf Soell, der als Erster ungehindert sämtliche verfügbaren Quellen studieren konnte, habe «mindestens eine Teilidentifikation» stattgefunden, als «Ersatz für das, was der Nationalsozialismus nicht mehr bieten konnte».
 
Nach dem Krieg hat Schmidt das Gefühl nicht mehr verlassen, als Beteiligter an der Eroberung des Ostens die objektiven Voraussetzungen für das Vernichtungswerk des NS-Regimes mitgeschaffen zu haben. Dieses Schuldgefühl hat sich auf unterschiedliche Weise geäußert: öffentlich häufig in Polemiken gegenüber Älteren, von denen er meinte, sie hätten alles verhindern können, wie gegen Jüngere, die sich aus seiner Sicht in Sackgassen verrannten; und privat in Argwohn gegenüber Menschen, die Widerstand geleistet hatten.
 
Politiker sind Chiffren, Texte, die «gelesen» werden. Immer stehen ihre Lebensläufe stellvertretend für andere. In dem Sinne war Schmidt stets «der Deutsche». Soell erinnert an die «Paarung» Schmidt-Strauß: Interessant war nicht, was sie unterschied, interessant war, was sie verband. Neben ihrer Eloquenz, Rationalität und Demagogie war es das Bewusstsein davon, Millionen anderer zu repräsentieren, denen Diktatur und Krieg in ähnlicher Weise die Unbeschwertheit ihrer Jugend gestohlen hat. Beide deuteten das «Nie wieder!» in seinen politischen Konsequenzen jeweils anders. Während Strauß recht bald aus dem Schatten der Geschichte heraustreten wollte, was den Unterschied zur deutschen Rechten einebnete, bestand Schmidt – sein Sonderverhältnis zur Schuld der Wehrmacht einmal beiseite – in jeder großen Parlamentsdebatte darauf, dass die demokratische Integrität der SPD anerkannt wurde; da war nicht der Hauch eines Versuchs, aus Opportunitätsgründen die Vergangenheit vergehen zu lassen. Auch Strauß war ein «Mehrheitsdeutscher».
 
Schmidt wiederum wollte auch in «Ersatzhandlungen» – vehement wandte er sich beispielsweise gegen die Diffamierungen, unter denen Brandt und Wehner litten – Abbitte leisten für das, was er insgeheim als «Jugendsünde» (Soell) ansah, nämlich «den Nazis zeitweise auf den Leim gegangen zu sein». «Die Deutschen» hat er damit entlastet. Nicht per Freispruch, es gab kein richtiges Leben im falschen. Aber es war auch nicht ausgeschlossen. Es war, folgt man ihm, falsch und richtig.
 
Ein heikles Verhältnis zu Willy Brandt Viel später ist noch einmal expressis verbis darum gestritten worden, ob auch Schmidt ein «richtiges» Deutschland vertritt. Oskar Lafontaine hatte das angezweifelt und ihn tief verletzt mit der Bemerkung von den «Sekundärtugenden», die er vertrete und mit denen man auch ein KZ leiten könne. Schmidt war empört, es gab die richtigen Tugenden in den falschen!
 
Es waren gerade die identitätsstiftenden Konflikte der Republik, über die Notstandsgesetze wie auch über die Legitimität und den Anspruch der APO, die Haarrisse zwischen Helmut Schmidt und Willy Brandt offenbarten. Bei dem einen, Schmidt, wird weit spürbarer als bei dem anderen, dass er die demokratische Gründungs- und Aufbauleistung stärker gewürdigt wissen wollte und jeden «Anfangsverdacht» gegenüber der neuen Demokratie ablehnte. Brandt wiederum zeigte Verständnis für die Proteste gegen die Notstandsgesetze und die Haltung der Jungen überhaupt. Das Misstrauen gegen die demokratische Verlässlichkeit der Parteien könne man nicht einfach zurückweisen, sondern müsse es erklären. 
 
Anders Schmidt: genau an der Stelle wechselte seinerzeit das mentale Klima. Plötzlich sah es so aus, als spreche der «Mehrheitsdeutsche» gar nicht mehr für eine Mehrheit in diesem Land. Die Republik war allmählich liberaler geworden und lernte, ihre Konflikte selber auszutragen und nicht mehr Stellvertreter wie Schmidt, Adenauer, Strauß für sich agieren zu lassen. Ursache für dieses Misstrauen der Jungen sei die «Last der Geschichte», grübelte Brandt während der APO-Konvulsionen laut, im tiefsten Sinne sei sie nicht Vergangenheit geworden. Nicht nur der demokratischen Substanz, sondern «gewiss auch sich selbst und seiner Generation», so Soell, vertraute Schmidt mehr als Brandt.
 
Das Wort vom «Soziologenpack», das Schmidt im Furor herausgerutscht sein soll, führte zu einem lebhaften Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und dem aufstrebenden Sozialdemokraten, der sich als Hamburger «Flutenbezwinger» einen Namen gemacht hatte. Ihm wurde mehr zugetraut. So viel galt er schon, dass man ihm widersprechen musste. Schmidt machte einen Kotau. 
 
Verneigung vor der wissenschaftlichen Disziplin, Herr Adorno! Aber in seinem Zorn über die nutzlose «Soziologie» hatte er ausgedrückt, was der deutsche Jedermann immer noch dachte. 
 
Herr Kodderschnauze & Selbstbewusst Es muss hineingespielt haben, dass er unvermittelt eine Generation aus den Startlöchern kommen sah, bevor er dort «oben» angekommen war, wohin er ja wollte. Denn machtbewusst war dieser jugendliche Herr Kodderschnauze & Selbstbewusst durchaus, und er verbarg es auch nicht sonderlich. Er wollte, keine Frage, mitreden in der Republik. Ein Anspruch, der nicht unpopulär war. Vor allem aber hatte er klar gemacht, dass er auch etwas zu sagen hatte, insbesondere zur deutschen Sicherheit, zur Lage zwischen West und Ost – zu den großen Fragen mithin.
 
Wenn man so will: Schmidt brachte die «Sekundärtugenden» mit und präsentierte sie demonstrativ. Er kannte die Deutschen, wie er sich kannte, obwohl es diese Tugenden eben keineswegs allein waren, die ihn antrieben. Vielleicht hat ihn die Angst vor der Liberalität der Gesellschaft auch nie verlassen. Könnte in einem zu liberalen Laden nicht wieder alles außer Kontrolle geraten (obgleich es ja nicht die Liberalität war, an der die Weimarer Republik zerbrach)? War er selbst damals, möchte man fragen, «außer Kontrolle»? Eine deutsche Angst. Und während er sich noch auf der Startbahn in dieser Republik befand, die sich selber neu lernen musste, da ausgerechnet sollte die «Mitte» zur Disposition gestellt werden. Die Mitte, an deren politischer Definition er selber großen Anteil hatte. Es sieht so aus, als habe er das direkt bei «den Studenten» abgeladen, während er indirekt und in Wahrheit auf jemanden wie Brandt zielte. Standen plötzlich zwei deutsche Wege gegeneinander, unversöhnlich? 
 
Etwas davon flackerte gelegentlich auf. Viel später versöhnten sich die alten Herren, Brandt und Schmidt. Nur Brandts Wut auf Wehner blieb, über das Grab hinaus. «Helmut», der jetzt 85 wird, und «Marion» nebeneinander, bis kurz vor ihrem Tod: die kritische Liberale und der «Vernunftsozialdemokrat». Zwei deutsche Wege, aber sie fügten sich. Ohne Willy Brandt oder Marion Gräfin Dönhoff hätte die Republik weniger Anspruch auf moralische Reputation. Mit Helmut Schmidt hat sie um die Anerkennung gerungen, dass Deutschland wieder eine «normale» Demokratie sei, trotz und mit der Majorität. 
 
Definitionsmacht darüber, was Mitte ist Bei Soell erscheint der junge Schmidt «parlamentarischer», als man ihn in Erinnerung hat – mit frühen, überaus klugen Beobachtungen zum Parlament. Der späte Schmidt und starke Kanzler wusste, dass Politiker am besten «Stärke» demonstrieren, sich als Dezisionisten ausgeben, auch wenn sie gefesselte Riesen sind, und dass sie sich an den Sowohl-als-auch-Menschen reiben müssen, wie Brandt es war, wenn sie dem Affen – dem Mainstream – Zucker geben wollen. So weit die legitime Inszenierung. Man konnte sich ja auf die Sachkompetenz, die letztlich zugrunde lag, verlassen.
 
Aber hat Helmut Schmidt nicht zugleich auch eine schwache Stelle überdecken wollen? Niemand sollte mehr über seinen Kopf hinweg definieren, was Mitte ist. Und als er dann in der bestimmenden Position war, wollte er sich diese Mitte – in seiner Jugend zählte er ja auch dazu, und genau das war das Falsche – und die Definitionsmacht über sie nicht wieder entwinden lassen. Nicht von Brandt, nicht von den Achtundsechzigern, von Franz Josef Strauß ohnehin nicht, auch nicht von den Grünen. Das hat ihn gelegentlich auftrumpfen lassen, rigoros gemacht in seinen Urteilen, hat ihn Maßstäbe überdeutlich und Fehlurteile unbeirrt verteidigen lassen, so umsichtig und moderat er in der Sache meist war.
 
Noch hat man das Gesamtbild dieses Mannes nicht vor Augen. Das gilt auf ganz andere Weise übrigens auch für Michael Schweliens Aufzeichnung der Lebensgeschichte Schmidts. Es hat den Kanzler a. D. nicht gestört, dass Schwelien gerade zu jenen Achtundsechzigern gehört, denen er mit Inbrunst gern ihre Selbstüberschätzung vorhält, aber schließlich sitzen der «Zeit»-Reporter Schwelien und der Herausgeber in den Konferenzen des Blattes friedlich an einem Tisch. Solche Nahaufnahmen aus dem Zeitungsalltag, die natürlich zeigen, dass der Mann mit «Politik als Beruf» nicht über Nacht Journalist geworden ist, hat Schwelien – darin ganz Zeitungsmann und nicht Historiker wie Soell – zum Anlass genommen, den Lebenslauf mit ganz eigenen Schwerpunkten aufzuzeichnen: mit Schmidts Verhältnis zur Protestgeneration, zur RAF bis hin zur Schleyer-Entführung beispielsweise, während die Sicherheits- oder Ostpolitik trotz des Titels «Ein Leben für den Frieden» keineswegs im Vordergrund steht. 
 
Etwas von dem jungen Schmidt strahlt immer noch von dem alten Herrn aus, wenn er unter «Kollegen» über «Wichtigtuer» wie Joschka Fischer herfällt, die nicht wissen, wie man die Laienspielschar in Washington wirklich anpackt! Marion Dönhoffs Satz, von diesem «verlässlichsten Freund» habe sie nie erfahren, was ihn im Innersten bewegt, steht mit Recht ganz am Ende – Michael Schwelien täuscht nicht vor, er habe derlei entschlüsseln wollen. Er bietet: süffige Lektüre plus Deutungsverzicht.
 
Schon jetzt lässt sich sagen, dass Hartmut Soells voluminöse Biografie, auch sie ohne Dechiffrier-Ehrgeiz, den Zugang zu einem prägenden Politikerleben und einer achtjährigen Kanzlerschaft verschafft, auf den man hoffen konnte. Noch sind diese Jahre Schmidts ganz präsent, noch kann man sie aus historischer Vogelperspektive schwer deuten. Insofern war Soell gut beraten, vorsichtig zu bleiben, dezent und manchmal fast tastend vorzugehen und die Person bei allem Respekt nicht zu heroisieren, sondern im Kontext begreiflich zu machen.
 
Immerhin hat man damit Metamorphosen eines Deutschen vor Augen. Was Schmidt von der Mehrheit abhebt – Soell beschönigt diese Metamorphosen nicht. Diese Generation, soweit sie sich politisch überhaupt exponierte, musste beweisen, dass Demokratie und Frieden in Deutschland zu Hause sein können. Das war ihr zivilisatorisches Minimum. Dabei musste sie «noch lernen» und «schon können» – diese Gleichzeitigkeit war ihr Gesellenstück.
 
Zur «deutschen Normalität» gehört auch – das macht gerade das Beispiel dieses Ausnahmepolitikers klar – ein solcher beschädigter Lebenslauf. Schmidt lernte noch und konnte schon. Womit er viel vergessen machte von dem, was vorher war, nicht jedoch alles ungeschehen. Wie denn auch.


Gunter Hofmann ist «Zeit»-Redakteur, lebt in Berlin und veröffentlichte zuletzt die Deutschlandstudie «Abschiede. Anfänge»


Hartmut Soell Helmut Schmidt. Vernunft und Leidenschaft DVA, München 2003. 900 S., 39,90 €
 
Michael Schwelien Helmut Schmidt.  Ein Leben für den Frieden Hoffmann & Campe, Hamburg 2003. 400 S., 23,90 €
 
Hannelore Schmidt Loki. Hannelore Schmidt erzählt  aus ihrem Leben Hoffmann & Campe, Hamburg 2003. 280 S., 19,90 €

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