() Günter Grass - 1977
Unser Parzival
Mit der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler war Günter Grass zum Sieger der Geschichte avanciert: antibürgerlich, antiklerikal, als Autor unkonventionell und gleichwohl etabliert. Jahrzehntelang galt er als die Ikone der deutschen Linken
Der Deutschen liebste Helden über die längste Zeit ihrer Geschichte hin waren leider nicht intelligent. Siegfried vermasselte alles schon bald nach seinem guten Start bei den Burgunderkönigen in Worms. Dietrich von Bern vermochte es zeit seines Lebens nicht, sich von seinem Lehrer und Waffenmeister Hildebrand zu emanzipieren. Und Parzival schließlich geistert als der sprichwörtliche tumbe Tor durch die Geschichte. Alle aber erlebten Zeiten besonderer Verehrung. Waren die Deutschen obenauf, blickten sie gern auf Siegfried. Ging es ihnen schlechter, bevorzugten sie Parzival. Dann war der Wunsch nach Erlösung und die Abneigung, Fragen zu stellen. Aber natürlich war auch Parzival zuerst ein Raufbold.
Wie ein Parzival kam Günter Grass Anfang der sechziger Jahre in die Politik, ausgestattet mit allen Vorzügen, die es braucht, um hier dem Publikum nicht verdrießlich zu werden: ein genialischer Dichter, ein ungehobelter Kerl, gegen die richtigen Leute rücksichtslos und mit allen Lastern begabt, die jedermann auch gern hätte. Wenn so einer von Moral spricht, gerät er unmöglich in Verdacht, eine Betschwester zu sein.
Genau das war gefragt in der jungen Bundesrepublik, nachdem die bedeutende Dominanz zumal der katholischen Kirche, die in den fünfziger Jahren weite Teile des öffentlichen Lebens gerade für junge Menschen beherrscht hatte, rasch ins Abflauen kam.
Wie ein Parzival war Grass ins Engagement gestürmt. Als in Berlin der Gründervater der Gruppe 47, Hans Werner Richter, eine Wählerinitiative aus Schriftstellern für den Kanzlerkandidaten Willy Brandt zusammenrief, hatte zunächst weder er noch irgendeiner sonst daran gedacht, den Autor der „Blechtrommel“, die 1959 erschienen war, dazuzubitten. Grass war länger schon als Lyriker und Verfasser experimenteller Dramen bekannt. Nach vertrautem Muster gehört so jemand ins Wolkenkuckucksheim, indes nicht ins Wahlkontor. Grass jedoch, der nach eigenem Bekunden in Paris beim Einsatz französischer Sicherheitspolizei gegen Demonstranten begriffen hatte, wie wichtig es sei, sich für demokratische Politik zu engagieren, drängte in die Reihen der Brandt-Helfer. Rasch wurde er dort der wichtigste, und seiner Parzival-Rolle blieb er auch insofern treu, als er sich nach einer enttäuschenden Niederlage jungen Leuten anschloss, die gegen die CDU randalierten.
Es kamen die wilden sechziger Jahre, und Grass war eben dabei, reich zu werden. So konnte er sein Engagement auf mehrere Ebenen ausbreiten. Er stiftete Büchereien für Bundeswehrkasernen, er belehrte ein bald gelangweiltes Theaterpublikum über Brechts schwer deutbares Verhalten am 17. Juni 1953, und er bezog unerschrocken Stellung gegen die verstiegensten Vorstellungen der 68er. Weit weniger wandelbar als manche seiner Schriftstellerkollegen blieb er hartnäckig an der Seite der SPD. Als nach deren Wahlsieg 1969 Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt wurde und in der Folgezeit etwa fünfhunderttausend junge Leute SPD-Mitglieder wurden, war Grass zum Sieger der Geschichte avanciert: antibürgerlich, antiklerikal, als Autor unkonventionell und gleichwohl etabliert. Daran wollte und daran konnte die sich rapide von den Resten der Arbeiterbewegung entfernende Linke in den siebziger Jahren teilhaben.
Die neuen Sieger hatten eine Konterbande in den Lagerräumen ihrer Dickschiffe, über die kaum je offen gesprochen wurde, die sich aber in Gesten und Ansprüchen unmissverständlich zur Geltung brachte. Den gewesenen Emi-granten im Kanzleramt und den ehemaligen SS-Mann auf dem Olymp verband ein massiver Nationalismus. Brandts derartige Empfindungen waren in keiner Hinsicht von der nationalsozialistischen Vergangenheit kontaminiert, sie hatten nicht einmal mit dem Nationalismus des Bürgertums vergangener Tage etwas zu tun. Sie mochten über die Arbeiterbewegung vermittelte Ursprünge in den linken Freiheits- und Einheitsbestrebungen haben, wie sie in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts viele junge Menschen begeistert hatten. Sicherlich hatte Grass die Einflüsse aus den ersten Quellen seines nationalen Bekenntnisses verdrängt, dafür wirkten spätere umso lebendiger in ihm.
Kaum jemandem hat er für das Glück seines öffentlichen Lebens mehr Dankbarkeit bezeugt als Hans Werner Richter und der Gruppe 47. In der Erzählung „Das Treffen in Telgte“, die ein Bild des Gruppenlebens in die Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg versetzt, hat er ihr ein Denkmal geschaffen, das dank der vollendeten Meisterschaft ihres Autors weit über den Anlass hinaus Rang und Bedeutung hat. Diese Gruppe 47, die für einen wie Günter Grass hätte erfunden sein können, war nun allerdings eine bizarre Kombination aus linker Sammlungsbewegung und nationalistischem Stoßtrupp.
Hans Werner Richter hatte die Absicht verfolgt, den aus der Vergangenheit bekannten Kreisen und Bündnissen rechter und konservativer Intellektueller, deren Wiedererstehen er fürchten mochte, etwas Überlegenes entgegenzusetzen, wobei die notwendigste Leistung zunächst darin bestehen sollte, das Gegeneinander linker Autoren zu verhindern, das zumal in den zwanziger Jahren so verhängnisvolle Ergebnisse gezeitigt hatte. Die Leute, die Richter in dieser Absicht zusammenrief, ließen sich zwar unter Zielen linker Politik, wie sie nach 1945 auf die Tagesordnung gehörte, zusammenbringen, aber sie waren deshalb noch keine Linken. Sie waren im Gegenteil verabschiedete Soldaten, Landser, Mannschaftsdienstgrade, raue Gesellen, die es liebten, unter sich zu bleiben. Emigranten waren bei ihnen nicht übermäßig erwünscht. Dem Lyriker Paul Celan erteilten sie eine beißende Abfuhr, und der Germanist und Heine-Forscher Klaus Briegleb hat in einer sorgfältig argumentierenden Studie sogar zu bedenken gegeben, ob die Gruppe 47 nicht partiell antisemitisch gewesen sei. Solche Aussagen werden in Anbetracht einzelner Gruppenmitglieder immer anfechtbar sein, kein Zweifel indes dürfte daran bestehen, dass Günter Grass sich bei diesen Leuten persönlich gut aufgehoben und gleichwohl politisch auf der richtigen Seite gefühlt haben dürfte.
Die Gruppe 47 wurde nach etlichen Jahren mit ihren von zahlreichen Kritikern und Verlegern oder Verlagslektoren besuchten Tagungen im deutschen Literaturbetrieb so einflussreich, dass ein CDU-Politiker sie als eine Art neuer Reichsschrifttumskammer titulierte, was große Empörung auslöste. Mit der Zeit nahm die Zahl der akademisch gebildeten Gruppenmitglieder in ihren Reihen zu, was den Ton veränderte und manche älteren resignieren ließ. Es waren die jüngeren, allen voran Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger, die ihren persönlichen Linkskurs verschärften, und es war Günter Grass, der, im Auftreten und in der aggressiven Suada seiner Rede unverkennbar ein Unstudierter, als Schriftsteller machtvoll die Stellung hielt und als Politisierter unverdrossen Sozialdemokrat blieb. Das Ende der Gruppe wurde von einigen aufbegehrenden Studenten mit verursacht, die bei einer Tagung Ende der sechziger Jahre demonstrierend auftauchten und höhnisch „Dichter, Dichter!“ riefen. Das war nicht im Sinne von Günter Grass. Was aber den jungen Leuten imponierte, war, dass er sich weder elitär verkroch noch scheißliberal anbiederte.
Für eine sich zunehmend akademisierende Linke blieb Grass trotz seines gewaltigen – auch finanziellen – Erfolgs als Schriftsteller immer mit seinen halb proletarischen Wurzeln erkennbar. Er war authentisch, lange bevor dieses Wort zur Chiffre wurde. Er war, so konnte es zu verschiedenen Zeiten aufgefasst werden, einfältig in seinem politischen Engagement geblieben. Das provozierte mitunter verständnisloses Kopfschütteln oder ärgerliches Lachen, aber Grass blieb unbeirrt. Er hatte nichts anderes gelernt, er wusste es nicht anders. Parzival unter Netzwerkern.
Die Bundesrepublik Deutschland hat nicht nur Konrad Adenauer als Gründungskanzler, in anderer Weise und ebenso verdienstvoll ist das auch Willy Brandt. Beide haben auf unterschiedlichen Politikfeldern gegensätzlich gearbeitet und sich so ergänzt. Adenauer hat den neuen Staat mit großen Teilen der alten Eliten geschaffen, also mit Kapazitäten, deren Ansehen durch ihr Wirken in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur beschädigt war. Seine Devise: Man schüttet kein dreckiges Wasser weg, solange man kein sauberes hat. Aber in den sachlichen Feldern seiner Politik, in der Beziehung zu den demokratischen Ländern des Westens, in der Gestaltung der föderalistischen und rechtsstaatlichen Verwaltungsordnung der Bundesrepublik hat er gänzlich Neues geschaffen. Dagegen hat Willy Brandt zwar in der Außenpolitik nationale Ansprüche des von ihm regierten Landes stärker betont, auch nach Chancen gesucht, von Bonn aus mehr eigenständige, nationale Politik zu machen – die Ostpolitik hatte nicht nur die wesentliche moralische Komponente, sondern mehr als nur taktisch auch diese.
Brandts Wort in der Hauptstadt-Debatte zugunsten von Berlin Anfang der neunziger Jahre, die Franzosen hätten ja auch 1945 nach der Befreiung nicht an Vichy als ihrer Hauptstadt festgehalten, zeigt, in wie krassem Ausmaß Brandt Nationalist war. Und dies war auch Grass. Aber Brandt hat mit dem neuen Geist, den er in die Republik brachte – Mehr Demokratie wagen! – tatsächlich die Bundesrepublik geschichtlich von dem Staat losgerissen, dessen Nachfolger sie hatte sein wollen und müssen, dem Staat Hitlers. Man kann sagen: Adenauer mobilisierte die Erfolgshungrigen im Elend der Nachkriegszeit. Brandt mobilisierte die „Anständigen“ gegen die Versäumnisse der Anfangsjahre der Republik.
Gerade auch zu diesem Ziel ist Grass Brandt gefolgt. Und bei dieser Gefolgschaft musste ihm – jetzt erst, aber mit der Zeit immer mehr – seine SS-Zugehörigkeit zum unverdauten Batzen im barocken Leib seiner Biografie werden.
Die Schwierigkeiten des Dichters mit seinen Anfängen in der schwarzen Uniform waren keine Sache der Mentalität, sondern der Einsicht in die politische Pflicht. Gerade im überlangen FAZ-Interview zu seiner Autobiografie „Beim Häuten der Zwiebel“ äußert sich Grass zu Paul Celan – der, schon als Dichter berühmt, in Paris dem gänzlich unbekannten Autor bei der Abfassung der „Blechtrommel“ zur Seite gestanden, ihn auch wohl mit hilfreichen Hinweisen versorgt hatte – in unverändert rotziger Weise, im Ton der aus HJ, Wehrmacht oder, wie nun bekannt, aus der SS kommenden 47er. Was Hass und Abneigung angeht, hat sich Grass nicht geändert, gelernt hat er nur, was sein Engagement bei den Linken zu lernen ihm aufgab. Da hatte er jahrzehntelang alles pünktlich besorgt. Nur die beiden Buchstaben waren da nicht zu integrieren.
Es gab Leser der Autobiografie, die haben von der Mitteilung über die SS-Zugehörigkeit kein Aufhebens gemacht. Wohl einige Hundert vor dem Krach. Und es wird Leser geben, die das auch künftig nicht tun werden, wohl einige Hunderttausend, wenn der Krach sich gelegt hat. Hätte auf dem Höhepunkt politischer Feindschaften, in den siebziger Jahren, in einer FAZ-Konferenz ein junger Reporter gesagt: Günter Grass war in der SS, hätte die Antwort gelautet: Wen interessiert das? Und das keineswegs, weil die FAZ alte Nazis geschützt hätte, sondern weil jeder sofort alles präsent gehabt hätte: die Lage des 17-Jährigen, die Einberufungspraxis der SS 1944, die Bedingungen der Zeit danach. Auch war damals Grass nicht die wirkliche oder vermeintliche moralische Autorität, die er später wurde. Es ist die Entwicklung der von Grass gewünschten Linken, die ihn mit seinem Fall spektakulär gemacht hat, und es ist seine eigene Entwicklung, die ein Spektakel herausfordert, wenn ein solcher Fall ruchbar wird. Parzival war der denkbar ungeeignete Moralist. Er fragte nicht.
Jürgen Busche ist Publizist und Autor.Für das ZDF befragte er Grass als „Zeuge des Jahrhunderts“
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