- Im Namen der Vertuschung
Die Anklage im NSU-Prozess ist so wackelig, dass selbst die mutmaßlichen Terrorhelfer Hoffnung schöpfen könnten: Sie klammert die Mitschuld des Staates konsequent aus. Mit aller Macht versucht die Politik Versäumnisse von Behörden zu vertuschen
Beate Zschäpe hat Recht. Als sie 2012, streng bewacht von BKA-Beamten, in einem VW-Bus auf einem Haftausflug zu ihrer erkrankten Großmutter nach Thüringen geschafft wurde, sagte sie zu einem Polizisten: „So einen Fall wie mich, das hat’s noch nicht gegeben.“
Tatsächlich. Wann gab es schon einmal einen Fall, in dem die Beweislast gegen die vermutlichen Täter gleichzeitig so klar und so widersprüchlich erscheint? Wann wurde je in einem Strafverfahren ein solcher Druck auf die Ermittler seitens der Politik ausgeübt, Widersprüche und Beweislücken zu kaschieren, um ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen? Wann ist schon einmal mit einer solch geballten politischen Macht versucht worden, die Versäumnisse und das Mittun von staatlichen Behörden in einer Verbrechensserie zu vertuschen?
Dabei hatte die Bundeskanzlerin doch ihr Wort gegeben: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen“, sagte Angela Merkel am 23. Februar 2012 auf der Trauerfeier für die vom NSU ermordeten Menschen. Und sie versprach, dass in Bund und Ländern alles getan werde, um die Taten des NSU aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner zu enttarnen.
Staatliche Mitverantwortung konsequent ausgespart
Doch das Versprechen ist bislang nicht eingelöst worden. Fast drei Jahre nach dem Auffliegen der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ fällt die Bilanz der Aufklärung ernüchternd aus. Zwar stehen die Überlebenden des mutmaßlichen NSU-Trios – Beate Zschäpe und vier ihrer möglichen Helfershelfer – in München vor Gericht. Ob die fünf Angeklagten aber auch verurteilt werden, wenn möglicherweise im Sommer 2015 der Prozess endet, ist längst nicht sicher – zu viele Indizien der Anklage stehen auf wackligen Füßen.
Was vor allem daran liegt, dass die Ermittlungsbehörden vielen Spuren und Hinweisen, die tiefer in das undurchsichtige Geflecht aus gewaltbereiten Neonazis, zwielichtigen Verfassungsschutzspitzeln und Nachrichtendiensten führen, nicht nachgegangen sind. Zu groß war offenbar der politische Druck, in möglichst kurzer Zeit eine einigermaßen belastbare Anklage für einen Prozess zu zimmern, die eine Mitverantwortung staatlicher Behörden für die NSU-Mordserie konsequent ausspart.
Kanzlerin Merkel sprach auf der Trauerfeier im Februar 2012 auch davon, dass die Morde des NSU eine Schande für unser Land sind. Aber es ist auch eine Schande, wie bei der Suche nach den Ursachen des rechten Terrors die Mitverantwortung staatlicher Behörden vertuscht werden soll und sich die Ermittler politischen Vorgaben unterwerfen. Ebenso schändlich ist es, wer heute im Kanzleramt die deutschen Nachrichtendienste anleitet: Klaus-Dieter Fritsche. Er ist einer der Hauptverantwortlichen für das Versagen der Behörde. Unter ihm wurden nach dem Auffliegen des NSU Verfassungsschutzakten rechtswidrig vernichtet. Mehr noch: Fritsche hat als langjähriger Vizepräsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und späterer Innenstaatssekretär maßgeblich jene Nachrichtendienststrategie zu verantworten, die das Entstehen einer rechtsterroristischen Organisation in Deutschland überhaupt erst ermöglichte.
Staatsthese vom Terrortrio ist kaum zu halten
Um diese Art staatlicher Mitverantwortung für die Mordserie zu vertuschen, hat sich der Staat in der Anklage eine praktikable Lösung gezimmert: die Theorie vom NSU als abgeschottete dreiköpfige Terrorzelle um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die beiden angeblichen Todesschützen sind nicht mehr am Leben, so dass man ihnen die Täterschaft nicht nachzuweisen braucht; die Hauptangeklagte schweigt, weil sie keine entlastenden Beweise vorbringen kann oder es (noch) nicht will, was Anklage und Verteidigung die Möglichkeit einer Verständigung im Prozessverlauf offenhält; Polizei und Verfassungsschutz werden lediglich Fehler und Versäumnisse in ihrer Arbeit zugeschrieben, was ihre Mitverantwortung für die NSU-Mordserie unter eine – auch juristisch – haftungspflichtige Grenze verschiebt.
Die bohrenden Fragen der Nebenklagevertreter im Münchner Prozess, die beharrlichen Recherchen – einer leider immer kleiner werdenden Zahl – von Journalisten und die wachsenden Zweifel von Parlamentariern an der offiziellen Darstellung der NSU-Hintergründe unterlaufen aber die Staatsthese vom Terrortrio. Und selbst das von staatstreuen Politikern und Medien gern gebrauchte Schlagwort der Verschwörungstheorie zieht nicht mehr. Denn tatsächlich haben wir es ja in der NSU-Affäre gleich mit zwei Verschwörungen zu tun. Die eine ist die einer ideologisch geeinten Untergrundbewegung, die ihr rassistisches Menschenbild mit Morden an Ausländern durchsetzen will. Die andere Verschwörung ist jene einer Gruppe von Staatsbeamten, die durch Aktenvernichtung und das Vernebeln von Zuständigkeiten die Mitverantwortung staatlicher Behörden für das Entstehen einer rechtsterroristischen Bewegung in Deutschland vertuschen will.
Für die Aufklärung der ersten Verschwörung sind die Ermittlungsbehörden zuständig. Der zweiten Verschwörergruppe müssen Parlamentarier aus Bund und Ländern auf die Schliche kommen, denen für eine solche Aufklärungsarbeit das Mittel des Untersuchungsausschusses an die Hand gegeben ist.
Ein erster Ausschuss des Bundestages in der vergangenen Legislaturperiode hat diese Aufklärung begonnen, aber längst nicht abgeschlossen. Die Rolle des Verfassungsschutzes und seiner V-Leute in der rechtsextremen Szene und im Umfeld des NSU, die gezielte und systematische Vernichtung von Akten in den Behörden kann aber nur in einem solchen Gremium sehr viel genauer untersucht werden als das bislang geschah.
Das sehen inzwischen auch Bundestagsabgeordnete von Union, SPD und Linkspartei so. Mit Petra Pau (Linke), Eva Högl (SPD) und Clemens Binninger (CDU) sprechen sich die jeweiligen Obleute ihrer Fraktionen im letzten NSU-Untersuchungsausschuss zwar noch nicht explizit für einen neuen Ausschuss aus. Sie mahnen aber gleichwohl eine intensivere Ermittlungsarbeit des Bundesanwalts und eine umfassende Information der Abgeordneten im Innenausschuss an. Und sie legen den Grenzwert fest, ab dem ein neuerlicher Untersuchungsausschuss unumgänglich wird: „Wenn wesentliche neue Erkenntnisse etwa zum Agieren der V-Leute oder zu einem anderen Tathintergrund im Kiesewetter-Mord vorliegen, die auch zu einer Neubewertung des gesamten Falls und des staatlichen Handelns führen, dann brauchen wir auch einen neuen Ausschuss“, fasst der CDU-Abgeordnete Binninger den Standpunkt der drei Abgeordneten zusammen.
Einsatzleiter des NSU-Opfers Kiesewetter war Ku-Klux-Klan-Mitglied
Damit aber legen sie die Latte für einen neuen Ausschuss gar nicht so hoch. Denn in den letzten Wochen und Monaten sind gleich mehrere Vorgänge bekannt geworden, die die Hintergründe im Fall der rechten Terrorzelle in ein neues Licht rücken könnten. Einige Beispiele:
Der Tod von V-Mann „Corelli“. Der Neonazi Thomas Richter, der unter dem Decknamen „Corelli“ von 1994 bis zu seiner Enttarnung im September 2012 mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) kooperierte, war Anfang April tot in seiner Wohnung aufgefunden worden. Der 39-Jährige, der als ein wichtiger Zeuge im Münchner NSU-Verfahren galt, soll nach offizieller Darstellung an den Folgen einer nicht erkannten Diabetes-Erkrankung verstorben sein. Richter war nach seiner Enttarnung 2012 ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen und mit einer neuen Identität versehen worden. Bis dahin war der aus Halle/Saale stammende Richter einer der Top-Spitzel des BfV in der rechten Szene. „HJ Tommy“, wie ihn seine rechten Kameraden nannten, galt als wichtiges Verbindungsglied zwischen den militanten Neonazi-Strukturen in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Baden-Württemberg. Sein Name fand sich auf einer Telefonliste der wichtigsten Kontaktpartner des NSU-Trios, die 1998 in deren Jenaer Garage gefunden wurde. „Corelli“ zählte 1998 zu den Mitbegründern eines deutschen Ku-Klux-Klan-Ablegers, dem auch Polizisten aus Baden-Württemberg angehörten. Einer dieser Beamten war der Einsatzleiter der im April 2007 vermutlich vom NSU in Heilbronn getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter.
Eine neue CD mit Dokumenten des NSU. Das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz war wenige Wochen vor „Corellis“ Tod in den Besitz einer CD gekommen, die mit dem Titel „NSU/NSDAP“ beschriftet war. Auf dem offenbar 2006 fertiggestellten Datenträger sollen sich rund 15.000 Fotos, Zeichnungen, Plakate, Schriftstücke sowie Karikaturen mit rassistischem und antisemitischem Inhalt befinden. In einigen der Dokumente soll ausdrücklich von einem „Nationalsozialistischem Untergrund“ die Rede sein. Auf dem Datenträger sollen sich auch mehrere Fotos von V-Mann „Corelli“ befinden. Noch bevor Richter jedoch dazu befragt werden konnte, verstarb er plötzlich.
Die Verbindungen von V-Mann „Tarif“ zum NSU. Erst im vergangenen Oktober, nach dem Ende des NSU-Untersuchungsausschusses, war mit Michael See eine weitere frühere Führungsfigur der Thüringer Neonaziszene als ehemaliger V-Mann enttarnt worden. Michael See hatte unter dem Decknamen „Tarif“ von 1995 bis mindestens 2001 mit dem BfV kooperiert. In seiner Zeit als V-Mann hatte er mehrere antisemitische und rassistische Hetzartikel veröffentlicht. Außerdem publizierte er in einer von ihm herausgegebenen Nazi-Postille ein Konzept für den rechtsterroristischen Kampf, das von Ermittlern als eine Art Blaupause für das Entstehen des NSU-Trios bewertet wird. See gab kürzlich in einer Vernehmung beim BKA an, dass seine Texte von seinen V-Mann-Führern im BfV vorab gelesen und redigiert worden seien. Überprüfen lässt sich das heute nicht mehr, weil die V-Mann-Akte von See im BfV am 11. November 2011 vernichtet worden ist – nur einen Tag, nachdem die Bundesanwaltschaft die NSU-Ermittlungen an sich gezogen hatte. Die Vernichtung der „Tarif“-Akte war ausdrücklich und mit besonderer Dringlichkeit vom zuständigen BfV-Referatsleiter angewiesen worden. „Tarif“ hatte enge Verbindungen zur Neonazi-Organisation „Thüringer Heimatschutz“ (THS), der auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe angehörten. Selbst das BfV musste in einem Schreiben an das BKA im Februar 2013 einräumen, dass ein „Kennverhältnis“ zwischen Mundlos und See „nicht gänzlich ausgeschlossen werden“ könne.
Der Polizistenmord in Heilbronn. Auch in den Fall der in Heilbronn getöteten Polizistin Michèle Kiesewetter ist inzwischen so viel Bewegung gekommen, dass die Bundesanwaltschaft ihre Ermittlungen dazu wieder aufgenommen hat. Denn nicht zuletzt durch die Aussage von Zeugen im NSU-Untersuchungsausschuss des Erfurter Landtages verdichten sich Hinweise darauf, dass die aus Thüringen stammende Beamtin möglicherweise doch ein gezielt ausgesuchtes Opfer des NSU gewesen sein könnte. Hinzu kommen bislang weitgehend unbekannte Details und Zeugenaussagen aus den Ermittlungen unmittelbar nach der Tat 2007, die auf einen größeren Täterkreis hinweisen. Nicht zuletzt lassen erst kürzlich bekannt gewordene geheime BND-Unterlagen den Schluss zu, dass FBI-Beamte am Tattag im Rahmen einer Operation in Heilbronn waren und möglicherweise Zeugen des Polizistenmordes geworden sein könnten. Diese Spur ist aber von der Bundesanwaltschaft offenbar bewusst nicht verfolgt worden.
Die Liste der Beispiele ließe sich fortsetzen: der rätselhafte Feuertod eines aussagewilligen Neonazis in Stuttgart; die im Münchner NSU-Prozess immer offensichtlicher zutage tretende Verwicklung des hessischen Verfassungsschutzes in den Mord in einem Kasseler Internetcafé 2006; der bis heute unaufgeklärte Umfang der Aktenvernichtung beim Verfassungsschutz und im Bundesinnenministerium.
Vieles spricht für einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss
Und so ziehen inzwischen auch die ehemaligen Obleute des Bundestags-Ausschusses ihre eigenen Untersuchungsergebnisse vom Sommer 2013 in Zweifel. SPD-Abgeordnete Eva Högl etwa erklärte auf einer Podiumsdiskussion Anfang Mai in Schwäbisch Hall ausdrücklich im Namen ihrer Parlamentskollegen Pau und Binninger: „Wir glauben nicht, dass der NSU aus nur drei Personen mit einem kleinen Helferkreis bestand.“ Es müsse ein breites Netzwerk gegeben haben, sagte Högl. Sie sei „beunruhigt, weil ich das Gefühl habe, viele Hintergründe, Fragen und Zusammenhänge werden nicht weiter ermittelt und auch im Prozess in München nicht ausreichend erörtert“.
Es spricht also viel für einen neuen NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag. Dass sich die Fraktionen noch zurückhalten, mag auch daran liegen, dass sich das Parlament jetzt erst einmal mit der NSA-Überwachungspraxis und der Edathy-Affäre befassen muss. Ende des Jahres aber schon könnte sich ein neuer Ausschuss gründen.
Die deutschen Sicherheitsbehörden haben den NSU-Skandal noch längst nicht überstanden.
Richtigstellung: „Der wegen versuchten Totschlags vorbestrafte See hatte unter dem Decknamen „Tarif“ von 1995 bis mindestens 2001 mit dem BfV kooperiert.“ - Hierzu stellen wir richtig, dass der Genannte im gegenständlichen Fall nicht wegen versuchten Totschlags, sondern wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist.“
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