- „Gleiche Rechte für Jungen und Mädchen!“
Seit ein Kölner Gericht im Mai die religiös motivierte Knabenbeschneidung als strafbar eingestuft hat, diskutiert die ganze Republik. Die Politik hat bereits angekündigt, ein Gesetz für die Straffreiheit der Beschneidung zu verabschieden. Ein fataler Schnellschuss, meint Irmingard Schewe-Gerigk, Vorsitzende von Terre des Femmes
Frau Schewe-Gerigk, Sie sitzen einer Organisation vor,
die für Menschenrechte von Frauen kämpft. Warum sprechen wir jetzt
also über ein Urteil, das sich mit der Beschneidung von Jungen
auseinandersetzt?
Seit 30 Jahren setzt sich Terre des Femmes für die
Bekämpfung der Genitalverstümmelung von Frauen ein. Wir wussten,
dass junge Männer beschnitten werden, aber auch bei uns ist dieser
Eingriff verharmlost worden. Natürlich sind das zwei
unterschiedliche Dinge, aber die Debatte ist ähnlich. Als ich 1995
das erste Mal zum Thema Genitalverstümmelung eine Anhörung im
Deutschen Bundestag hatte, herrschte dort überhaupt kein
Verständnis für dieses Thema. Mir wurde gesagt, das gebe es
vielleicht irgendwo in Afrika, aber nicht bei uns. Ich solle mich
nicht in fremde Kulturen und Religionen einmischen. So ähnlich ist
es jetzt auch.
In
der öffentlichen Diskussion in Deutschland ist selbst von
Befürwortern der Knabenbeschneidung die religiös motivierte
Beschneidung von Jungen von der Genitalverstümmelung von Mädchen
sorgfältig unterschieden worden. Sie sehen dort aber einen
Zusammenhang?
Bei bestimmten Formen gibt es Parallelen. Aber es ist etwas
anderes, wenn einer Frau die Klitoris und die Schamlippen entfernt
werden, sie zugenäht wird und ein Leben lang Schmerzen hat. Das
kann man nicht mit der Vorhautbeschneidung von Jungen vergleichen.
Aber die Frage, was man mit Kindern machen darf und was nicht, sehr
wohl.
Deshalb fürchten wir – und die Justizministerin hat ja in dieser Sache auch schon ihre Sorge geäußert – , dass eine gesetzliche Genehmigung der Beschneidung von Jungen auch Auswirkungen auf andere Bereiche haben kann: Es gibt Formen von weiblicher Genitalverstümmelung, die man mit der Beschneidung von Jungen vergleichen könnte. So gibt es Gegenden, in denen nur die Haut der Klitoris entfernt wird. Noch wird diese Form als strafbar angesehen, aber mit der Genehmigung der Beschneidung von Jungen würde man sie straffrei stellen. Laut einer Umfrage in Großbritannien ist ein Hindernis im Kampf gegen die Genitalverstümmelung von Frauen, das Unverständnis für die Ungleichbehandlung: Jungen dürfen straffrei beschnitten werden, bei Mädchen aber ist die „mildeste Form“ verboten.
Welche Gründe gibt es für weibliche
Genitalverstümmelung?
Die Verstümmelung wird als religiöse und gesellschaftliche Pflicht
angesehen und gilt als Voraussetzung für eine Heirat . Ziel ist es,
die Sexualität der Frau zu kontrollieren, die Jungfräulichkeit vor
der Ehe und die sexuelle Treue sicherzustellen. Frauen, die nicht
beschnitten sind, gelten in manchen Teilen Afrikas als Huren,
gehören nicht zur sozialen Gemeinschaft. Frauen, die nach
Deutschland migrieren, setzen diese Tradition manchmal fort.
Bei der Beschneidung von Jungen ist der Bezug zum Islam
und klarer noch zum Judentum festgeschrieben. Ist die
Genitalverstümmelung von Frauen auch in einem religiösen Werk
vorgeschrieben?
Weder in der Bibel noch im Koran wird dieser Eingriff verlangt,
aber in alter Tradition wird dieses grausame Ritual seit vielen
Jahrhunderten fortgeführt: Von islamischen Gruppen und auch von
Christen. Das lässt sich nicht auf bestimmte Religionen
beschränken.
Welche Unterschiede sehen Sie dazu bei der Begründung
der Beschneidung von Jungen im Judentum und Islam?
Im Judentum steht im Buch Mose, dass die Jungen am achten Tag
beschnitten werden müssen. Diese Tradition ist 4.000 Jahre alt.
Aber es gibt auch viele andere Dinge, die in heiligen Schriften
standen und nicht mehr durchgeführt werden: So gibt es bei uns
keine Witwenverbrennung mehr oder die Steinigung von Ehebrechern.
In der UN-Kinderrechtskonvention hat Deutschland unterschrieben,
dass alle schädlichen überlieferten Bräuche abzuschaffen sind. Mein
Ansatz ist das Kindeswohl. Und ich bestreite, dass es zum Wohl des
Kindes ist, zu beschneiden.
Lesen Sie weiter, warum die Politik in Sachen Beschneidung fahrlässig handelt...
Nehmen wir das Beispiel von Eltern jüdischen Glaubens,
die der Überzeugung sind, wenn sie ihr Kind bis spätestens zum 13.
Lebensjahr nicht beschneiden lassen, stellen sie sich und ihr Kind
außerhalb des Bundes mit Gott und dem Volk Israel. Können Sie
diesen Druck nachvollziehen?
Natürlich sehe ich immer die andere Seite – das steht außer Frage!
Die Familien sind einem enormen gesellschaftlichen Druck
ausgeliefert. Nach einer Umfrage von 2006 ließe ein Drittel
jüdischer Eltern lieber davon ab. Deshalb müssen wir diese Eltern
unterstützen, damit sie darauf verzichten und sagen: Nein, das
möchte ich meinem Kind nicht antun!
Ihre Argumentation geht aber davon aus, dass die Eltern
sich mit der Entscheidung, ihren Sohn beschneiden zu lassen, unwohl
fühlen und nur dem Gruppendruck erlegen sind. Bei vielen herrscht
aber ein anderer Druck vor: Diese Eltern glauben, dass sie ihren
Bund und den Bund des Kindes mit Gott verletzen, wenn sie ihren
Sohn nicht beschneiden lassen.
Ich war viele Jahre lang Mitglied der deutsch-israelischen
Parlamentariergruppe und sehe, dass diese Eltern Probleme haben.
Aber der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit kann nicht der
Entscheidung von Religionsgemeinschaften oder Eltern überlassen
werden. Das ist ein zu hohes Gut. Deshalb fand ich das Kölner
Gerichtsurteil richtig. Darum hat Terre des Femmes
vorgeschlagen, dass die Bundesregierung einen runden Tisch
einrichtet, an dem alle Beteiligten darüber reden, wie wir das
regeln können.
Nun werden in Deutschland jeden Tag jüdische und
muslimische Jungen zur Welt gebracht. Wenn die Religion den Eltern
vorschreibt, den Sohn am achten Tag zu beschneiden, dann können Sie
sich denken, dass für manche ein runder Tisch zu lange dauert, um
Gewissheit zu haben.
Das Kölner Urteil hat ja keine Allgemeinwirkung. Deshalb gehe ich
davon aus, dass weiterhin beschnitten wird. Aber ich finde es
fahrlässig von der Politik während einer Sondersitzung in der
letzten Woche, in der es um die finanzielle Rettung Spaniens ging,
plötzlich den Antrag über Beschneidung anzuhängen. Wie wollen
Politiker in so einem Schnellschuss etwas regeln, was mit
Besonnenheit bedacht werden muss? Über den Ausgleich der
unterschiedlichen Rechtsgüter muss man reden und den Menschen
sagen: Wir wollen keine Beschneidung. Unser Grundgesetz schützt die
körperliche Unversehrtheit des Kindes.
Aber unser Grundgesetz schützt auch die
Religionsfreiheit.
Die Ausübung der Religionsfreiheit beinhaltet aber nicht, dass
Körperverletzungen akzeptiert werden. Alle Experten warnen davor:
der Verband deutscher Kinderärzte, Juristen und Juristinnen,
Menschen- und Kinderrechtsorganisationen – doch der Bundestag tut
so, als würde diese Debatte an ihnen vorbeigehen.
Es gibt allerdings auch Gegenstimmen: Juristen, die meinen, die Religionsfreiheit wiege
höher, das Urteil von Köln sei falsch. Auch der Präsident der
Bundesärztekammer sagte, er halte das Urteil für „falsch und kulturunsensibel“...
Ja, aber der Verband der deutschen Kinderärzte vertritt die
Kinderrechte und ist eine große Vereinigung.
Die Bundesärztekammer aber auch…
Das stimmt.
Lesen Sie weiter, warum Deutschland Vorreiter in Sachen Beschneidung ist...
Sie hatten bereits die Warnung von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger erwähnt. Im Entschließungsantrag des Bundestages in dieser
Sache wird Ihr eigentliches Anliegen, die Bekämpfung der
Genitalverstümmelung von Frauen, explizit erwähnt. Es heißt
dort:
„Eine Präjudizwirkung für andere körperliche Eingriffe aus
religiösen Gründen darf sich hieraus nicht ergeben. Zudem hält der
Deutsche Bundestag die Beschneidung männlicher Kinder, die weltweit
sozial akzeptiert wird, für nicht vergleichbar mit nachhaltig
schädlichen und sittenwidrigen Eingriffen in die körperliche
Integrität von Kindern und Jugendlichen wie etwa die weibliche
Genitalverstümmlung, die der Deutsche Bundestag
verurteilt.“
Reicht Ihnen das nicht?
Nein, das wurde quasi als Anhängsel in die Begründung geschrieben,
um die Kritiker zu beruhigen. Außerdem gibt es eben Formen der
Verstümmelung von Mädchen, die man durchaus mit der
Knabenbeschneidung vergleichen kann. Wir müssen uns fragen: Kann
man für Jungen ein anderes Gesetz machen als für Mädchen?
Menschenrechte sind nicht teilbar.
Man könnte den Eindruck haben, Sie springen in dieser
Debatte auf einen fahrenden Zug auf, um ihr Thema der
Genitalverstümmelung bei Mädchen in den Vordergrund zu
bringen…
Wir springen nirgends auf. Wenn wir uns in dieser Sache für Mädchen
einsetzen, warum sollen wir uns nicht auch für Jungen stark
machen?
Sie haben sich vor dem Urteil nicht mit der Beschneidung
von Jungen beschäftigt.
Wir haben uns vorher nicht damit beschäftigt, weil wir eine
Frauenrechtsorganisation sind. Ich habe ehrlich gesagt auch nicht
gewusst, welche schlimmen Auswirkungen Beschneidung für Knaben hat.
Ich habe gedacht, es sei nur ein kleiner Schnitt. Gestern habe ich
mir daher eine medizinisch notwendige Beschneidung angesehen. Wer
das als harmlos ansieht, weiß nicht, wovon er spricht. Aber
offensichtlich wird es ja von den Befürwortern gern
bagatellisiert.
A propos bagatellisieren: In der „Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung“ von
Terre des Femmes wird dafür plädiert, bei Frauen nicht von
Beschneidung, sondern von Verstümmelung zu sprechen. Sonst würde
der Eindruck erweckt, es sei ein Pendant zur Beschneidung der
männlichen Vorhaut, doch das sei medizinisch falsch und würde die
Praxis „bagatellisieren“. Haben Sie damit nicht selbst die
Beschneidung bei Jungen als Bagatelle eingestuft?
Nein, denn gemeint ist: Es würde bagatellisiert, was den Frauen
angetan wird. Den schlimmsten Typ der Genitalverstümmelung, bei dem
nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation jedes vierte
Mädchen stirbt, können Sie natürlich nicht mit der Abtrennung der
Vorhaut vergleichen.
Wie sehen Sie die deutsche Rolle in dieser Diskussion
auf internationaler Ebene? Die weibliche Genitalverstümmelung ist
ja weltweit verurteilt und unter Strafe gesetzt. In der Frage, ob
man die Knabenbeschneidung verbietet, erntet Deutschland aus dem
Ausland dagegen kritische Töne…
Es geht nicht ums Verbieten, sondern darum, zu sagen: Die
Beschneidung ist eine Körperverletzung und diejenigen, die eine
Beschneidung durchführen oder durchführen lassen, machen sich
strafbar. Auch Kinderärzte in den skandinavischen Ländern, in
Kanada, in den Niederlanden, lehnen alle die Beschneidung ab, weil
sie das Kindeswohl gefährdet sehen. Aber dort gab es bisher keine
Anzeige. Wo kein Kläger, da kein Richter. Natürlich bin ich mir
unserer Vergangenheit bewusst, darum wird es kritisch gesehen, dass
es gerade in Deutschland zum ersten Mal ein solches Urteil gegeben
hat und von hieraus diese Diskussion in Europa weitergeführt
wird.
Lesen Sie weiter, warum die Diskussion bereits beendet ist...
Was würden Sie sich für Ihre Position beim Thema
Knabenbeschneidung wünschen?
Um das Selbstbestimmungsrecht durchzusetzen, brauchen wir den
Dialog mit den Religionsgemeinschaften, um über Alternativen zu
sprechen: Entweder man verschiebt das, bis die Kinder selbst
entscheiden können – im Islam dürfte das kein Problem sein. Im
Judentum mit der Vorgabe des achten Tags ist das schwieriger. Da
könnte man über rituelle Ersatzhandlungen sprechen.
Sie wären also für eine Kompromisslösung, in der die
Beschneidung von Jungen – unter entsprechenden medizinischen und
hygienischen Voraussetzungen – straffrei gestellt wird und in der
die Genitalverstümmelung von Mädchen ausdrücklich verurteilt und
unter Strafe gestellt wird, nicht zu haben?
Nein. Die medizinisch fachgerechte Beschneidung gibt es ja bereits
in den meisten Fällen. Der Bundestag schreibt, dass Jungen keine
unnötigen Schmerzen haben dürfen. Ich frage mich: Was sind denn
nötige Schmerzen bei einer Beschneidung? Mein Problem ist nicht,
dass das bisher irgendwelche Kurpfuscher machen und dass es
hygienischer werden soll. Ich möchte, dass die gesamte Beschneidung
beendet wird. Da gibt es keinen Kompromiss.
Wie würden Sie das gläubigen Eltern
erklären?
Ich würde den Eltern sagen, dass sie das Kindeswohl im Auge haben
müssen, dass die Beschneidung mit einem hohen Risiko verbunden ist,
dass die kleinen Knaben eine Narkose bekommen, obwohl kein
medizinischer Grund dafür da ist, dass sie körperliche Probleme
davontragen können und dass die psychischen Auswirkungen überhaupt
nicht klar sind.
Die Eltern denken natürlich, sie tun etwas Gutes für ihre Kinder. Ich will auch nicht unterstellen, dass die Eltern böse sind. Aber was sie beabsichtigen, erreichen sie mit dieser Beschneidung nicht! Leider wird mit dem geplanten Gesetz diese dringende Diskussion, die gerade beginnt, gleich beendet.
Würden Sie diese Diskussion auch so hartnäckig fordern,
wenn sich die Bundesregierung so zügig auf die andere Seite
geschlagen hätte und ein Gesetz im Sinne des Kölner Urteil
vorbereiten wollen würde?
Wenn die Regierung meine Meinung vertritt, wäre ich natürlich nicht
gegen ein schnelles Gesetz. Das ist ja klar. Aber die Diskussion
sollte in jedem Fall sein, egal wie entschieden wird. Ich wünschte,
man hätte im Vorfeld ein Urteil vom Bundesverfassungsgericht, damit
einmal richtig geprüft ist, auch anhand der Kinderrechtskonvention,
ob die Beschneidung tatsächlich mit unserem Grundgesetz vereinbar
ist.
Irmingard Schewe-Gerigk ist deutsche Politikerin bei Bündnis 90/Die Grünen und Vorstandsvorsitzende des Vereins Terre des Femmes, einem gemeinnützigen Verein, der sich für ein selbstbestimmtes und freies Leben von Frauen und Mädchen weltweit einsetzt.
Das Gespräch führte Karoline Kuhla.
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