Irina von Wiese: „Wir Deutschen haben einen guten Ruf. Zumindest hier in London." / Tessa Szyszkowitz

Europawahl - Eine Deutsche kämpft in London für Europa

Die totgesagten britischen Liberaldemokraten erleben vor der Europawahl einen Aufschwung dank der klaren Botschaft: „Stop Brexit“. Ihre Londoner Spitzenkandidatin Irina von Wiese verkörpert das proeuropäische Programm. Sie stammt aus Deutschland. Ein Besuch beim Häuser-Wahlkampf

Tessa Szyszkowitz

Autoreninfo

Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Irina von Wiese steht auf dem Camden Square in London, an dem einst die Sängerin Amy Winehouse wohnte. Auf dem frisch geschnittenen Gras des schmucken Gemeinschaftsgartens dominieren heute die Farben Gelb und Orange. Orange ist die Farbe der britischen Liberaldemokraten. „Stop Brexit“ steht auf den Transparenten der Aktivisten. Gelb sind die EU-Sterne, die von Wiese heute an den Ohren hängen hat: „Wir sind die einzige richtig proeuropäische Partei“, sagt die gebürtige Deutsche.

Amy Winehouse ist hier in ihrem Haus 2011 an Alkoholvergiftung gestorben. Die Liberaldemokraten waren damals in einer Regierungskoalition mit den Konservativen, sie wurden bei den Wahlen 2015 arg dezimiert. Das Brexit-Chaos in Großbritannien hat ihnen jetzt ein zweites Leben geschenkt: Die Liberaldemokraten haben im Gegensatz zu den regierenden Konservativen und der oppositionellen Labour-Party ein klares Programm, wenn es um den Austritt der Briten aus der EU geht. Von Wiese ist ihre Spitzenkandidatin des kosmopolitischen London. Sie sagt: „Wir wollen einen Exit vom Brexit.“

Die Liberalen profitieren vom Brexit-Chaos

Dieser Kurs kommt bei den Briten gut an. Bei den Kommunalwahlen Anfang Mai haben die Liberaldemokraten rund 700 Gemeinderäte gewonnen, während die Tories über 1300 Sitze verloren. „Wir sind die stärkste proeuropäische Bewegung in der EU“, freut sich Helen Cross, die ebenfalls für das Europäische Parlament in der Region London kandidiert. Für die EU-Wahlen werden den Liberal-Demokraten vom Umfrageinstitut YouGov landesweit fünfzehn Prozent der Stimmen prognostiziert. Damit wären sie stärker als die Tories von Theresa May, die derzeit nur auf zehn Prozent kämen.

Am meisten profitieren vom Brexitchaos allerdings nicht die Proeuropäer, sondern Nigel Farage mit seiner neugegründeten Brexit-Party. Der deklarierte EU-Feind kommt bereits auf 34 Prozent der Stimmen, die zweitplazierte Labour-Partei liegt auf matten 16 Prozent weit hinten. Die EU-Wahlen werden zeigen, wie polarisiert die Briten heute sind: Viele der Proeuropäer sind heute bereit, für die EU-Mitgliedschaft sogar auf die Straße zu gehen. Im März haben dies eine Million Menschen in London bei der größten Demonstration seit 2003 getan. Allerdings haben sich auch die Brexiteers verhärtet. Viele wollen heute um jeden Preis austreten – auch ohne Deal.

Wahlkampf an mehreren Fronten

Da Theresa May bisher kein Glück dabei hatte, ihren mit der EU ausgehandelten Scheidungsvertrag im Parlament beschließen zu lassen, gewinnt die Option „No Deal“ am 31. Oktober wieder an Relevanz. Bis dahin hat die EU den Briten eine Frist gewährt, in der sie sich doch noch auf ein Ausstiegsszenario mit Abkommen einigen sollen. Dafür braucht Theresa May die Stimmen der Opposition. Labour-Chef Jeremy Corbyn zeigt allerdings wenig Lust, der umkämpften Regierungschefin Brexit-Hilfe zu leisten.

Irina von Wiese kämpft daher an mehreren Fronten gleichzeitig. „Wir Liberaldemokraten haben uns von den Tories abgegrenzt – nicht nur in unserer klaren Haltung gegen den Brexit“, sagt die Juristin. „Wir sind auch für ein zweites Referendum“. Dazu kann sich Labour nicht entschließen. Sich selbst bezeichnet Irina von Wiese als klassische Liberale, ökonomisch wie sozial. Die Juristin arbeitet im Wettbewerbsrecht. Parteipolitisch geht es heute eher „gegen die Sparpolitik der Konservativen und um lokale Anliegen“

Gezwungene Rückkehr ins Parlament

Im Wahlkampf für das EU-Parlament diskutieren die Kandidaten in den Mitgliedstaaten nicht nur über nationale Fragen, sondern um EU-Reformvorschläge. Bei den Briten ist dies ein heikles Thema – schließlich wollten sie ja eigentlich nicht mehr ins Europäische Parlament zurückkehren. Theresa May hofft immer noch, dass sie ihr Land bis zum 30. Juni aus der EU führen kann. Am 2. Juli ist die konstituierende Sitzung des EU-Parlaments. Die Regierungschefin möchte vermeiden, dass die dann 73 gewählten EU-Abgeordneten aus Großbritannien im Plenum von insgesamt 751 Sitzen Platz nehmen.

Wie ist es, wenn man für ein Amt kandidiert, das man eventuell gar nicht antritt? „Ich habe mir das gut überlegt“, sagt Irina von Wiese. Ihre Familie habe zugestimmt. „Mit dem Eurostar ist man ja schnell in Brüssel, das dauert kaum länger als vom Norden Londons in den Süden zu fahren.“ Die bizarre Situation, dass sie vielleicht am 23. Mai als Londoner Liberale zur EU-Abgeordneten gekürt wird, um dann eventuell im Herbst wieder arbeitslos zu sein, kommentiert sie mit einem Achselzucken: „Es ist mir nicht so wichtig, dass ich damit einige Mühen auf mich nehme – auch finanziell.“ Als Anwältin verdiene sie besser als als EU-Abgeordnete. Egal: „Meine Entscheidung für Europa ist eindeutig.“

Hoffnung auf Macron

Für von Wiese gibt es in der EU sehr wohl Reformbedarf. Die Liberalen aller EU-Staaten blicken mit Hoffnung auf ihren neuen Sprecher, den französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Er will mit seiner EnMarche-Bewegung gemeinsam mit der Liberalen-Fraktion ALDE, die heute 61 Mitglied aus 21 Ländern hat, einen Zentrumsblock bilden. Macrons Vorschläge für einen EU-Finanzminister und ein Eurozonen-Budget gehen weit. Als Deutsche ist Irina von Wiese weiterer Integration nicht abgeneigt, doch in der momentanen Lage der Briten macht es wenig Sinn, im Wahlkampf an die Türe zu klopfen und die Wähler für ein Eurozonen-Budget zu begeistern. Die Briten haben ja nicht einmal den Euro als Währung akzeptiert.

Die britischen Liberaldemokraten bekommen im EU-Wahlkampf Hilfe vom Kontinent: Guy Verhofstadt, ehemaliger belgischer Premierminister und heute Brexit-Koordinator im EU-Parlament, klopft mit dem britischen LibDem-Chef Vince Cable und der Londoner Spitzenkandidatin von Wiese an die Türen am Camden Square. „Die Liberalen in Großbritannien geben jetzt einen proeuropäischen Ton an, den können wir bis Brüssel hören“, sagt der eifrige Europäer.

Es ist nicht ganz leicht, einen paneuropäischen Wahlkampf zu organisieren. Konservative und Sozialdemokraten wollen, dass die erfolgreichsten Spitzenkandidaten der Parteien im Europäischen Parlament die Topjobs in den EU-Institutionen bekommen. So hofft etwa der deutsche Konervative und EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber auf den Posten des EU-Kommissionspräsidenten. Emmanuel Macron und die Liberalen in der Fraktion ALDE im EU-Parlament sind gegen dieses Prinzip – vielleicht auch nur, weil sie nicht damit rechnen können, stärkste Partei zu werden.

Der gute Ruf der Deutschen – in London

Vergibt man damit nicht eine Chance, die europäischen Wähler stärker an ihre Institutionen zu binden? „Wir Liberalen wollten transnationale EU-Listen aufstellen, das haben die Konservativen und die Euroskeptiker hintertrieben“, sagt Verhofstadt zu Cicero. „In diesem Fall hätten die Wähler direkt für einen Spitzenkandidaten stimmen können, das ist jetzt aber nicht der Fall.“

Für die britischen EU-Wahlen werden die internen Reformquerelen kaum eine Rolle spielen. In London geht es für Irina von Wiese um die Kernfrage: Bleiben oder gehen? Sie ist optimistisch, dass die Briten doch noch einlenken. Ob sie als Deutsche auch feindliche Äußerungen abbekommt? „Nein, das ist mir noch nie passiert“, sagt sie, die EU-Sterne an ihren Ohren schwingen verneinend hin und her. „Wir Deutschen haben einen guten Ruf. Zumindest hier in London, der Hochburg der Proeuropäer.“

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Ernst-Günther Konrad | Do., 16. Mai 2019 - 09:05

Das britische Volk hat gesprochen. May jongliert. Frage wird die Sache vorantreiben und den Ausstieg hoffentlich sichern, damit der britische Souverän sein Recht durchsetzen kann. Ist ja nett, dass es es auch EU-Befürworter gibt, haben wir hier jetzt oft genug gelesen. Ist ja okay. Nur die Mehrheit will es anders. Womit. Mit Recht.
Ich beneide die Briten, sie müssen das EUGH-Urteil zur Nichtabschiebung krimineller Ausländer nicht mehr umsetzen.

Es ist das gute Recht der Remainer dafür zu kämpfen solange sie wollen. Wenn sie aber meinen, dass mit Macron/ALDE eine " bessere EU " zustande kommen könnte, dann sind sie auf dem Holzweg. Die Netto-Zahler in der kontinentalen EU werden nie zustimmen, dass es einen EU-weiten Länderfinanzausgleich geben soll, wobei die Netto-Empfänger weitestgehend ihre Souveränität für die Ausgabenseite behalten können. Macron/ALDE haben die Vorstellung, eine post-demokratische Exekutiv-Föderation für die EU voranzutreiben, in der die Regierungseliten niemandem ausser sich selbst verantwortlich sind und das Stimmvieh von Zeit zu Zeit mit Wahlgeschenken bei Laune gehalten wird. Sie gestehen es sich noch nicht zu, weshalb sie es auch nicht zugeben können, aber ein neuer Eurokraten-Faschismus ist die angestrebte EU-Regierungsform.

wie wenig Volksabstimmungen für komplexe Sachverhalte tauglich sind. Zu gross ist die Gefahr, dass die Bevölkerung durch Manipulation und Lügen zu offensichtlich katastrophalen Entscheidungen verführt wird. Boris Johnson versprach noch am Vorabend der Abstimmung,, dass die Briten auch bei einem Austritt unveränderten (!) Zugang zum Gemeinsamen Markt hätten. Gleichzeitig belog er die Briten mit falschen Zahlen - demnächst entscheidet wohl ein Gericht darüber, ob er wegen "vermeintlichen Fehlverhaltens im öffentlichen Amt" belangt werden kann. Die Herkunft gewisser Spenden für die "Brexiteers" ist nach wie vor ungeklärt. Farage hat sich in der Vergangenheit mit skandallösen Aussagen zu Klimawandel, Binnenmarkt, Putin oder einem liberalen Waffengesetz als politischer Extremist entblösst - und ausgerechnet der soll jetzt als neuer Hoffnungsträger dienen? Die Wahlen werden zeigen, auf welcher Seite heute die Mehrheiten zu finden sind. 34%, für Farage vorhergesagt, bedeuten keine Mehrheit.

Eine Forumilierung wie "EUGH-Urteil zur Nichtabschiebung krimineller Ausländer" schreit natürlich nach ideologisch insinuierter Interpretation.
Tatsächlich steckt hinter der stark simplifizierten und zu Fehlschlüssen einladenden Verkürzung die Entscheidung des EuGH, wonach "auch schwer straffällig gewordene Flüchtlinge unter Umständen nicht abgeschoben werden dürfen" - nämlich dann, wenn ihnen bei Abschiebung Gefahr für Leib und Leben droht.
Nun kann man natürlich fragen, warum man solchen Kriminellen bei uns den Prozess machen sollte, und sie nicht einfach nach Hause schickt - Hauptsache, man ist die Verbrecher los, denn was geht uns das an, wenn sie in ihrem Herkunftsland gefoltert, vergast, erhängt oder erschossen werden.
Ich nehme an, das ist es, was Herr Konrad sagen wollte.

„Das britische Volk hat gesprochen“ - wirklich?
Das Votum in 2016, das durch Lügen und Fehlinformationen herbeigeführt wurde, hält ganz Europa seitdem in Atem.
Unberechtigterweise wie ich finde, weil der Brexit wie auch immer er ausgestaltet wird, Großbritannien schaden wird.
Hier zeigt sich das Dilemma der westlichen Demokratie im digitalen Medienzeitalter; „Alternative Fakten“ die bis zum groben Unsinn gehen können katastrophale Folgen haben.
Die einzige Medizin stammt meiner Meinung nach von Immanuel Kant und lautet „Denke selbst „