- Solidarität gibt es nicht ohne Risiko
Deutschlands Verbündete schütteln den Kopf. Berlin hält sich bei militärischen Einsätzen, wie jüngst in Libyen und Mali, vornehm zurück. Ein fataler Fehler, sagt Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe, der die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr verantwortete
Mein Beitrag zur deutschen Sicherheitspolitik war seit Beginn der neunziger Jahre von Grundprinzipien geprägt, die noch heute gültig sind. Erstens: Deutschland besitzt eine Mitverantwortung für Frieden und Stabilität, die sich aus seinen nationalen Werten und Interessen, seiner politischen und wirtschaftlichen Bedeutung vor allem in und für Europa und aus den Lehren unserer Geschichte ergibt. Zweitens: Deutschland agiert nur im Rahmen des Völkerrechts und gemeinsam mit Partnern. Drittens: Für den Einsatz militärischer Gewalt benötigt die Regierung eine breite Rückendeckung in Parlament und Bevölkerung – die bei einem Land, das bis 1990 allein auf die Landes- und Bündnisverteidigung fixiert war, nur in behutsamen Schritten gewonnen werden konnte. Diese Prinzipien mögen selbstverständlich klingen. Schwieriger wird es, wie wir beim derzeitigen Einsatz in Mali wieder erleben, wenn es um die Konsequenzen geht, die aus ihrer Umsetzung gezogen werden.
Das demokratische Deutschland verdankt seinen europäischen und nordamerikanischen Verbündeten in der Nato nichts weniger als seine Freiheit. Die eigene Leistung der Bundesrepublik war während der Jahrzehnte des Kalten Krieges nicht auf seinen Verteidigungsbeitrag beschränkt. Bemerkenswert ist vor allem das große Vertrauen, das unser Land als freiheitlicher demokratischer Staat in Europa und weltweit gewinnen konnte. Dass sich das Vertrauen in unser Land auch auf den Einsatz der Bundeswehr erstreckte, offenbarte sich zu Beginn der neunziger Jahre, als unsere westlichen Partner Deutschland zur militärischen Unterstützung von Operationen unter dem Mandat der Vereinten Nationen aufforderten. Auf dem Balkan ergab sich nach dem Friedensvertrag von Dayton die Frage, ob deutsche Soldaten als Teil der Nato-geführten internationalen Schutztruppe in einem Land stationiert werden konnten, in dem die deutsche Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs Kriegsverbrechen begangen hatte. Aber nicht allein der Einsatz militärischer Mittel muss moralisch begründet werden. Auch militärische Hilfe zu verweigern, bedarf einer Rechtfertigung, das haben die Massaker in Srebrenica und der Genozid in Ruanda der Welt schmerzhaft vor Augen geführt. In beiden Fällen hat die Staatengemeinschaft lebensbedrohten Menschen ihren militärischen Schutz verweigert und dadurch schwere Schuld auf sich geladen.
Wenn wir künftig wieder einmal gefragt werden, ob wir in einer Region mit unseren Soldaten zu Frieden und Stabilität beitragen können, sollte deswegen nicht der erste Reflex ein Blick in unsere Geschichtsbücher sein, sondern eine Abwägung unserer Interessen und die Sondierung, ob es Zustimmung in der Region für ein deutsche Engagement gibt.
In allen Bundeswehreinsätzen unter meiner politischen Führung ging es nicht zuletzt darum, unsere strategische Handlungsfähigkeit zu wahren und zu nutzen. Damals wie heute ist dafür entscheidend, dass Deutschland seine Sicherheitspolitik und mögliche Beteiligungen an militärischen Einsätzen prinzipiell in die Politik der atlantischen und europäischen Nationen einbettet. Deshalb war es schlichtweg falsch, dass sich Deutschland im März 2011 im Weltsicherheitsrat bei der Verabschiedung der Libyen-VN-Resolution 1973 – wohlgemerkt bei Zustimmung Frankreichs, Großbritanniens und Portugals – enthalten hat. Es war ein Bruch mit den bewährten und wichtigsten Traditionslinien deutscher Außen- und Sicherheitspolitik.
Richtig wäre gewesen, wenn Deutschland dieser Resolution, die das unmittelbare Ziel hatte, ein Massaker des Gaddafi-Regimes an den Aufständischen zu verhindern, zugestimmt hätte und sich anschließend als Teil der Nato-Awacs-Missionen und mit der Marine an den Überwachungsmaßnahmen der Nato beteiligt hätte. Mit der Verweigerung der Bündnissolidarität beim Awacs-Einsatz fällt es natürlich unserem Land schwer, andere Staaten für gemeinsame Projekte im Rahmen europäischer Lösungen zu begeistern. Welcher Staat wird seine Bürger überzeugen können, sich politisch und mit gemeinsamen militärischen Fähigkeiten von uns abhängig zu machen, wenn Deutschland sich der Nutzung von gemeinsam finanzierten und betriebenen Systemen bei jenen Einsätzen verweigert, die es selbst mitentschieden hat?
Nur wenn die Europäer ihre Kräfte bündeln, können sie in Zeiten schrumpfender Verteidigungsetats und teilweise drastischer Reduzierungen der Streitkräfteumfänge – nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Staaten der Allianz – ein wirksames und glaubwürdiges Abschreckungs- und Interventionspotenzial erhalten. Dabei sind realistische Vorhaben und keine Träumereien gefragt. Die Vorstellung von einer europäischen Armee in einem europäischen Bundesstaat mit einer europäischen Regierung ist in einer EU mit 27 Mitgliedern völlig unrealistisch. Ein militärischer Verbund mit komplementären militärischen Strukturen liegt dagegen im Bereich des Möglichen. Pooling und Sharing, also die Nutzung gemeinsamer Fähigkeiten und eine Arbeits- und Aufgabenteilung bei der europäischen Verteidigung, sind dafür die seit langem bekannten Rezepte. Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft, gegenseitige Abhängigkeiten einzugehen, ohne dabei nationale Entscheidungsspielräume völlig aufzugeben.
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Deutschland hat oft bewiesen, wie gut es in der Lage ist, in der Nato und EU konsensfähige Positionen zu erarbeiten und im Verbund mit anderen zu führen. Es besitzt dafür die ökonomische Stärke, die richtige Größe und gewachsene politische Stellung; es ist ebenso erprobter Partner Nordamerikas wie Verfechter einer vertieften europäischen Integration, und Deutschland war stets ein glaubwürdiger Vermittler zwischen kleinen und großen sowie neuen und alten Mitgliedstaaten.
Von uns Deutschen erfordert solch eine Politik die Bereitschaft, sich in allen militärischen Fragen den Standards anzunähern, die auch bei unseren Verbündeten gelten. Für mich waren dabei stets Frankreich und Großbritannien jene Länder, mit denen sich Deutschland vergleichen sollte. In der innenpolitischen Debatte mögen deutsche Vorbehalte gegen die Einsatzführung durch Verbündete als Mittel zum Ausdruck nationaler Souveränität gelten. Im Rahmen von völkerrechtlich abgesicherten, einstimmig beschlossenen und gemeinsam ausgeplanten Bündnisoperationen wirken diese Bedenken unsolidarisch und auch moralisch fragwürdig.
Europas Sicherheit wird immer wieder infrage gestellt – wie auf dem Balkan in den neunziger Jahren, als Sarajewo eingekesselt und beschossen wurde. Die notleidende Bevölkerung wurde durch Hilfsflüge versorgt, die Lebensmittel und Medikamente abwarfen. Im Sommer 1993 wurden bei der Führung der deutschen Luftwaffe Bedenken gegen den Einsatz laut, weil die Hilfsflugzeuge beschossen wurden. Ich bin diesen Bedenken nicht gefolgt, weil es geboten war, dass die deutschen Flugzeuge so lange Hilfsflüge durchführten wie auch ihre Kameraden aus der Nato – also Briten, Franzosen und Italiener. Das Motto der Nato konnte nur heißen: Entweder fliegen alle, oder es fliegt niemand.
Trotz unserer historischen Belastungen war damals in den neunziger Jahren schon abzusehen: Wir müssen Schritt für Schritt dahin kommen, dass wir in spätestens 15 bis 20 Jahren vergleichbare Anforderungen auch außerhalb der Nato erfüllen können wie unsere engsten Verbündeten Frankreich und Großbritannien. Andernfalls wird Europa handlungsunfähig. Europas Handlungsfähigkeit wird aber dringend gebraucht, nicht zuletzt wegen der strategischen Neuorientierung der USA in Richtung Pazifik. Der Druck auf Europa wird größer werden, mehr für die gemeinsame Sicherheit zu tun – vor allem dort, wo diese Sicherheit bedroht ist: in Nordafrika, im Nahen und im Mittleren Osten. Wenn Europa diese Aufgabe nicht meistern kann, steht das Bündnis auf brüchigen Pfeilern.
Ausgangspunkt jeder Sicherheitsoperation muss eine nüchterne Lagebeurteilung sein. Wenn diese Einschätzung zu dem Ergebnis kommt, dass beispielsweise in Mali europäische Sicherheitsinteressen auf dem Spiel stehen, muss Europa handeln. Es ist klar, dass dann der jeweilig am besten geeignete Staat als „Führungsmacht“ agieren sollte – schon wegen seiner über lange Zeit gewachsenen Erfahrungen in bestimmten Regionen. Zugleich muss ein deutliches Signal aus der Operation hervorgehen: Hier wird in der Verantwortung für Europa gehandelt.
Geradezu unverantwortlich ist es hingegen, dass Deutschland die Herausforderung Europas in einer solchen Situation richtig beschreibt, um dann nichts Eiligeres im Kopf zu haben, als laut zu sagen, mit welchen deutschen Solidaritätsmaßnahmen auf gar keinen Fall gerechnet werden kann. Ein solches Verhalten, das jede strategische Einsicht vermissen lässt, ist moralisch verwerflich und schadet deutschen Interessen. Unsere Verbündeten müssen an der mangelnden deutschen Bereitschaft verzweifeln, glaubwürdig Solidarität zu üben, was der französische Generalstab schon mehrfach erkennen ließ. Wenn aber andererseits immer mehr gemeinsames Material und immer mehr gemeinsame Ausbildung zum Charakteristikum europäischer Streitkräfte gehören, zeigt sich darin auch, dass wesentliche Voraussetzungen für praktisch geübte Solidarität gegeben sind – es sei denn, Deutschland beschreitet wie in Libyen einen Sonderweg.
Strategische Defizite in der Führung eines Landes wirken sich nicht von einem Tag auf den andern aus. Aber unser Volk und auch die Medien haben ein sicheres Gefühl für die peinlichen Gefahren, die sich Schritt für Schritt aus einer solchen Politik für den Ruf unseres Landes in Europa und der Welt ergeben.
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