Wer reich stirbt, stirbt in Schande
Eigentum verpflichtet. Lange vor der Verabschiedung des Grundgesetzes hat Andrew Carnegie diesen Anspruch konsquent vorgelebt. Der Muster-Milliardär formulierte mit dem folgenden Text den moralischen Katechismus für Superreiche. Ein flammender Appell zur tätigen Menschenliebe.
Der Sozialist oder Anarchist, der versucht, die derzeitigen Verhältnisse umzustürzen, greift damit das Fundament an, auf dem die Zivilisation ruht. Diese nahm ihren Anfang an dem Tag, als der fähige, fleißige Arbeiter zu seinem unfähigen, faulen Arbeitskameraden sagte: „Wenn du nicht säst, sollst du auch nicht ernten.“ Und der frühe Kommunismus endete damit, dass die Drohnen von den Bienen getrennt wurden. Jemand, der sich mit diesem Thema befasst, erkennt bald, dass die Zivilisation auf der Heiligkeit des Eigentums beruht, das heißt auf dem Recht des Arbeiters auf seine hundert Dollar auf der Sparkasse und dem legitimen Recht des Millionärs auf seine Millionen. Wenn die Menschen den Fortschritt erleben oder zumindest ihren derzeitigen Stand halten wollen, muss jedem gestattet sein, „ungestört unter seinem Rebstock und Feigenbaum zu sitzen“.
Jene, die vorschlagen, diesen ausgeprägten Individualismus durch den Kommunismus zu ersetzen, erhalten zur Antwort: Die Menschen haben es bereits versucht. Jeglicher Fortschritt seit jener unkultivierten Zeit bis heute entstand durch Veränderung. Die Anhäufung von Reichtum durch jene, die die Fähigkeit und die Energie besaßen, ihn zu schaffen, hat den Menschen nur Vorteile gebracht. Doch selbst wenn wir kurz erwägen sollten, dass es für die Menschen besser wäre, ihre derzeitige Grundlage, den Individualismus, aufzugeben, und einräumen würden, dass es für den Menschen ein edleres Ideal wäre, nicht nur für sich selbst zu arbeiten, sondern mit und für seine Mitmenschen, würde die Antwort lauten: Das wäre keine Evolution, sondern eine Revolution. Diese erforderte, dass sich das Wesen des Menschen veränderte, was eine Arbeit von Äonen wäre, sofern es überhaupt gut wäre, es zu verändern.
Auch wenn die Gesetze der Anhäufung von Reichtum und das Gesetz des Wettbewerbs manchmal vielleicht als ungerecht und dem Idealisten als unvollkommen erscheinen mögen, sind sie, genau wie der höchst kultivierte Mensch, das Beste und Wertvollste, was die Menschheit je hervorgebracht hat.
Wir gehen also von einer Situation aus, durch die die hohen Ziele der Menschen gefördert werden, die aber unweigerlich nur wenigen Menschen zu Reichtum verhilft. Hat man bis dahin die Umstände so akzeptiert, wie sie sind, kann die Situation kontrolliert und als gut bezeichnet werden. Doch dann erhebt sich die Frage und wenn die obigen Ausführungen richtig sind, ist es die einzige Frage, mit der wir uns auseinander setzen müssen: Wie verwaltet man Reichtum richtig, nachdem dieser dank der Gesetze, auf denen die Zivilisation beruht, nur wenigen zuteil wurde? Ich glaube, auf diese wichtige Frage die richtige Lösung zu besitzen. Allerdings spreche ich hierbei von beachtlichen Vermögen, nicht von bescheidenen Summen, die jahrelang mühsam angespart wurden, um die Ausbildung der Kinder und den Lebensstandard der Familie zu gewährleisten.
Für übermäßigen Reichtum gibt es nur drei Verwendungsmöglichkeiten: Das Vermögen kann den Familien des Verstorbenen hinterlassen werden oder dem Staat. Drittens besteht die Möglichkeit, dass die Besitzer großer Geldmittel bereits zu Lebzeiten darüber verfügen. Der größte Teil des Weltvermögens in den Händen weniger wurde bisher entsprechend den ersten beiden Möglichkeiten verwendet. Wir wollen nun jede dieser Möglichkeiten näher betrachten.
Die erste stellt die unvernünftigste dar. Jedem, der nachdenkt, drängt sich die Frage auf: Warum soll man seinen Kindern ein großes Vermögen vererben? Geschieht dies aus Liebe – ist es dann nicht eine irregeleitete Liebe? Die Erfahrung lehrt nämlich, dass es, allgemein gesprochen, für die Kinder nicht gut ist, auf diese Weise belastet zu werden. Es ist auch nicht gut für den Staat. Deshalb sollten Ehemänner und Väter, die ihre Ehefrau und ihre Töchter über ein bescheidenes Maß hinaus finanziell unterstützen und ihren Söhnen, wenn überhaupt, geringe Zuschüsse zukommen lassen wollen, sich dies gut überlegen. Es ist ja längst erwiesen, dass ein großes Vermögen dem Erben häufig mehr zum Nachteil als zum Vorteil gereicht. Kluge Männer werden bald erkennen, dass sie sowohl im Interesse ihrer Kinder als auch dem des Staates ihr Vermögen nicht richtig nutzen, wenn sie es erst nach ihrem Tode verteilen.
In Anbetracht der bekannten Auswirkungen von Vermächtnissen großer Vermögen muss der vernünftige Mann zur Einsicht gelangen: „Würde ich meinem Sohn statt der allmächtigen Dollars einen Fluch hinterlassen, käme es auf das Gleiche heraus.“ Insgeheim müsste er sich eingestehen, dass diese Vermögen nicht im Hinblick auf das Wohlergehen der Kinder vererbt werden, sondern aus Familienstolz.
Bei der zweiten Möglichkeit fällt nach dem Tod des Erblassers das Erbe dem Staat zu. Das Wissen um die Auswirkungen von Vermächtnissen ist nicht gerade dazu angetan, die Hoffnung zu erwecken, dass diese nach dem Tod des Erblassers noch viel Gutes bewirken werden. Bei dieser Möglichkeit hat der Schenkende keine Kontrolle über die Auswirkungen seiner Schenkung. Man darf ja nicht vergessen, dass genauso viel Talent erforderlich ist, das Vermögen so zu nutzen, dass es der Gemeinschaft zum Segen gereicht, wie Begabung nötig war, um Reichtum anzuhäufen. Im Übrigen braucht niemand für das gelobt zu werden, was er unbedingt tun will; auch ist ihm die Gemeinschaft, der er sein Vermögen erst nach seinem Tode hinterlässt, nicht zu Dank verpflichtet. Es drängt sich nämlich der Verdacht auf, dass Menschen, die erst nach ihrem Tod riesige Summen „verschenken“, dies bestimmt nicht getan hätten, wenn sie das Geld hätten mitnehmen können. Die Erinnerung an solche Männer kann nicht in Ehren gehalten werden, denn ihre Vermächtnisse sind kein Anlass zur Freude. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass im Allgemeinen auf einer solchen Hinterlassenschaft kein Segen zu liegen scheint.
Die immer größer werdende Tendenz, große Nachlässe stärker zu besteuern, ist ein deutliches Indiz für einen zunehmenden positiven Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit. Von allen Besteuerungsarten scheint die Erbschaftssteuer die vernünftigste zu sein. Männer, die ihr Leben lang ein Vermögen anhäufen, dessen sinnvolle Verwendung für öffentliche Einrichtungen der Gemeinschaft zugute käme, aus der es ja zum großen Teil erwachsen ist, sollten davon überzeugt werden, dass die Gemeinschaft (der Staat) nicht um den ihr zustehenden Anteil gebracht werden darf. Indem der Staat den Nachlass hoch besteuert, zeigt er seine Verachtung für das wertlose Leben des selbstsüchtigen Millionärs.
Es wäre wünschenswert, wenn die Staaten in dieser Richtung noch einen Schritt weiter gingen. Es ist nämlich schwierig, den Anteil des Vermögens eines reichen Mannes, das nach seinem Tod durch Vermittlung des Staates der Öffentlichkeit zufällt, zu ermitteln. Die Erbschaftssteuer sollte auf alle Fälle gestaffelt werden, das heißt, kleine Vermächtnisse für Abhängige sollten nicht besteuert werden, aber die Steuer sollte entsprechend der Höhe des Vermögens steigen, bis, wie in Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“, der Staat dann „die Hälfte seiner Güter (des Bürgers) an sich ziehn“ wird.
Diese Politik würde gut funktionieren, wenn der reiche Mann dazu bewegt werden könnte, sich zu Lebzeiten um die Verfügung über sein Vermögen zu kümmern. Dieses Ziel sollte die Gesellschaft immer im Auge behalten, da es für das Volk weitaus das lohnendste ist. Es besteht kein Anlass zu der Befürchtung, dass diese Politik die Initiative und das Bestreben der Menschen, Vermögen anzuhäufen, beeinträchtigen könnte. Denn es steht fest, dass die Reichen, die ein großes Vermögen hinterlassen möchten, damit nach ihrem Tod über sie geredet wird, noch mehr Aufmerksamkeit erregen würden, wenn sie noch zu Lebzeiten dem Staat große Summen übertragen würden, was bei weitem wertvoller wäre.
Es bleibt schließlich nur noch die dritte und letzte Möglichkeit, ein großes Vermögen zu verteilen. Sie stellt das genaue Gegenbeispiel zur derzeitigen ungleichen Vermögensverteilung dar und bildet einen Ausgleich zwischen Armen und Reichen, denn sie strebt eine harmonische Koexistenz an, ein Ideal, das sich jedoch von dem des Kommunismus unterscheidet, da lediglich die Weiterentwicklung der bestehenden Verhältnisse gefordert wird, nicht jedoch die völlige Zerstörung unserer Zivilisation. Diese beruht auf dem gegenwärtigen höchst ausgeprägten Individualismus, den die Menschen allmählich zu akzeptieren lernen. Unter seinem Einfluss werden wir einen idealen Staat schaffen, in dem der enorme Reichtum einiger weniger im besten Sinne das Eigentum vieler werden wird, da er für das Gemeinwohl verwaltet wird. Und dieses Vermögen kann in den Händen weniger viel eher zu einer starken Kraft werden, die zur Vervollkommnung unseres Geschlechts beiträgt, als wenn es in kleinen Summen an das Volk verteilt würde. Diese Erkenntnis kann sogar den Ärmsten begreiflich gemacht werden, so dass sie davon überzeugt sind, dass sie mehr Nutzen davon haben, wenn die Gelder aus dem Besitz einiger ihrer Mitbürger für öffentliche Einrichtungen verwendet werden, als wenn die Summen im Laufe vieler Jahre in Bagatellbeträgen an sie verteilt würden.
Unsere Möglichkeiten als Durchschnittsbürger sind gering und eingeschränkt, unser Horizont begrenzt und selbst unsere beste Arbeit unvollkommen. Aber die Reichen sollten für eine unschätzbare Gnade dankbar sein, die ihnen zuteil wurde. Sie sind nämlich in der Lage, ihr Leben lang Geld in Projekte zu investieren, die ihren Mitmenschen zugute kommen, was wiederum ihrem eigenen Leben zur Ehre gereicht. Wahrscheinlich wird das Leben nicht dadurch bereichert, dass man die veränderten Lebensbedingungen dieses Zeitalters erkennt und sie im christlichen Sinne nutzt. Orientieren wir uns an Christi Leben und Lehre, dann muss unsere Sorge vor allem dem Wohl unserer Mitmenschen gelten, was wir auch entsprechend den Gegebenheiten unserer Zeit in die Tat umsetzen sollten.
Der Reiche hat folgende Pflichten: Er soll ein bescheidenes, unauffälliges Leben führen, weder Prunk noch Extravaganz demonstrieren. Außerdem soll er die berechtigten Wünsche der von ihm abhängigen Menschen bis zu einem gewissen Grad erfüllen. Zudem soll er alle zusätzlichen Einkünfte bloß als anvertraute Fonds betrachten, die er pflichtbewusst so zu verwalten hat, dass sie der Gemeinschaft den größtmöglichen Nutzen bringen. Wenn der Reiche sein überlegenes Wissen, seine Erfahrung und sein Talent als Manager in den Dienst seiner ärmeren Mitmenschen stellt, wird er deren Vermögensverwalter. Er hilft ihnen damit mehr, als sie sich selbst helfen könnten.
Wenn man Gutes tun will, sollte man sich von der Überlegung leiten lassen, jenen zu helfen, die sich selbst helfen. Einen Teil des Geldes sollte man jenen überlassen, die ihre Lage verbessern wollen, und man sollte jenen Geld geben, die Unterstützung suchen, damit sie wieder auf die Beine kommen. Natürlich soll man helfen, aber möglichst selten oder nie alle Kosten für den anderen übernehmen. Weder das Individuum noch die Menschen insgesamt werden durch Almosen besser. Allerdings bitten jene, die Hilfe verdienen, von wenigen Fällen abgesehen, selten um Hilfe. Die wirklich wertvollen Menschen werden nie um Geld betteln, es sei denn, sie hätten einen Unfall gehabt oder ihr Leben habe sich von heute auf morgen verändert. Natürlich kennt jeder von uns Menschen, für die eine vorübergehende Unterstützung eine große Hilfe darstellt, die man ihnen selbstverständlich auch bereitwillig gewährt. Aber die Höhe des Betrags, den der Einzelne mit Bedacht spenden soll, muss zwangsläufig begrenzt sein, da ja der Spender die Umstände des Almosenempfängers nicht kennt. Der einzige wahre Reformer ist der, der sich sorgfältig bemüht, nicht dem Unwürdigen zu helfen, sondern dem, der es verdient. Vermutlich wird deshalb durch Almosen viel Unheil angerichtet, weil das Laster und nicht die Tugend gefördert wird.
Es gilt dem Beispiel derer zu folgen, die wissen, dass man der Gemeinschaft am besten nützt, wenn man eine Leiter aufstellt, auf der der nach oben Strebende hochklettern kann – kostenlose Bibliotheken, Parks und Freizeitmöglichkeiten, bei denen die Menschen körperlich und geistig Kraft tanken können, Kunstwerke, die Freude bereiten und den Publikumsgeschmack verfeinern, und öffentliche Einrichtungen aller Art, die die allgemeine Situation des Volkes verbessern. Der enorme Reichtum der Reichen fließt also in Form solcher Einrichtungen, die den Menschen auf die Dauer am meisten nutzen werden, wieder der Gemeinschaft zu.
Somit wird die Kluft zwischen Arm und Reich überbrückt. Die Gesetze der Anhäufung von Kapital sind nicht mehr starr, genauso wenig wie die Gesetze der Verteilung. Der Individualismus wird sich durchsetzen, aber der Millionär wird als Treuhänder für die Armen fungieren. Eine Zeit lang wird er mit der Verwaltung des wachsenden Vermögens der Gemeinschaft betraut sein, und er wird diese Aufgabe weit besser lösen, als diese es könnte.
Die klügsten Männer werden somit eine Phase in der Entwicklung der Menschheit erreichen, in der deutlich wird, dass es für bedachte und ernsthafte Männer mit Vermögen keine Möglichkeit gibt, ihren großen Reichtum sinnvoll zu nutzen, es sei denn, sie stellen ihn bereits zu Lebzeiten für das Gemeinwohl zur Verfügung. Und die Zeit dafür ist nicht mehr fern. Männer können sterben, ohne dass ihnen das Mitleid ihrer Mitmenschen zuteil wird. Dabei sind sie immer noch Teilhaber großer Unternehmen, aus denen ihr Kapital, das nach ihrem Tod hauptsächlich für öffentliche Einrichtungen verwendet werden soll, nicht abgezogen werden kann oder wurde. Doch der Tag ist nah, da der Mann, der nach seinem Tode ein Millionenvermögen hinterlässt, über das er schon zu Lebzeiten hätte frei verfügen können, „unbeweint, ungeehrt und unbesungen“ sterben wird. Dabei spielt es keine Rolle, für welchen Zweck er das Geld, das er nicht mit ins Grab nehmen kann, bestimmt hat. Die öffentliche Meinung wird über solche Männer folgendes Urteil fällen: „Der Mann, der so reich stirbt, stirbt in Schande.“
Genau das ist meiner Meinung nach die eigentliche Lehre vom Reichtum. Folgt man ihr, wird man eines Tages das Problem von Arm und Reich lösen und erreichen, dass „auf Erden Frieden zwischen den Menschen herrschen wird, die guten Willens sind“.
Andrew Carnegie war Ende des 19. Jahrhunderts der reichste Mann seiner Zeit. Zunächst im Eisenbahngeschäft erfolgreich, war er größter Stahlunternehmer der Welt. Carnegie spendete zu Lebzeiten mehr als 350 Millionen Dollar für gemeinnützige Einrichtungen. Der Text stammt aus dem Jahre 1889
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