- Herrenlose Sklaverei des Marktes
Zu seinem 150. Geburtstag missbrauchen selbstherrliche Wirtschaftsführer Max Weber zur Rechtfertigung ihres Handelns. Dabei wäre Deutschlands Soziologenpapst heute der schärfste Kritiker dieser Art des Kapitalismus
Kann harte Arbeit unendlichen Spaß machen? Heute, so scheint es, mehr denn je. Überglücklich hat die 24-jährige Mae Holland einen der heiß begehrten Jobs bei Circle ergattert, einer angesagten kalifornischen Internetfirma. Doch ihre Euphorie schlägt bald in Horror um, denn die permanente Überwachung ihrer Leistung im Büro, aber auch zu Hause, die der Konzern seinen Mitarbeitern aufnötigt, verlangt Mae alles ab, psychisch und körperlich. Es ist ein auf unendliche Verbesserung angelegter Optimierungsprozess, der seinen totalitären Charakter stets mit humanitären Weltverbesserungsphrasen zu bemänteln weiß.
[[{"fid":"62458","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":269,"width":201,"style":"margin-left: 5px; margin-right: 5px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Das Beklemmende an Dave Eggers Roman „The Circle“ ist, dass diese Utopie ihre Schatten nicht von weiter Ferne auf uns wirft, sondern ganz nah erscheint, gegenwärtig. Das von Eggers entworfene Unternehmen ist dem realen Internetgiganten Google nachempfunden. Die Algorithmen, die den Mitarbeiter auskundschaften und den Rauswurf der low performer empfehlen, sind bereits im Einsatz. Wer seinen Lebenslauf nicht penibel den aktuellen Vorgaben dieser Effizienzlogik anpasst, hat bald nicht mal mehr die Chance auf ein Vorstellungsgespräch. Anfang März hat Googles Verwaltungsratschef Eric Schmidt auf der Internetkonferenz South by Southwest in Austin klargemacht, dass er diese Art der Sozialdisziplinierung für unausweichlich und gut hält und dass er am liebsten die ganze Welt diesem Modernisierungsprozess unterwerfen will.
Der große Theoretiker dieser Modernisierung ist Max Weber, der wohl bedeutendste deutschsprachige Soziologe. Weber, der am 21.April 150. Jahre alt geworden wäre, beschreibt den Kapitalismus als Gipfel einer umfassenden weltgeschichtlichen Entwicklung: des westlich‑abendländischen Rationalismus, der mit griechischer Wissenschaft und römischem Recht zaghaft in der Antike begann. Besagten Gipfel erreichte der Rationalismus aber erst im Zuge der Reformation und schließlich im Siegeszug des Kapitalismus. Weber versteht darunter das systematisch auf Effizienz und Leistungssteigerung gerichtete Verhalten, ohne das unser Wirtschaftssystem undenkbar ist.
Sich dem Arbeitgeber grenzenlos unterwerfen, ist für Weber nicht Höhepunkt des Optimierungsprogramms
Wie sich die noch fiktive Circle-Mitarbeiterin Mae mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele dem „wissenschaftlichen“ Optimierungsprogramm ausliefert, könnte als ein weiterer Höhepunkt dieser Entwicklung gesehen werden. Aber hätte Weber dies noch goutiert? Sein Augenmerk galt stets dem „Menschentum“, das der moderne Kapitalismus hervorbringt. Er wäre weit davon entfernt gewesen, Maes Bereitschaft, sich ihrem Arbeitgeber derart zu unterwerfen, noch als freiwillige Zustimmung zu deuten. Weber sprach vom Kapitalismus als „Schicksalsmacht“ und sah den modernen Menschen in einem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit“ gefangen. Dave Eggers nachdenklicher Roman, der die umfassende Sozialkontrolle thematisiert, in die uns die digitale Revolution hineinkatapultiert, hätte Weber gefallen.
So nüchtern und empirisch Weber die Durchdringung aller Lebensbereiche durch das Nützlichkeitsprinzip beschreibt, so harsche Worte fand er dafür: „Herrenlose Sklaverei“ nannte er die Marktmechanismen, die sowohl dem Arbeitnehmer wie dem Unternehmer lediglich die zweifelhafte „Freiheit“ ließen, sich ihnen widerstandslos anzupassen: „Wer sich entgegenstellt, wird ökonomisch ebenso unfehlbar eliminiert“, heißt es in seiner berühmten Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“. Darin beschwört er eine Zukunft, die „Fachmenschen ohne Geist und Genussmenschen ohne Herz“ hervorbringt: „Dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.“ Ein kräftiger Satz, eine Absage an eine dumpf-optimistische Fortschrittsromantik, heute am besten passend auf die selbstgerechten „Do no evil“‑Internetmanager in Austin, die sich dort einmal mehr in der selbstverherrlichenden Verheißung gefielen, unser Leben und die Welt jeden Tag besser zu machen.
Weber wird verharmlost, zuallererst von der Wirtschaft, die ihn gern als bürgerlichen Paradeintellektuellen zitiert. In den Festansprachen unserer Wirtschaftsführer taucht Weber als Stichwortgeber für Fleiß, Verantwortungsbewusstsein und Disziplin auf, gerade so, als habe er seine „Protestantische Ethik“ geschrieben, um die Menschen zu harter Arbeit und zur Einhaltung der Betriebsdisziplin anzuhalten.
Gern wird dabei auf die Rationalität des Marktes verwiesen, die Weber herausgearbeitet hat, und ihre moralische Wirkung. Danach sei die „schrankenlose Erwerbsgier“ gerade kein Wesensmerkmal der Marktwirtschaft. Im Gegenteil habe Weber gezeigt, wie der Kapitalismus die Gier in einem zweckrationalen Korsett bändigt und das Streben nach kontinuierlich steigendem Gewinn als Aufgabe rationaler Unternehmensführung begreift. Exzesse wie jene der Bonusbanker seien demnach nur Ausrutscher. Solange die Politik die richtigen Rahmenbedingungen schafft, ist die marktwirtschaftliche Welt in Ordnung.
Das Irrationale dieser Entwicklung, das Weber ausführlich beschreibt, unterschlagen unsere Konzernlenker dabei. Weber hat es bereits an der Quelle des „Geistes des Kapitalismus“, der calvinistischen Ethik der Puritaner, ausgemacht: Als Zeichen dafür, von Gott auserwählt zu sein, galt ihnen der wirtschaftliche Erfolg. Fleiß, Kapitalbildung und Selbstdisziplin wurden so zu ihren Tugenden. Während überall auf der Welt die Menschen arbeiteten, um zu leben, war es bei den Puritanern anders: Sie lebten, um zu arbeiten. Arbeitsunlust, Genuss, Zeitverschwendung galten dagegen als Zeichen der Verdammnis. So entwickelte sich, als unbeabsichtigte Nebenfolge einer religiösen Weltablehnung, eine höchst erfolgreiche diesseitige Arbeits- und Profitmoral, die am Ende, abgelöst von ihren religiösen Grundlagen, den American Way of Life hervorbrachte.
Als „schlechthin irrational“ bezeichnete Weber aber nicht nur den Arbeitseifer, den die Leistungsasketen in den Chefetagen heute radikaler denn je vorleben. Webers zentrale Fragestellung geht darüber hinaus: Wie kann das Verlangen nach einem sinnvollen, gelungenen Leben überhaupt im stahlharten Gehäuse der Zweckrationalität verwirklicht werden? Weder der Markt noch die Technik oder die Wissenschaft können uns sagen, wie wir leben sollen. Bei Sinnfragen lassen sie uns im Stich.
Deutsche Weber-Forscher kümmern sich primär um die geschichtliche Relevanz des Soziologen
Die Wissenschaft hat die einst von Geistern bevölkerte Welt entzaubert, sie hat die heiligen Berge und dämonischen Meere dem kalten Zugriff der betriebswirtschaftlichen Nutzung geöffnet. Aber ob Wirtschaftswachstum und Innovation um ihrer selbst willen noch einen Sinn haben, müssen wir selbst beantworten. Zu Webers Zeiten gab es keine Atombomben und es schwammen keine Müllstrudel von der Größe Spaniens im Atlantik. Von einer Überflussgesellschaft, die allein 20 Prozent ihrer Lebensmittel wegwirft, war man weit entfernt. Dennoch stand Weber der irrationale Kern der Modernisierung klar vor Augen. Je technisch beherrschbarer die Natur und je produktiver die Wirtschaft auch zu werden scheinen, eine rationale Welt schaffen wir so nicht und schon gar keine heile.
Weber taugt deshalb nicht zum Vorzeigeintellektuellen eines Steigerungskapitalismus, der für ein bisschen Verantwortungsethik hier und für mehr Pflichtgefühl und Bescheidenheit dort plädiert. Weber als Apologet des „ehrbaren Kaufmanns“, der den Profitmaximierern von heute ins Gewissen redet – so bringt man einen großen Denker um jede kritische Aktualität.
Auch die deutsche Weber-Forschung verzettelt sich lieber in biederen, rückwärtsgewandten Debatten. Bis heute dauert der Streit, ob die „Protestantische Ethik“ genügend Beispiele für calvinistische Kaufmannskarrieren enthalte und ob Weber nicht Benjamin Franklin, seinen Gewährsmann für die radikalisierte Zeitökonomie („Zeit ist Geld“), falsch zitiert. Als ob es je ernsthaft bezweifelbar war, dass protestantische Länder überproportional wirtschaftlich erfolgreich waren und dass die „protestantische Arbeitsethik“ substanziell zum Wohlstand beiträgt. Zuletzt hat der Chicagoer Ökonom Jörg Spenkuch gezeigt, dass der Zusammenhang zwischen dem Anteil der Protestanten in einem Land und dessen ökonomischem Erfolg heute statistisch noch klarer zutage tritt als vor 100 Jahren, zu Webers Zeiten.
Was über dem Fußnoten-Gezänk der Gelehrten versäumt wird, ist die Auseinandersetzung über die Aktualität und Relevanz von Webers Thesen. Diese findet dafür im Ausland statt. So hat der französische Soziologe Luc Boltanski gezeigt, wie die alte Welt der Berufsmenschen, die von hoher Arbeitsbereitschaft, aber auch stark von Bestrafungen bestimmt war, sich in den sechziger Jahren allmählich verändert hat. Damals befürchteten die Unternehmen noch den Untergang der Arbeitsmoral durch Konsum, Sex und Rock ’n’ Roll. In Wahrheit war aber die Gegenkultur ihre Rettung: Boltanski beschreibt, wie Bedürfnisse, die „direkt der Ideenwelt der 68er entliehen sind“, die alten Arbeitstugenden der Pflicht und Treue mit den Idealen der Autonomie, Flexibilität, Spontaneität und Kreativität auffrischten. Heute ist niemand stärker gefährdet, zum Workaholic zu werden, als die unkonventionellen, disponiblen, intrinsisch motivierten Mitarbeiter, die sich mit ihren Projekten identifizieren und ihren Selbstwert von der Anerkennung im Beruf ableiten. Sosehr sich der asketische Sparkapitalismus von früher in einen spaßmachenden Schuldenkapitalismus verwandelt hat, so hartnäckig bleiben wir doch auf die Bedeutung von Arbeit und Erfolg fixiert.
In Webers stahlhartem Gedankenkonstrukt ist nur für Emotion Platz, die an Waren gekoppelt ist
Eine weitere Ergänzung erfuhr Weber durch den Amerikaner Colin Campbell. Weber habe sich zu sehr auf die „männliche“, kalte Seite des Berufsmenschen konzentriert und die „weibliche“, warme und „empfindsame“ Seite des Pietismus vernachlässigt. Deshalb habe seine geniale Erzählung über den kapitalistischen Geist auch eine blinde Stelle: Wie konnte aus dem „asketischen Protestantismus“ eine moderne Konsumgesellschaft werden? Campbells Antwort in seinem Buch „The Romantic Ethic and the Spirit of Modern Consumerism“ lautet: durch Gefühlskontrolle. Gerade bei sensiblen Romantikern durchwandern die Gefühle mehr Kontrollen, bevor sie zugelassen werden. Dadurch wird er aber auch souveräner im Umgang mit den Versuchungen des Konsums.
Am Aufstieg der Werbung und des Filmes zeigt auch die israelische Soziologin Eva Illouz, wie Waren an romantische Gefühle gebunden und damit konsumierbar werden. So hat sich in Webers stahlhartem Gehäuse eine an Konsum gekoppelte Emotionalität ausgebreitet. Umgekehrt ist die romantische Liebe nicht mehr ein Fluchtpunkt aus einer kalten Welt, sondern die Liebe selbst wird zunehmend ökonomisiert – man denke nur an Partnerbörsen im Internet.
Webers „Fachmenschen ohne Geist“ und „Gefühlsmenschen ohne Herz“ sind aktueller denn je. Wir sollten daher nicht weiter den Soziologenpapst verehren, sondern Weber als unbestechlichen Diagnostiker des Kapitalismus und der Modernisierung neu entdecken. Denn wenn wir nicht aufpassen, enden wir alle wie Mae Holland in „The Circle“.
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