- Der seltsamste Tag des Jahres
Kolumne: Grauzone. Die Kerzen sind abgebrannt, die Päckchen ausgepackt, die Gans verdrückt samt Rotkohl und Klößen, und die liebe Verwandtschaft ist wieder abgereist. Was soll man da noch am Zweiten Weihnachtsfeiertag anstellen?
Der Zweite Weihnachtsfeiertag ist wie aus der Zeit gefallen. Noch steht der Weihnachtsbaum, Reste von Geschenkpapier liegen unbeachtet in einer Ecke, das Fest ist unwiederbringlich vorbei – zur Erleichterung für die einen, für die anderen zum Bedauern. Es umfängt einen eine gewisse Leere, ähnlich derjenigen am Neujahrstag. Letzterer hat allerdings den Vorteil, dass man von ihm meist nur die Hälfte mitbekommt.
Am Zweiten Weihnachtsfeiertag aber beginnt man Bilanz zu ziehen und sich an die schönen Momente des Festes zu erinnern, die besinnlichen, die ausgelassenen, die feierlichen. Oder an die spannungsreichen, die konfliktträchtigen, die enttäuschenden – je nach dem.
Das liegt vor allem daran, dass kein Fest mit vergleichbaren emotionalen Erwartungen verbunden ist wie Weihnachten. Entsprechend schwer sind sie zu erfüllen und entsprechend leicht zu enttäuschen. Für diese Emotionalisierung des Weihnachtsfestes dürften in einer weitgehend entchristlichten Gesellschaft religiöse Motive kaum eine Rolle spielen. Zu weit sind die Bilder der Weihnachtsgeschichte von der Lebensrealität des modernen Menschen entfernt.
Erinnerungen an kindliche Wunschträume von Weihnachten
Und auch die in vielen Gottesdiensten wiedergegebenen modernisierten Lesarten des Weihnachtsgeschehens erreichen die meisten Menschen kaum in einer Art und Weise, die die hochgradige Emotionalisierung zu erklären vermag, die mit Weihnachten verbunden ist. Im Gegenteil: Häufig hat man den Eindruck, dass die zumeist ethisch aufgeheizten Kanzelbotschaften von Friede und Gerechtigkeit geradezu ernüchternd auf die versammelten Kirchgänger wirken und eher geeignet sind, dem Fest seinen Zauber zu nehmen, als ihn zu befördern.
Seien wir ehrlich: Sowohl die traditionelle Botschaft von der Erlösungskraft des Jesuskindes noch seine zeitgenössischen, gesellschaftskritischen Umdeutungen lassen die meisten Menschen – ob Kirchgänge oder nicht – mehr oder minder kalt. Der Zauber, den das Weihnachtsfest für viele, vielleicht sogar für die meisten Menschen immer noch hat, speist sich aus ganz anderen, viel persönlicheren Quellen.
Denn Weihnachten ist zum Hochfest unserer persönlichen Erinnerungen geworden. Dabei geht es häufig nicht einmal um Erinnerungen an reale Weihnachtsfeste der Kindheit, sondern vielmehr an Erinnerungen an kindliche Wunschträume. Weihnachten, das ist das große Sehnsuchtsfest. Und weil den allermeisten von uns, aller zur Schau getragenen Abgeklärtheit zum Trotz, diese Erinnerungen an kindliche Sehnsüchte so wertvoll sind, versuchen wir diese an unsere Kinder weiterzugeben – durch Familienrituale, Lichterglanz und Bratenduft.
Sehnsucht nach Weihnachtsromantik
Was dabei entsteht, ist eine moderne Privatreligion: emotional hochgradig aufgeladen und ohne konkreten religiösen Bezug im traditionellen Sinne. Dafür aber ist sie angefüllt mit Bildern einer Idealwelt, von der wir natürlich wissen, dass sie – wenn überhaupt – allenfalls nur an einem Abend im Jahr zu realisieren ist.
Darüber zu spotten ist leicht. Aber wieso eigentlich? Was spricht gegen verklärte Erinnerungskonstruktionen, was gegen die kitschige Sehnsucht nach Weihnachtsromantik?
Man kann dem mit aufgesetzt progressiver Schnoddrigkeit begegnen und zynischer Kaltschnäuzigkeit. Und natürlich lässt sich das alles ironisieren mit Weihnachtsmannzipfelmützen und X-Mas-Partys. Doch letztlich sind das hilflose Abwehrreaktionen, Zeugnisse der Unfähigkeit, innezuhalten – und eine
geistlose Kapitulation vor der beklagten Sinnentleerung des Festes.
Endlich wirkliche Zeit für Besinnung
Der Bedeutungswandel zu einem Fest individueller Erinnerungsverklärung, den das Weihnachtsfest in der bürgerlichen Kultur der Moderne erfahren hat, ist keine Abwertung. Er ist eine Umdeutung. Sie dient der Selbstvergewisserung, indem sie einer sich permanent verwandelnden Welt die immer gleichen Rituale entgegensetzt.
Und hier nun bekommt der heutige Tag, der ungeliebte Zweite Weihnachtsfeiertag, seinen eigenen Charme. Denn endlich ist Ruhe eingekehrt. Die Geschenke sind ausgepackt, die großen Festessen vorbei, die Gäste auf dem Heimweg. Endlich ist Zeit, wirklich innezuhalten, die alte Aufnahme des Weihnachtsoratoriums aufzulegen, die man schon mit den Eltern gehört hat, geruhsam eine Flasche Wein zu öffnen und sich daran zu erinnern, was das Leben ohne die vielen Weihnachtserinnerungen wäre – ob geschönt oder nicht.
Ein Tag, zu sich selbst zu finden. Vielleicht ist genau das für manche so schwer erträglich. Schade eigentlich.
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