- „Tragen Sie nie eine Waffe hier?“
Afghanistan nach dem Abzug der Truppen. Was passiert eigentlich in Kabul? Die junge Reporterin Ronja von Wurmb-Seibel ist in das Krisengebiet gezogen, um den etwas anderen Blick darauf zu werfen. Ein Buchauszug aus „Ausgerechnet Kabul. 13 Geschichten vom Leben im Krieg“
Als ich das erste Mal einen deutschen Soldaten in Kabul treffe, lebe ich bereits sechs Wochen in der Stadt. Ich bin zum Interview mit einem deutschen General verabredet, im Hauptquartier der NATO. Ins Camp darf man nur mit einem besonderen Ausweis – den ich nicht habe. Also holt mich ein Soldat am Eingang ab.
»Sind Sie gerade mit dem Taxi gekommen?«, fragt er mich, noch bevor wir uns die Hand gegeben haben. Ich nicke und sage, dass ich das eigentlich immer mache. Er schüttelt den Kopf. Dann führt er mich durch eine Handvoll Sicherheitsschleusen in das Büro des Generals.
Nach dem Interview bringt er mich wieder zurück. »Tragen Sie nie eine Waffe hier?«, fragt er mich auf halbem Weg.
Ich muss lachen.
»Ich wüsste gar nicht, wie man damit umgeht.«
»Können Sie ja lernen«, sagt er, »es ist nicht so schwer.«
Ich erkläre ihm, dass es nicht ganz ins Konzept eines Journalisten passt, eine Waffe zu tragen. Wir gehen ein paar Schritte schweigend.
»Wirklich nie?«, fragt er dann. »Sie müssten sie ja nicht benutzen, nur zur Sicherheit.«
»Was hilft mir eine Waffe bei einem Anschlag«, frage ich, »oder bei einer Entführung?« Ich sage ihm auch, dass ich glaube, viel mehr Gefahren gebe es nicht für mich in Kabul. Anders als er sei ich kein militärisches Ziel. Der Soldat nickt.
Beim Verabschieden zögert er einen Moment. Dann fragt er: »Haben Sie eigentlich keine Angst da draußen?«
Ausländer und Afghanen leben in zwei getrennten Welten – vielleicht ist das die erste Sache, die ich über Kabul begriffen habe. Und an keinem Ort prallen sie so aufeinander wie hier, vor dem Hauptquartier der NATO.
Hinter vier Meter hohen Betonmauern und Stacheldrahtzaun sind im Camp Eggers Soldaten aus knapp dreißig Nationen stationiert. Eine rot-weiß gestreifte Schranke und ein »Please show your ID«-Schild trennen sie vom Rest der Stadt. Das ist die sichtbare Grenze an diesem Ort.
Aber es gibt auch eine unsichtbare Grenze. Manche Männer im Feldlager tragen kurze Hosen; Frauen laufen ohne Kopftuch auf der Straße; die Leute trinken Bier. Im Camp herrschen Vorschriften, Befehle und Vorsichtsmaßnahmen; draußen Witz, Verhandlungsgeschick, Draufgängertum. Drinnen reden die Leute davon, dass »ein Selbstmordattentäter umgesetzt« hat, draußen sagen sie: »Heute gab es schon wieder eine Explosion.« Drinnen lesen sie jeden Tag eine lange Liste von Terrorwarnungen und stimmen ihre Fahrtwege darauf ab. Draußen zucken sie mit den Schultern und sagen: »Wenn ich sterben soll, dann ist es eben so. Ich kann den Krieg nicht ändern – und was bringt’s, mir ständig Sorgen zu machen?« Drinnen zählt man die Tage herunter, die man noch in diesem Land, besser: in diesem Lager verbringen muss. Draußen sagt man: »Tja, so ist es, das Leben«, weil man weiß, dass man nicht wegkann. Drinnen spricht man von den Anfängen einer Demokratie und von der »afghanischen Art, Dinge zu lösen«. Draußen sagt man: Politiker? Alle korrupt!
An der Schranke stehen drei afghanische Soldaten in Schutzwesten. Sie bewachen den Eingang zu einer Welt, die ihnen vollkommen fremd ist. Genauso wie die NATO-Soldaten geschickt wurden, um eine Welt zu bewachen, die ihnen fremd ist.
Ich beschließe, eine Weile an diesem sonderbaren Ort zwischen den Welten zu bleiben. Rumsitzen. Gucken. Nachdenken. Vor allem rumsitzen.
Vor der Schranke und den afghanischen Soldaten sitzen drei Mädchen auf dem Betonboden. Sie sprechen ziemlich gut Englisch, mit amerikanischem Akzent, und sie sprechen mich sofort an. Ihre ersten Fragen sind anders als die des Soldaten: Was ist deine Lieblingsfarbe? Wo hast du deine Schuhe gekauft? Wie viel hast du dafür bezahlt? Bist du verheiratet?
Ich erzähle ihnen von meinem Freund. Er heißt Nik. »Ist er sehr klein?«, fragt eins der Mädchen und schaut dabei recht mitleidig drein. »Kein bisschen«, sage ich und lache, »wie kommst du darauf?« »Ach, ich kenne auch einen Nik. Und der ist klein. Sehr, sehr klein. Einer der Soldaten dort drüben«, sagt das Mädchen und schaut Richtung Camp. Dann schaut sie zurück zu mir und blickt mir in die Augen – prüfend, bilde ich mir ein. Als würde sie testen wollen, ob ich wirklich auch die Wahrheit sage. »Er ist größer als ich«, sage ich. Das überzeugt, ich bin ein Meter achtzig.
Die Mädchen sind nicht zufällig vor dem Camp. Sie kommen jeden Tag hierher und verkaufen Schals an die Ausländer, die im Hauptquartier aus und ein gehen: Entwicklungshelfer, Geheimdienstler, Diplomaten, Soldaten. Sie alle kommen in Autos, die ich meide wie nichts anderes in Kabul: SUVs mit verdunkelten Scheiben und gepanzerten Türen. Man sitzt gefühlte zwei Meter über dem Boden, abgehoben vom restlichen Straßenverkehr. Viele dieser Autos haben einen GPS-Jammer auf dem Dach, einen Sender, der Funksignale stört, damit rund um das Auto keine Bombe ferngezündet werden kann. Das kann schützen, ist aber auffällig. Und bei einem Selbstmordattentat hilft es nichts.
Leute, die in solchen Autos durch Kabul fahren, haben eines gemeinsam: Sie werden gut bezahlt. Und das ist auch der Grund, warum die drei Mädchen hier stehen. An guten Tagen verdient jede von ihnen fünfzehn Euro, an schlechten zwei. Es gibt mehr als sechzigtausend Kinder, die in Kabul auf der Straße arbeiten, aber wenige verdienen so viel.
Die Mädchen vor dem Camp sind Cousinen und heißen Madina, Brischna und Fatima. Sie erzählen, dass sie nicht genau wissen, wie alt sie sind. Vielleicht acht, neun und zehn? Sicher ist nur, dass Brischna die Jüngste und Fatima die Älteste ist. Dann sagen sie noch, dass sie die Soldaten gut finden. Weil sie so viel kaufen.
Ein schwarzes Auto ohne Nummernschild und mit getönten Scheiben hält zwei Meter vor den Mädchen. Ein Mann in Jeans und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln steigt aus. »Hey, Kumpel«, ruft Madina auf Englisch, »willst du ein Tuch kaufen?« »Heute nicht«, sagt der Mann, »ich hab doch schon eins gekauft diese Woche. Aber wollt ihr Wasser?« Madina nickt, der Mann wirft ihr eine Plastikflasche zu. Er geht an den Mädchen vorbei und verschwindet hinter der Schranke.
Madina trinkt ein paar Schlucke, dann gibt sie die Flasche an Fatima weiter; die gibt sie Brischna, und schon ist sie leer. »Er kauft jede Woche einen Schal«, erzählt Brischna nach ihrem letzten Schluck, »immer abwechselnd von Fatima, Madina, dann von mir.« Es kommen noch ein paar andere Männer ins Camp gefahren. Die Mädels kennen ziemlich viele von ihnen mit Namen. Als sie hören, woher ich stamme, erzählen sie von einem Deutschen, der angeblich »Bini« heißt. »Bini!«, ruft Fatima, »ich schwöre dir, er heißt Bini!« Auf Dari heißt das: Nase.
»Hey«, ruft einer der afghanischen Soldaten dazwischen. »Frag sie mal, warum sie nicht zum Islam übertritt.« Er meint mich. Wahrscheinlich beauftragt er die Mädchen, zu vermitteln, weil ich eine fremde Frau bin und er es wohl unhöflich fände, mich in der Öffentlichkeit anzusprechen. »Ich glaube, dass wir den gleichen Gott haben«, antworte ich. »Klar«, sagt er, »aber sie wohnt hier, sie trägt die gleiche Kleidung wie wir, sie spricht unsere Sprache. Sie mag sogar unser Essen! Da kann sie doch auch zum Islam übertreten.«
Ich muss lachen. Seine Verwirrung scheint mir jetzt einigermaßen logisch: Alles macht sie mit, nur das Wichtigste lässt sie links liegen. Trotzdem frage ich nach: »Warum ist das so wichtig?« »Na ja«, sagt er, »du kommst sonst nicht ins Paradies, wenn du stirbst.« Macht auch irgendwie Sinn. »Vielleicht irgendwann mal, okay?«, sage ich – nicht weil ich es ernst meine, sondern weil ich finde, dass meine Argumente nicht besser sind als seine –, »aber heute nicht.« »Okay, kein Problem«, sagt er und unterhält sich wieder mit seinen beiden Kameraden.
Die Mädchen laufen auf die nächsten Ausländer zu, die an die Schranke kommen, und ich denke zurück an ein Treffen, bei dem mir die Frage nach dem Islam schon einmal gestellt wurde. Damals hatte ich einen Bekannten gefragt, ob er mir das Opferfest erklären könne. Er brachte mich in ein altes Haus in der Innenstadt, zu einem Geistlichen. Wir saßen auf dem Boden, tranken Tee und redeten über religiöse Bräuche. Zweieinhalb Stunden lang.
Das Gespräch verlief in einer etwas absurden Dreieckskonstellation. Der Geistliche fragte, wie wir diese oder jene Geschichte in der Bibel erzählen. Da ich die Bibel nicht besonders gut kenne, mir das aber auf keinen Fall anmerken lassen wollte, versuchte ich, mit Rückfragen abzulenken. Wie seht ihr dies? Wie seht ihr das? Bei den Antworten gerieten mein Bekannter und der Gelehrte jedes Mal in Wortgefechte, so unterschiedlich waren ihre Ansichten zur Auslegung des Islams. Nur in einer Sache waren sie sich einig: Wir alle glauben an denselben Gott, und im Grunde gibt es kaum einen richtigen Unterschied zwischen den Religionen. »Außer …«, schob der Geistliche etwas verlegen ein, »dass wir eben die jüngste sind.« Ich verstand nicht ganz, worauf er hinauswollte, und offenbar sah man mir das an. Mein Bekannter sprang ein. »Wenn du ein iPhone 4 hast, dann kannst du alles machen: telefonieren, E-Mails schreiben, WhatsApp, fotografieren. Aber du hast halt kein iPhone 5. Dir fehlt ein Update.« Er machte eine kurze Pause, als wollte er sichergehen, dass ich auch wirklich zuhöre. Dann sagte er: »Die Juden sind das iPhone 3, ihr seid das 4er, und wir: das 5er.«
Ich will den Mädchen davon erzählen, aber Madina fängt schon mit einer anderen Geschichte an. »Am ersten Tag konnte ich kein Wort Englisch«, erzählt sie. »Irgendwann hat mich ein amerikanischer Soldat gefragt, ob ich Süßigkeiten will – Candy.« Madina verstand ihn falsch und fragte von da an jeden Ausländer nach »Andy«. »Ich habe erst viel später gemerkt, dass das gar nicht stimmt. Mein zweites Wort war Dollar. Und so ging es weiter.«
Es folgen ein paar Minuten, in denen die drei ihre Sprachkenntnisse vorführen. Weil auch deutsche Soldaten im Feldlager sind, kennen sie »Gute Nacht« und »Guten Abend«. Sie wissen, was »Hallo, wie geht’s?« auf Chinesisch heißt und »Tschüss« auf Italienisch.
Dann versuchen die drei Cousinen, ein paar ihrer Schals zu verkaufen. »Beim nächsten Mal«, sagt ein Soldat. »Pinky Promise?«, schreit Fatima und hält ihren kleinen Finger in die Luft. Einen anderen begrüßt sie mit High Five.
Ein dritter Soldat kommt nur kurz aus dem Camp heraus, vorbei an der Schranke und vorbei an den afghanischen Soldaten, um den Mädchen zwei Liter Milch zu geben, für ihre kleinen Geschwister. Ich frage mich, ob er spürt, wie er von einer Welt in die andere wechselt. Fühlt er dieselbe Anspannung wie ich, wenn er von der vertrauten in die fremde tritt, nur eben andersherum? Eigentlich hätte ich den Soldaten, der mich im Feldlager abgeholt hat, zurückfragen sollen: Und Sie? Haben Sie keine Angst da drinnen?
Dann kommen drei Panzerwagen der Bundeswehr aus der Stadt angerollt, und Fatima ruft mir zu: »Deutschland! Schwarz-Rot-Gelb!« Alle drei rennen zu den Fahrzeugen, aber keiner der Soldaten steigt aus.
Meistens ist Deutschland für mich in Kabul weit weg. Doch als ich vorm NATO-Hauptquartier sitze und den Fahrzeugen der Bundeswehr hinterherschaue, muss ich an einen Taxifahrer am Hamburger Flughafen denken und daran, was er mir über seine Zeit als Soldat vor sechzig Jahren erzählt hatte. Der Taxifahrer hatte weiße Haare und setzte seine Schritte so behutsam, dass ich meinen Koffer selbst in den Wagen heben wollte. Er protestierte: »Das mache hier immer noch ich!« Auf der Fahrt erzählte er dann, dass er fünfundachtzig Jahre alt sei und Hamburgs dienstältester Fahrer. Er sei Australier mit deutschen Wurzeln und ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach Hamburg geschickt worden, um britische Soldaten abzulösen, angeblich »weil die überhaupt kein Deutsch konnten«. Sie hätten in ihrer eigenen Welt gelebt und den Deutschen kaum helfen können – sie konnten ja nicht einmal mit ihnen reden.
Mag sein, dass die Geschichte erfunden war, aber ich mag sie trotzdem. Und ich glaube, eine solche Maßnahme täte auch den Soldaten der NATO gut. Einmal hat mich eine Bundeswehrsoldatin gefragt – nachdem sie das dritte Mal für sechs Monate im Land war –, wie das jetzt noch mal sei: Taschakur heiße doch »Tschüss« und Khoda Hafez »Danke«, oder? Es ist genau andersrum.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn mein Dari-Lehrer einmal pro Woche dorthin fahren würde, wo ich gerade sitze, zum Camp Eggers, um Soldaten zu unterrichten. Sayed ist dreißig, studierter Arzt, und arbeitet inzwischen für die UN als »Gender Adviser«. Als er den Job anfing, fragte ich ihn, was er dort machen müsse. Er antwortete: »Ich muss überprüfen, wer Mann und wer Frau ist.« »Und was machst du mit denen dazwischen?« »Das finde ich noch heraus«, sagte er und lachte. In Wahrheit hat er einen durchgetakteten Bürojob. Sayed geht zu Meetings, plant Konferenzen, liest Protokolle und schreibt Berichte. Während seiner Feierabende fährt er dann von einem Ausländer zum nächsten und bringt ihnen Dari bei. Er macht das ziemlich gut. Bei mir hat es keine drei Monate gedauert, bis wir über die wichtigsten Dinge reden konnten. Nicht flüssig, aber verständlich.
Ich starre auf die Betonwände des Hauptquartiers und stelle mir vor, wie Sayed mit den afghanischen Soldaten hier am Eingang scherzen würde. Wie er ein paar Meter hinter der Mauer vor einer Gruppe NATO-Soldaten stehen und ihnen erklären würde, was das Sprichwort »Du kannst die Sonne nicht mit zwei Fingern verdecken« bedeutet. Dann würde er ihnen einen Witz über die angeblich schwulen Kandaharis erzählen. Ich stelle mir vor, wie er die deutsche Soldatin so lange triezen würde, bis sie wenigstens die Worte »Tschüss« und »Danke« auseinanderhalten könnte. Wie er sie testen und absichtlich Fehler machen würde, um zu sehen, ob sie ihn korrigiert. Ich stelle mir vor, wie er an einem Tag von der afghanischen Gastfreundschaft erzählen und dann beim nächsten Mal Kuchen und Kekse mitbringen würde. Wie er die Soldaten für ihre schlechte Aussprache aufziehen würde; wie er ihnen erklären würde, welche Schimpfwörter sie bei guten Freunden verwenden könnten und welche sie nur passiv wissen sollten, damit sie verstehen, was die Leute ihnen hinterherrufen. Ich stelle mir vor, wie er irgendwann versehentlich auf Dari auf sie einreden würde statt auf Englisch und wie die Soldaten auf einmal Angst bekommen und sich fragen würden, ob sie diesem Mann vielleicht doch zu Unrecht vertraut haben. Denn so geht eine Argumentation, die ich oft höre: Er ist zwar witzig und nett, aber er ist immer noch Afghane, und es kommt immer wieder vor, dass Afghanen auf Ausländer schießen. Ich stelle mir vor, wie Sayed nach dem Unterricht noch kurz in den Camp-eigenen Supermarkt gehen und an der Kasse die Glasvitrine mit den Uniformaufnähern sehen würde: »Infidel«, »Taliban Hillfighter« und: »We do bad things to people«.
Dann denke ich an einen Satz, den ich ein paar Tage zuvor gelesen habe. Ich kann mir Zitate schlecht merken, aber sinngemäß ging er so: »Solange diejenigen, die den Frieden wollen, ihn nicht genauso vehement vertreten wie diejenigen, die den Krieg wollen, wird das nichts.«
Alle, die ich in Kabul kenne, sind gegen den Krieg, schon seit fünfunddreißig Jahren, als er mit dem Einmarsch der Sowjets begann. Sie haben nur keine Macht. So wie die drei Cousinen vor dem Hauptquartier.
Gegenüber ihrem Stammplatz, der rot-weiß gestreiften Schranke, steht auch eine Betonmauer. Eine Botschaft vielleicht, ein Ministerium. Es gibt viele solcher Gebäude in dem Viertel hier. Auf die Mauer haben die Mädchen ihre Namen gesprayt, ich habe es die ganze Zeit über nicht bemerkt: »Brischna, Fatima, Madina«. Und: »I love you«. »Warum habt ihr das gemacht?«, frage ich. »Damit sich die Leute auch noch an uns erinnern, wenn wir tot sind«, erklärt Madina. Dann erzählt sie von einem Tag, der zwei Jahre zurückliegt. An einem Samstag im September sprengte sich ganz in der Nähe der Schranke ein Mann mit seinem Motorrad in die Luft. Die Mädchen waren gerade auf einem Markt. Sie erfuhren erst später, dass bei dem Anschlag sechs ihrer Freunde getötet worden waren.
In Kabul lernt man den Tod früh kennen. Aber man gewöhnt sich nie an ihn.
Die Mädchen erzählen von Albträumen. Davon, dass sie manchmal weinen, wenn sie an den Tag vor zwei Jahren denken. Ich sage nichts.
Dasitzen, schweigen. Keine Worte finden, die Hoffnung geben. Oder Mut. Nur dasitzen und zuhören und hoffen, dass das hilft. Ich hasse diese Momente.
»Der Krieg ist scheiße, hm?«, sage ich irgendwann. Und komme mir blöd dabei vor.
Dann fliegt eine leere Plastikflasche durch die Luft. Es ist die Flasche, die der Mann mit den hochgekrempelten Hemdsärmeln den Mädchen gebracht hatte. Ich schaue in die Richtung, aus der sie geflogen kam, zu den drei afghanischen Soldaten vor der Schranke. Dort steht jetzt ein vierter Soldat, mit Tropenhut. Er hat die Flasche geworfen und brüllt die Mädchen an: »Haut ab! Was habt ihr hier zu suchen?«
Als ich mich zu ihnen umdrehe, sind sie weg. Sie haben sich hinter einem kleinen Betonpfeiler eine Ecke weiter versteckt und winken mir hektisch zu – komm her! Als ich bei ihnen bin, sagen sie: »Das macht der immer. Er ist ein bisschen verrückt. Aber die anderen sind ganz okay.«
Die Grenzen in Kabul, sie verlaufen nicht nur zwischen Ausländern und Afghanen. Sie sind überall. Sie trennen alles und jeden. Reiche und Arme. Frauen und Männer. Paschtunen und Hazara. Hazara und Tadschiken. Tadschiken und Paschtunen. Gläubige und nicht so Gläubige. Gläubige und Strenggläubige. Strenggläubige und Taliban. Taliban und Soldaten. Soldaten und Friedensaktivisten. Arbeiter und Bettler. Arbeiter und Flüchtlinge. Arbeiter und Politiker. Politiker und Warlords. Warlords und Taliban. Taliban und die NATO. Die NATO und afghanische Soldaten…
Die Grenzen haben sich tief eingegraben. Und jeden Tag nähren sie aufs Neue das Misstrauen, das der Krieg über die Jahre gesät hat. Die rot-weiß gestreifte Schranke, an der ich gerade sitze – sie ist nur eine Grenze von vielen.
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