- Eltern, schützt eure Kinder!
Kolumne: Stadt, Land, Flucht: „Die Kindheit ist unantastbar“, schreibt Kinderarzt Herbert Renz-Polster in seinem neuen Buch. Er formuliert eine eindringliche Mahnung an uns Eltern
Ihr Lebenstempo zieht langsam an: Krippenplatz vom 11. Monat an, Kindergarten bis in die späten Nachmittagsstunden, nachmittags zum Reiten, seit kurzem noch Ballett, nun rät die Schulleiterin zur Einschulung mit fünf Jahren. Und ist es nicht schon längst Zeit für ein Instrument?
Kinder müssen träumen, frei spielen, nicht zu viel vor dem Computer hocken, auf Bäume klettern und im Dreck wühlen. Ich weiß das schon. Theoretisch. Praktisch beobachte ich auch an mir eine Tendenz, mein Kind gemäß heutiger Gesellschaftsstrukturen zu überfordern.
Kinder als Investitionsmaterial
Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster hat in der vergangenen Woche sein Buch „Die Kindheit ist unantastbar“ in die Buchläden gebracht. Sein Verlag preist ihn als Querdenker an, er selbst wehrt sich in einer Passage gegen den Duktus des „Verschwörungstheoretikers“. Wer aber sein Buch liest, findet eine klare Analyse unserer Zeit – aus geschichtlicher, wirtschaftswissenschaftlicher, psychologischer und soziologischer Perspektive. Und er findet eine Warnung: Die Kindheit ist in Gefahr.
Mit zahlreichen Beispielen macht Renz-Polster deutlich, wie sehr wirtschaftliche Interessen die frühkindliche Bildung beeinflussen; und damit den Jüngsten Schaden zufügen. Er entlarvt die Forderungen nach Bildungsreformen als das Streben einer Bundesregierung, die Frauen als das „am schnellsten aktivierbare ungenutzte Potential für den Arbeitsmarkt“ definiert. In deren Kindern wiederum, so das Institut der Deutschen Wirtschaft Köln, stecke „ausreichend Humankapital“, um die dringend notwendige „technologische Wettbewerbsfähigkeit und Attraktivität für ausländische Investoren“ zu sichern. In Anbetracht der Kinder als Investitionsmaterial wird die Kita zum „heiligen Gral“ eines ganzen Wirtschaftsmodells, schreibt Renz-Polster. Alles in der Hoffnung, dass diese heute noch kleckernden, nervenden, randalierenden Wesen eines Tages endlich zu etwas Nutze sind. Dafür aber müsse die Schule nicht länger als „soziale Einrichtung“ gelten sondern zur „Dienstleistungsgesellschaft im Bereich Bildung“ umgebaut werden, so sieht es der Hessische Unternehmerverband.
Uns emanzipierte Eltern erwischt die Analyse ziemlich kalt. Haben wir doch gerade angefangen selbstsicher zu verkünden, dass nur eine zufriedene Mutter eine gute Mutter sein kann. Und das bedeutet eben für viele, dass es in ihrem Leben mehr geben muss als Kartoffelbrei, Fischstäbchen und dreckige Wäsche. Eben noch schauten wir eifersüchtig nach Schweden und Frankreich, wo die flächendeckende Kinderbetreuung den Frauen das Gebären und das Arbeiten gleichzeitig erlaubt. Und nun hat sich der Wind unmerklich gedreht. Mehr Kitaplätze, längere Betreuungszeiten, frühere Einschulung scheinen doch nicht das Maß aller Dinge. Die Zeichen sind zaghaft: Wenig Beachtung fand eine Bewegung junger Mütter in Frankreich, die mehr Zeit mit ihren Kindern forderten und sich dabei Feministinnen nannten. Dass Kristina Schröder ihren Job als Ministerin und Mutter nicht schaffen konnte, wurde ihr als persönliche Schwäche ausgelegt. Als der hochgelobte Pädagoge Jesper Juul das ach so fortschrittliche Kinderbetreuungssystem in Schweden kritisierte, nahm das kaum einer wahr.
Kinder sollten lernen, ein eigenes Rückgrat zu entwickeln
Denn wir sind auf einem anderen Weg. Auf einem, der Wirtschaftswachstum und Erfolg verspricht. Da will niemand hören, dass es an Geld mangelt für eine flächendeckende gute Kinderbetreuung. Und dass die Wege, die in der frühkindlichen Bildung eingeschlagen werden, häufig Holzwege sind, wie Renz-Polster zusammenträgt: Da organisiert die Microsoft AG eine „Schlaumäuse-Initiative“, die Telekom-Stiftung finanziert das Kitaprojekt „Die digitale Gesellschaft – Kinder erforschen Kommunikation“ und im Wissenschaftsjahr 2015 ist das Thema „Mobilität der Zukunft“ dran. Die Autostadt GmbH (Volkswagen) sitzt schließlich im Stiftungsrat.
Dabei müssten kleine Kinder erst einmal ganz andere Dinge lernen. Die für sie wichtigen Herausforderungen bestünden darin, eigene Impulse, Emotionen und die Kreativität zu steuern. Sie müssen erlernen, mit den Gefühlen anderer umzugehen und erst einmal ein eigenes Rückgrat entwickeln. Diese „Fundamentalkompetenzen“ aber könne man weder lehren noch vorleben, geschweige denn üben. Sie beruhen auf Eigenerfahrung. Und hier versage jedes pädagogische Konzept.
Schwierig einzusehen ist das sicherlich für die Planer und Organisatoren des möglichst optimiert heranzuzüchtenden Humankapitals. Für uns Eltern aber ist diese Erkenntnis eine Einladung, den Kindern – anders als uns selbst – mehr Zeit zuzugestehen. Und damit einen entschleunigten Schonraum, den wir sichern müssen, wenn die Ansprüche an sie schon viel zu früh hochgekocht werden.
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