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Asylkompromiss - Die Grünen haben als Oppositionspartei versagt

Einer gegen alle: Winfried Kretschmann hat dem Asylkompromiss im Bundesrat im Alleingang zugestimmt – und damit seine Partei gegen sich aufgebracht. Der Ministerpräsident Baden-Württembergs hat damit grüne Oppositionsfähigkeit beschädigt. Und nebenbei ein ruhigeres, ideologiefreies Nachdenken über eine tragfähige Flüchtlingspolitik verhindert. Eine Analyse

Autoreninfo

Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Ein bisschen wollten sich die Grünen bei ihrem Freiheitskongress am Freitag selbst finden. Ökologische Gerechtigkeit, individuelle und gesellschaftliche Freiheit – das waren die Themen, mit denen Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt in den Bundestag einlud.

Stattdessen ärgerte sie sich, suchte Ausflüchte. Die Bundesratsentscheidung zum Asyl halte sie für „falsch“ und „bedauere sie“, sagte sie in die Kameras. „Die kleinen Verbesserungen für die Situation der Flüchtlinge“ reichen aus ihrer Sicht nicht aus, „um eine Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf rechtfertigen zu können“.

Es war ein Seitenhieb gegen Winfried Kretschmann. Jenen Mann, der als erster grüner Ministerpräsident Geschichte geschrieben hat, und der nun die grüne Partei düpiert hat. Im Versuch, gute Regierungsfähigkeit zu beweisen, hat er zugleich grüne Oppositionsfähigkeit ad absurdum geführt. Er hat die Partei tief verunsichert, gespalten.

Der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs hat ein Asylgesetz ermöglicht, das seine Partei ablehnt. Flüchtlingspolitik – das gehört eigentlich zur DNA der Grünen. Der Gründungsmythos.

Mit Kretschmanns Stimme verabschiedete der Bundesrat einen Gesetzentwurf, mit dem Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina künftig als sichere Herkunftsstaaten eingestuft werden. Asylanträge von Flüchtlingen aus diesen Staaten können damit künftig schon binnen drei Monaten bearbeitet und abgelehnt, die Betroffenen schnurstraks abgeschoben werden.

Im Bundestag hatte die Grünen-Fraktion den Gesetzentwurf abgelehnt. Auch sechs Bundesländer, die von Grünen mitregiert werden, widersprachen im Bundesrat.

Die Große Koalition hätte das Paket niemals durch die Länderkammer bekommen, hätten sich alle von Grünen mitregierten Länder sowie das rot-rot regierte Brandenburg verbündet. Die Opposition hätte die Asylreform also stoppen können.

In letzter Minute scherte das grün-rot regierte Baden-Württemberg schließlich aus der Ablehnerfront aus. Innenminister Thomas de Maizière bejubelte das Ergebnis als „wichtigen Schritt“ für die Bewältigung der Asylbewerberzahlen und der damit einhergehenden Probleme.

Kretschmann alleine gegen die Partei


Flüchtlings- und Menschenrechtsverbände hatten den Gesetzentwurf unter anderem kritisiert, weil er sich gegen die Roma richte: In den Ländern des Westbalkans werde diese Bevölkerungsgruppe häufig noch massiv diskriminiert. Auch Schwule und Lesben fühlten sich dort unter Druck gesetzt.

Die Bundesregierung brachte allerdings vor, dass die Masse an Asylanträgen aus diesen Ländern die Hilfe da verhindere, wo sie wirklich notwendig sei: Schutzsuchende aus Syrien und Irak hätten damit das Nachsehen. Zudem haben nur sehr wenige Asylanträge aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina Erfolg. Die Anerkennungsquote liegt bei 0,3 Prozent. Viele Kommunen zeigen sich überfordert vom Andrang der Flüchtlinge, auch das Bundesamt kommt mit den Anträgen kaum nach. In Berlin eskalierte die Situation an der Gerhart-Hauptmann-Schule. Flüchtlinge besetzten in der vergangenen Woche das Büro der Bundesgrünen und drohten mit weiteren Blockaden in den Zentralen anderer Parteien.

Bundesvorstand und Parteirat der Grünen hatten sich am Donnerstagabend noch gegen die Asylreform gestellt. In einem gemeinsamen Beschluss heißt es: Es sei „zynisch, wenn Union und SPD die Asylsuchenden aus dem westlichen Balkan für die Situation in den Kommunen verantwortlich machen“.

Kretschmann hatte aber ein Hintertürchen in dem Vorstandspapier ausgenutzt. Darin hieß es, es sei zu respektieren, „wenn grün-mitregierte Länder in ihren Kabinetten zu einer anderen Abwägung kommen sollten“.

Der baden-württembergische Regierungschef hatte sein Ja zuvor an Änderungen in den Aufenthaltsbestimmungen für Flüchtlinge geknüpft. Die Union gab einigen Forderungen nach – heraus kam ein klassischer Deal. Kretschmann sprach von „subtanziellen Verbesserungen, für die wir teilweise seit Jahren kämpfen“.

Residenzpflicht wird abgeschafft


Die wohl wichtigste Erleichterung in dem Maßnahmenpaket: Für Asylbewerber und Geduldete fällt ab dem vierten Monat Aufenthalt in der Bundesrepublik die Residenzpflicht weg. Damit können sich Betroffene künftig in ganz Deutschland frei bewegen.

Kretschmann lobte auch, dass die sogenannte Vorrangprüfung auf dem Arbeitsmarkt gelockert wird. Diese Regel besagt, dass ein Arbeitgeber, der einen Asylbewerber anstellen möchte, erst prüfen muss, ob es nicht einen Deutschen oder EU-Angehörigen für die gleiche Stelle gibt. Künftig gelten Asylbewerber noch für 15 Monate als Arbeitnehmer zweiter Klasse. Allerdings sind anderthalb Jahre ein langer Zeitraum – in dem die Anträge vieler Betroffenen häufig längst bearbeitet sind, sie also schon abgeschoben wurden oder bereits einen festen Aufenthalt haben. Zudem bleibt das absolute Beschäftigungsverbot bestehen, künftig für drei statt neun Monate.

Das Bundesverfassungsgericht hatte angemahnt, dass Betroffenen häufig nur Lebensmittelmarken ausgereicht werden, statt ihnen selbst zu überlassen, wie sie ihre Mittel verwenden. Der Vorrang für dieses Sachleistungsprinzip fällt nun zumindest in Teilen: Im neuen Gesetz ist vom „Vorrang für Geldleistungen“ die Rede. Diese Formulierung hält die Behörden aber nicht davon ab, im Einzelfall doch Gutscheine und Kleidungen auszuhändigen.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sagte, diese „Verbesserungen“ seien ihm „eine echte Freude“. Die wichtigsten Forderungen der Asylbewerber und ihrer meist ehrenamtlichen Betreuer seien „nun allesamt erfüllt“. Er bezeichnete Kretschmanns Entscheidung im Bundesrat gegenüber Cicero Online als „pragmatisch“, „verantwortlich“ und einen „Riesenverdienst“. „Die Asylbewerberzahlen steigen so rasch an, dass wir Kommunen Klarheit brauchen, unter welchen Randbedingungen wir arbeiten. Das ist nun der Fall.“

SPD-Landeschef Albig gefriert „das Blut in den Adern“


Palmer forderte zugleich mehr Hilfe von Land und Bund. Derzeit seien in Tübingen etwa 200 Asylbewerber untergebracht. Er versprach, die einjährige Erstunterbringung zu verbessern: „Wir planen, die Kapazität kurzfristig zu verdoppeln.“ Palmer muss sich am 19. Oktober einer Oberbürgermeisterwahl in Tübingen stellen.

In jedem Fall haben die beiden Ober-Realos Kretschmann und Palmer fast die gesamte Partei gegen sich. Grünen-Chefin Simone Peter kritisierte den Kompromiss als „falsch“, das Gesamtpaket als „unzureichend“.

Im Tagesspiegel warf Linksparteichef Bernd Riexinger den Grünen einen „Verrat an der eigenen Identität“ vor. Aber auch in der SPD gab es kritische Stimmen. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig sagte in seiner Rede vor dem Bundesrat, die die ARD-Tagesschau dokumentierte: „Die Tinte, mit der dieser Kompromiss geschrieben wurde, kommt geradewegs aus dem Gefrierschrank“. Ihm gefriere „das Blut in den Adern“ angesichts der sozialen Kälte des Gesetzes.

Das Grundrecht auf Asyl wurde 1993 massiv beschnitten. Damals wurden die sicheren Herkunftsstaaten, die soeben auf den Westbalkan erweitert wurden, eingeführt. Seitdem wurde jeder Flüchtling, der über diese Drittländer nach Deutschland einreiste, dorthin wieder abgeschoben. De facto hatte die Bundesrepublik das Asylproblem damit an die EU-Außengrenzen entsorgt: Denn die meisten Schutzsuchenden kommen eben nicht per Flugzeug, sondern mit dem Boot oder zu Fuß.

Selbst Winfried Kretschmann betonte in seiner Begründung, dass er die Institution der sicheren Herkunftsländer eigentlich ablehnt: „Ich hielt und halte diese Einschränkung für falsch.“ Umso erstaunlicher, dass er diese mit seinem Votum nicht nur bestätigt, sondern sogar ausgeweitet hat.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass die Grünen bei der Frage der sicheren Herkunftsstaaten etwas substanziell hätten verändern können, sie hätten doch einen deutlich weitergehenden Kompromiss erzielen können. Über die Minimalzugeständnisse, die Kretschmann der Bundesregierung abringen konnte, hinaus. Die Liste ist lang: Bund und Länder müssen den Kommunen deutlich mehr finanzielle Mittel bereitstellen, um Unterkünfte für Asylbewerber bereitzustellen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge braucht zudem mehr Personal, um all die Verfahren zu bewältigen. Der Grünen-Bundesvorstand forderte, eine nationale Flüchtlingskonferenz einzuberufen: ein dringender, guter Vorschlag.

Um die Wogen zu glätten, kündigte Kretschmann für den 13. Oktober selbst einen Asylgipfel in seinem Land an. Er wolle sich mit Kirchen, Kommunen und Hilfsorganisationen an einen Tisch setzen.

Doch damit kommt er viel zu spät. Warum kam dieses Angebot nicht vor seinem Entscheid im Bundesrat? Überhaupt hätte das Thema mehr Zeit gebraucht. Stattdessen wurde die Flüchtlingsfrage schnell zwischen Landtagswahlen, Ukraine-Krise und IS-Bekämpfung abgehandelt, angefeuert von der Polemik der AfD.

Die Grünen hätten die Möglichkeit gehabt, diesen Prozess zu entschleunigen. Sie hätten den Punkt im Bundesrat vertagen oder an den Vermittlungsausschuss verweisen können. Dort hätten alle Parteien noch einmal in Ruhe – und ganz ideologiefrei – über eine tragfähige Flüchtlingspolitik miteinander reden können. Kretschmann hat diese Bemühungen zunichte gemacht. Womöglich auch mit Blick auf seine eigenen Landtagswahlen im Frühjahr 2016: Lieber das Thema schnell abräumen, als sich kurz vor dem Wahlkampf mit diesen unpopulären Fragen herumärgern. Denn ob es dann nochmals für eine zweite Amtszeit reicht, ist derzeit mehr als ungewiss.

Von den grünen Freiheits- und Gerechtigkeitsdogmen bleibt nach diesem Tag nicht viel hängen. Stattdessen hat die Partei es versäumt, sich als echte Opposition zu behaupten.

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