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Jugend & Migration - Religiosität hemmt die Gewaltbereitschaft

Entgegen anderslautender Meldungen stellte der Münsteraner Kriminalwissenschaftler Christian Walburg in einem Gutachten fest, dass die Jugend- wie Ausländerkriminalität in Deutschland stetig abnimmt. Ein Interview über Statistiken, Medien und Religion

Autoreninfo

Maike Hansen studiert Kulturwissenschaften mit den Schwerpunkten Literatur und Linguistik an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sie absolviert außerdem als Stipendiatin die Journalistische Nachwuchsakademie der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Cicero Online: Mit welchen Mythen zum Thema Migration und Jugenddelinquenz sollte Ihrer Meinung nach aufgeräumt werden?
Christian Walburg: Vor allem mit dem Mythos der Ausländerkriminalität. Das ist keine sinnvolle analytische Kategorie, und Kriminalität lässt sich nicht auf die ausländische Herkunft zurückführen. Zum Beispiel fallen erwachsene Einwanderer – die sogenannte erste Generation – meist nicht häufiger durch Straftaten auf. Auch sollten etwa Flüchtlingsjugendliche und Nachkommen von Gastarbeitern aufgrund unterschiedlichster Lebensumstände nicht in einen Topf geworfen werden.

Laut Kriminalstatistik nahm die Jugendkriminalität bundesweit seit 2005 um 22,4 Prozent ab, bei ausländischen Jugendlichen um 17,6 Prozent. Wieso sind die Statistiken dennoch im Hinblick auf das Thema Straftäter mit Migrationshintergrund mit Vorsicht zu genießen?
Man kann beobachten, dass auch ausländische Jugendliche momentan selbst unter Berücksichtigung demografischer Veränderungen immer seltener wegen Straftaten registriert werden. Das gilt vor allem für Gewaltdelikte, eine Ausnahme gibt es nur bei Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht. Was Vergleiche zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund betrifft, ist die offizielle Statistik aber wenig aussagekräftig, da sie die Tatverdächtigen nur nach Staatsangehörigkeit in Deutsche und Ausländer unterteilt. Zwei Drittel der Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben jedoch die deutsche Staatsbürgerschaft. Zu deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund sagt die Statistik nichts aus.

Spielt der Migrationshintergrund in anderen Statistiken eine Rolle?
In einigen Sonderauswertungen zum Thema Intensivtäterschaft in einzelnen Städten wird der Migrationshintergrund berücksichtigt. Die Innenminister haben zudem immer mal wieder darüber diskutiert, ob der Migrationshintergrund als Merkmal generell in die Statistiken aufgenommen werden sollte.

Würden Sie es befürworten, wenn in den Statistiken das Kriterium „Jugendliche mit Migrationshintergrund“ eingeführt werden würde?
In Berlin hat man das bis 2012 gemacht, nach meiner Kenntnis ist das nun aber wieder eingestellt worden. Die offiziell registrierte Gewaltbelastung bei deutschen Jugendlichen mit Migrationshintergrund unterschied sich in Berlin nur unwesentlich von der bei deutschen Jugendlichen ohne Migrationsbezüge. Solche Zahlen können möglicherweise zu einer sachlicheren Debatte führen. Andererseits erhöht die Registrierung den Arbeitsaufwand der Polizei, und sie ist fehleranfällig. Zudem könnte dies suggerieren, Kriminalität sei auf die ausländische Herkunft zurückzuführen.

In einer Sonderauswertung zu jugendlichen Intensivtätern in Berlin stellte sich heraus, dass 70 Prozent einen Migrationshintergrund besitzen. Um welche Gruppe von Migranten handelt es sich?
Aktuell hat sich der Anteil noch weiter erhöht. Es handelt sich in Berlin überwiegend um junge Menschen aus dem Nahen Osten, Angehörige von Flüchtlingsfamilien. Die Gründe liegen nicht zuletzt in den prekären Lebensumständen und den unsicheren Zukunftsaussichten der Flüchtlinge. Jugendliche aus klassischen Gastarbeiterfamilien, deren Familien schon seit Jahrzehnten hier leben, zählen dort eher nicht zur Gruppe der Intensivtäter.

Warum wird die Tatsache, dass ausländische ebenso wie deutsche Jugendliche derzeit seltener wegen Straftaten registriert werden, nicht in der breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen?
In der Öffentlichkeit kam das noch nicht so wirklich an. Es ist meist weniger interessant, über die Beruhigung einer bestimmten Lage zu berichten, als sich einer Zuspitzung von Problemen zuzuwenden. Hinzu kommt: Das Bild von der „immer schlimmeren“ Jugend ist, ebenso wie das des „gefährlichen Fremden“, uralt und nur schwer zu erschüttern.

Spielt es für die Meinungsbildung über Jugendkriminalität eine Rolle, ob private oder öffentlich-rechtliche Nachrichtensendungen geschaut werden?
Da die meisten Menschen glücklicherweise nicht täglich persönlich mit ernsterer Kriminalität konfrontiert sind, bilden sie sich ihre Meinung durch Medienkonsum. Eine deutsche Studie gibt Hinweise darauf, dass in Nachrichtensendungen des Privatfernsehens Gewaltdelikte oft stark zugespitzt werden. Das wirkt sich auf die eigene Meinungsbildung aus.

Werden Jugendliche mit Migrationshintergrund deswegen öfter angezeigt?
In Befragungsstudien zeigt sich, dass Menschen in Konfliktsituationen eher Personen anderer ethnischer Herkunft anzeigen. Den Betroffenen fehlt in dieser Situation häufiger das Vertrauen, einen Konflikt selbst angemessen lösen zu können. Wenn sie den gleichen ethnischen Hintergrund haben und aus einem ähnlichen sozialen Milieu stammen, wird hingegen seltener angezeigt.

Unter welchen Bedingungen werden Jugendliche gewalttätig und kriminell?
Gewalt stellt gerade für junge Männer in schwierigen Lebenssituationen eine Ressource dar, um Anerkennung und eine Machtposition in einer bestimmten Gruppe zu bekommen. Je besser die soziale Integration ausfällt, etwa die Bildungsperspektiven, desto mehr verliert Gewalt an Attraktivität. Wichtig ist auch, welche Einstellung zu Gewalt im sozialen Umfeld vermittelt wird. Zum Beispiel befördern gewaltsame Erziehungsstile ein ähnliches Denken beim Kind. Jugendliche aus Migrantenfamilien berichten so etwas häufiger. Man muss aber berücksichtigen, dass Gewalt auch in Einwandererfamilien die Ausnahme ist.

Wie hängen Religion und Gewaltdelikte bei jungen Menschen mit dem Migrationshintergrund zusammen?
Allgemein zeigen Untersuchungen, dass eine ausgeprägte Religiosität mit stärkeren sozialen Bindungen und Kontrollen und damit mit geringerer Gewaltbereitschaft einhergeht. Speziell bei Jugendlichen aus muslimischen Familien ist die Befundlage nicht ganz eindeutig. Allerdings finden sich keine Belege für die Annahme, dass stärkere religiöse Bindungen in dieser Gruppe zu mehr Gewalttaten führen. Ein geringerer Alkoholkonsum scheint hier ein wichtiger Schutzfaktor zu sein.

Inwiefern verursacht die Diskussion um Migrantenkriminalität gesamtgesellschaftliche Probleme?
Problematisch wird es immer dann, wenn pauschalisiert und ethnisiert wird. Intensivtäter sind auch unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund eine kleine Minderheit, und Kriminalität kann nicht mit einer bestimmten Herkunft erklärt werden. Wird eine ganze Gruppe als kriminell stigmatisiert, kann das für den einzelnen jungen Menschen ganz konkrete Schwierigkeiten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, aber auch im Alltag – und sei es an der Diskotür – nach sich ziehen. Das schadet der Integration.

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