- Untergrund-Bewegung
Mit Studenten wie Humboldt oder Novalis war die Bergakademie in Freiberg einst ein Thinktank der deutschen Romantik
Der Alte war vorangekrochen. Unter höchsten Gefahren und verbunden mit extremen körperlichen Anstrengungen war er über unzählige Leitern hinweg in schmale und nasse Schächte hineingestiegen und hatte sich gehend und später kriechend in die Abgeschiedenheit der Berge vorgegraben. Sein Ziel: „In engsten Stollen wie in tiefsten Schluchten / ein Licht zu suchen, das den Geist entzünde.“
Erfolg hatte er indes nicht: Als Johann Wolfgang von Goethe im Alter von 64 Jahren aus der „Bergwercks-Commission“ des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach ausschied, musste er schweren Herzens erkennen, dass sein Ringen um den Bergbau aus finanzieller Sicht eine Enttäuschung, vielleicht sogar eine Katastrophe war. Und doch: In seinem Engagement um die Montanunternehmungen im Thüringer Wald – vor allem im damaligen Bergwerk Ilmenau – war der Geheimrat und „Director über alle Bergwerks-Angelegenheiten“ über fast 30 Jahre hinweg zum role model für die nachwachsende Generation geworden.
Kulturelles Zentrum Freiberg
Das Bild vom Schöngeist unter Tage nämlich hatte die Fantasie entfacht, und angetrieben vom Tiefenrausch Goethes ließen sich jetzt jüngere Dichter – etwa E.T.A. Hoffmann oder Novalis – in die mystischen Abgründe der Berge hineinziehen: Hunderte Meter unter der Rasenkante drangen sie in eine Welt vor, die an Zauber und Magie kaum zu überbieten war. Überall ein Funkeln und Glitzern. Da standen Romanhelden mit einem Mal vor Abbruchkanten, sahen in tiefste Abgründe hinein oder stiegen hinab bis in die letzten Berginnereien. Denn: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg“ – so wollte es zumindest die Parole der durch Bergbau und Montanindustrie beeinflussten jungen Romantiker.
Dreh- und Angelpunkt der kulturellen Tiefenbohrung: die Bergakademie Freiberg, eine damals noch junge Hochschule im Erzgebirge. 1765 unter dem Namen Kurfürstlich-Sächsische Bergakademie von Prinz Xaver von Sachsen und dem preußischen Staatswirt Friedrich Anton von Heynitz gegründet, bestand ihr vornehmstes Ziel in der Förderung der angeschlagenen sächsischen Wirtschaft: Nach der Niederlage des Kurfürstentums im Siebenjährigen Krieg nämlich mussten Wege gefunden werden, um aus Erzen Geld und Gold zu machen. In Freiberg sollten für diese Herausforderung emsige Jung-Bergleute im Alter zwischen 16 und 26 ausgebildet werden.
Novalis‘ Gang in die Tiefe
Eine Erfolgsgeschichte; heute ist die Technische Universität Bergakademie Freiberg die älteste montanwissenschaftliche Hochschule der Welt, und auch schon Ende des 18. Jahrhunderts, gerade einmal 20 Jahre nach ihrer Gründung, lobte man die neue Ausbildungsstätte in den höchsten Tönen. So schrieb der sächsische Chronist und Lokaldichter Heinrich Keller über den neuen Wissenschaftsstandort südwestlich von Dresden: „Die Churfürstlich Sächsische schriftsäßige Hauptbergstadt Freyberg ist als die dritte vorzügliche Stadt des Churfürstenthums Sachsen und als die erste in Rücksicht auf die hier blühenden Bergwissenschaften in ganz Deutschland zu betrachten.“
Ausgerechnet hier also, wo junge Menschen in Mineralogie, Mechanik, Physik oder reiner Mathematik ausgebildet wurden, blühten mit einem Mal Poesie und blaue Blumen auf. Hauptverantwortlich für den träumerischen shift war ein damals 25-jähriger Student, der im Dezember 1797 zur Ausbildung in die alte sächsische Bergstadt gekommen war: der aus einer norddeutschen Adelsfamilie stammende Friedrich von Hardenberg, der Nachwelt besser bekannt unter seinem später zugelegten Pseudonym Novalis. Nicht, dass dieser junge Mann kein Interesse an dem kalten Fachwissen des vorzüglichen Freiberger Lehrkörpers gehabt hätte; doch der ausgebildete Jurist betrieb sein neues Studium nicht ausschließlich für montanwissenschaftliche Zwecke. Der Gang in die Tiefe wurde für Novalis zum Sinnbild für die Verinnerlichung des Menschen an sich. Denn, so das bis heute sicherlich berühmteste Credo von Novalis: die Welt wartete darauf, romantisiert zu werden. In Anlehnung an die deutsche Mystik, an Johannes Tauler oder Jakob Böhme, glaubte der Jungromantiker wild entschlossen daran, dass die Mineralien und Erze, die dunklen Stollen und funkelnden Steine nur Schatten einer ewigen, inneren Wahrheit seien; das Freiberger Bergwerk mit dem fast sprichwörtlichen Namen „Himmelfahrt Fundgrube“ ein Spiegelbild eines unendlichen Bergwerks der Seele: „Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht […]. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit.“
Zur Grotte des ewigen Lebens
Geradezu versessen war Novalis jetzt auf den Weg nach innen. Sprachgewaltig begeht er ihn schließlich in seinem in Freiberg begonnenen Romanfragment „Heinrich von Ofterdingen“, der geradezu traumverlorenen Geschichte um einen mittelalterlichen Sänger, der auf einer seiner Abenteuerreisen in das Innere eines Berges verschlagen wird. Hier, in irgendeinem der zahlreichen Stollen, trifft er auf einen Einsiedler, der Heinrich nicht nur von vergangenen Epochen der Menschheit erzählt, er hütet zudem eine alte Chronik, die Heinrichs eigene Lebensgeschichte enthält – darin die längst vergangenen, aber auch die noch kommenden Kapitel.
Dem Leser des „Heinrich von Ofterdingen“ ist es, als würde die Zeit stillstehen im Inneren dieser Berge. Zwischen Grotten und Felskathedralen träumt die Menschheit den Traum ihrer eigenen Unsterblichkeit. Vom Bergwerk zu
Falun über die Sage vom Weiterleben Barbarossas im Kyffhäuser bis zum Venusberg im Tannhäuser reichen später noch die romantischen Variationen zur spelunca aevi – zur Grotte des ewigen Lebens. So wurden Stollen und Gruben zu Orten, in denen sich neben Fossilien und Gesteinen auch Wissen, Weisheit und Geschichte ablagern konnten.
Die neue deutsche Innerlichkeit floh so aus der politisch brisanten Wirklichkeit ihrer Epoche und nahm Platz im Innern der Erde.
Humboldts Anfänge
Dass dies nicht notgedrungen nur Rückzug und Regression bedeuten musste, bewies um dieselbe Zeit ein anderer Studiosus in Freiberg. Sechs Jahre vor Novalis, im Juni 1791 nämlich, sollte sich an der damals noch jungen Hochschule ein kommender Genius immatrikulieren: der damals 21-jährige Alexander von Humboldt. Eigentlich wollte der in den historischen Gemäuern an der heutigen Akademiestraße nur sein Interesse an Geologie und Naturwissenschaften vertiefen. Doch Freiberg prägte nachhaltiger. In der Stadt an der östlichen Mulde bereitete sich Humboldt das Fundament für seine Karriere als letzter Universalgelehrter Europas.
In nur acht Monaten absolvierte der rastlose und stets etwas einsame Humboldt ein Studium, das eigentlich auf drei Jahre angelegt war. Während er tagsüber in die Dunkelheit der vielen Stollen und Bergwerke kroch, verbrachte er die Abendstunden mit Messungen, empirischen Beschreibungen, Klassifizierungen. Besonders die Frage, wie das Licht das Wachstum von Pflanzen beeinflussen könne, trieb ihn in seiner Freizeit um. So schaffte er es in der damals gerade einmal 8000 Einwohner zählenden jungen Universitätsstadt in kürzester Zeit zum Bergassessor und hatte darüber hinaus auch noch Zeit, um seine ein Jahr später erscheinenden ersten Bücher vorzubereiten; darunter ein Aufsatz über das Basaltgestein am Rhein und eine Abhandlung über die unterirdische Flora in Freiberg. Unter dem Titel „Flora Fribergensis“ beschreibt er in dem kleinen Bändchen ungewöhnliche pilz- und schwammartige Pflanzen, die auf den feuchten Holzbauten im Erdinneren wachsen. Und als wäre die Publikation eine erste Fingerübung für den späteren Weltruhm, nutzt er sie, um als erster Forscher überhaupt Gewächse und Pflanzen zu beschreiben, die vor ihm von kaum einem Auge gesehen wurden.
Freiberg, der Baustein der Romantik
Eine blaue Blume, wie sie später Novalis in seinem „Heinrich von Ofterdingen“ vorschwebt, ist indes nicht unter diesen Entdeckungen. Noch ist Humboldts Blick auf den Untergrund des Weltganzen von eher prosaischer Natur. Der Mann, der später einmal ganz im Geiste der Romantik erkennen wird, dass in der Welt alles mit allem zusammenhängt, benötigt noch einige Jahre Zeit, um der vermeintlich toten Natur eine lebendige Seele einzuhauchen. „Es sind aber die Einzelheiten ihrem inneren Wesen nach fähig wie durch eine aneignende Kraft sich gegenseitig zu befruchten“, wird Humboldt gut 50 Jahre nach seinem wissenschaftlichen Einstand in Freiberg im Lebenswerk „Kosmos“ niederschreiben. Für ihn selbst wie für viele andere Köpfe seiner Zeit war die Ausbildung an der Bergakademie ganz sicher eine solch „aneignende Kraft“. Freiberg, das war für viele Baustein im „belebten Ganzen“ der deutschen Romantik.
Dies ist ein Artikel aus dem Sachsen-Sonderheft „Erzfreunde“ von Cicero und Monopol.
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