- Grimm'sche Märchen in der DDR
Grimm'sche Märchen wurden auch in der DDR gelesen – unter Vorbehalt. Die umstrittene Sammlung wurde nicht zuletzt durch Karl Marx auch im Sozialismus salonfähig
Der Märchenstreit
In einer Leserzuschrift der Leipziger Volkszeitung vom 5. Februar 1947 ist unter der Überschrift „Die grausamen Märchen“ u.a. folgendes zu lesen:
„Bei der Durchsicht der Grimmschen Märchen ergibt sich, daß sie neben allem Schönen, Zauberhaften und Wundersamen ungeheuerliche Grausamkeiten enthalten [...] Auf den 868 Seiten des ersten Bandes der Grimmschen Märchen – die Durchsicht der weiteren Bände sei stärkeren Naturen überlassen – gibt es etwa fünfzig gewaltsam Umgebrachte [...]. Bei der Sichtung unserer Literatur, bei der Fahndung nach allem, was Schuld trägt an der Katastrophe, ihren Ursachen und Folgen, sollte man auch einmal die Märchen mit durch das große Sieb rütteln, damit alle die Grausamkeiten herausfallen [...].“
Eine solche Äußerung ist in den Nachkriegsjahren durchaus kein Einzelfall. Vielmehr wurde der Streit um den Wert oder Unwert dieses (volks)literarischen Erbes niemals mit größerer Heftigkeit ausgetragen als zwischen 1945 und der ersten Hälfte der 50er Jahre.
Auf der Suche nach den Ursachen der Ungeheuerlichkeiten des Nationalsozialismus gerieten auch Märchen in den Verdacht, ein ganzes Volk für die Greuel des NS-Regimes disponiert zu haben. Insbesondere die Kinder- und Hausmärchen [KHM] der Brüder Grimm wurden zur Zielscheibe der Verdächtigungen.
Hier nur zwei Beispiele aus der Fülle kontroverser Positionen[1]:
Bereits im September 1946 war den Berliner Schulämtern eine Denkschrift der Britischen Militärregierung zugegangen (Das deutsche Märchen als eine Ursache der Entartung der deutschen Jugend), in der auf einer deutlichen Reduzierung von deutschen Märchen, Sagen und Legenden als Unterrichtsstoffen insistiert wurde[2]. 1947 begründete T.J. Leonard, Major der Britischen Armee, unter dem bezeichnenden Titel First steps in cruelty diese Entscheidung. Er sah durch die KHM ‚ein[en] morbiden Zug im Unbewußten entstehen, [...] im Unbewußten [sei die] Jugend an alle Spielarten der Grausamkeiten und Perversitäten gewöhnt worden’ (Leonard, 111/113). Nur so hätte ‚diese hoch gebildete christliche Nation buchstäblich Hunderttausende von Männern und sogar Frauen hervorbringen können, die jederzeit bereit sind, sich wie Frankenstein-Monster aufzuführen und die Rolle des Henkers ohne die geringsten Gewissensbisse zu übernehmen’ (ebd., 113/114).
Auch in der SBZ und in der DDR waren die Grimmschen Märchen bis in die 50er Jahre hinein nicht unumstritten. 1952 konstatierte Wolfgang Steinitz, Direktor des neu gegründeten Instituts für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften, mit Befremden: ‚[D]ie negative Einstellung zum Volksmärchen ist fast allgemein’ (Steinitz, zitiert nach Korn, 437). Im Zentralorgan der SED, dem „Neuen Deutschland“, gab er bereits 1951 seinem Befremden darüber Ausdruck, daß in der DDR noch immer mit der Herausgabe der KHM gezögert würde, während in der Sowjetunion in den Nachkriegsjahren Auflagenhöhnen von 200 000 bis 300 000 Exemplaren erreicht worden sind (Neues Deutschland - Berliner Ausgabe vom 16./17.11.1951). Sein Appell an die Verlage blieb nicht ohne Folgen: Während einer 1952 einberufenen Arbeitstagung des Kinderbuchverlages betonte Oskar Hoffmann, Leiter der Abteilung Begutachtung des Amtes für Literatur und Verlagswesen, in seinem Eröffnungsreferat die Dringlichkeit einer verbindlichen Entscheidung: ‚[D]ie Erziehung zum Sozialismus (im Original gesperrt – K.W.) und zum humanistischen Realismus muß mit dem ersten Märchen, mit dem ersten Lied und dem ersten Bild beginnen’.
Märchen in der Pädagogik der DDR
Innerhalb der pädagogisch orientierten Märchendebatten gab es zwar anfänglich Vorbehalte gegenüber den KHM. Glücklicherweise konnten sich jedoch die Verteidiger des Märchens auf die hohe Wertschätzung berufen, die die Grimmsche Sammlung durch Karl Marx erfahren hatte. Jenny Marx schrieb über die Tochter Eleanor, die mit ihrem Vater in London lebte: ‚Besonders zeichnet sich das Kind durch allerliebstes Sprechen und Erzählen aus. Das hat es von seinen Brüdern Grimm gelernt, die Tag und Nacht seine Begleiter sind. Wir alle lesen uns stumm und dumm an den Märchen,[...]. Durch diese Märchen hat das Kind neben dem Englischen, das in der Luft liegt, auch das Deutsche gelernt, das es mit besonderer Regelrichtigkeit und Pünktlichkeit spricht’.
Mit dieser Rehabilitierung fanden die KHM bald als ‚realistische Volkskunst in phantastischer Form’ Eingang in den Alltag der sozialistischen Schule und der Kindergärten und wurden gleichberechtigt neben die großen Werke der National- und Weltliteratur gestellt.
Das dem Märchen unterstellte Tugendkonzept wurde mit geradezu missionarischem Eifer verteidigt, da es sozial-utopische Funktionen erfülle, die Kinder ‚mit den besten Volkskräften’ verbinde und sie ermutige, ‚kühn in die Zukunft zu träumen’ (Korn, 13). In einem Beiheft für Lehrer und Erzieher von 1952 heißt es u.a.: ‚Durch die positive, klare und verständliche Moral [fördere es] die Entwicklung wertvoller Eigenschaften unserer Kinder, [...]. Die Märchen leiten sie an zu einer hohen Achtung des Wertes menschlicher Arbeit. Sie erziehen zur Überwindung von Schwierigkeiten und wecken Tapferkeit und Mut [...] Der sich formende Charakter der kindlichen Persönlichkeit und ihrer gesellschaftlichen Erziehung werden also durch das Märchen stärkstens beeinflusst’ (Siebert, 5/7). In den einheitlichen und für alle Schulen verbindlichen Lehrplänen war für die Grundschule stets die Behandlung von Märchen vorgesehen.
Die Kinder der DDR waren durch Elternhaus, Kindergarten und Schule mit dem Genre Märchen bestens vertraut. Das Märchen bildete den Goldenen Fonds der Kinderliteratur und blieb unangefochtener Spitzenreiter in literatursoziologischen Untersuchungen. In einer DDR-repräsentativen Befragung von 1973 gaben 4311 Kinder der Klassen 1 bis 4 dem Märchen den Vorrang. Bei der Frage nach ihrem Lieblingsbuch stand die Grimmsche Sammlung mit großem Abstand an der Spitze. Diese Präferenz blieb in der gesamten DDR-Geschichte konstant. Eine Befragung von 865 Schülern des Bezirkes Magdeburg im Jahre 1988 ergab, dass innerhalb des Profils der Leseinteressen wiederum das Märchen (und hierbei mit großem Abstand die KHM) an erster Stelle stand, auch noch bei Schülern der 5. Klasse (vgl. Wardetzky, 41f). Interessant ist, dass die Kinder auf die Frage, woher sie die Märchen kennen, primär auf das eigene Lesen verwiesen.
Märchen in den audiovisuellen Medien und im Kindertheater
Neben den erwähnten Buchpublikationen haben die Kinder ihr Interesse am (Grimmschen) Märchen auch durch audiovisuelle Medien befriedigen können. Die LITERA-Schallplattenproduktion wurde mit beachtlichen staatlichen Subventionen gefördert – stets wurden erstklassige SchauspielerInnen verpflichtet und zur musikalischen Mitarbeit international anerkannte Orchester, Solisten und Komponisten herangezogen. Ein Teil dieser Märchenschallplatten wurde in die SCHOLA-Reihe übernommen. Das war eine Serie von kostenlosen Unterrichts-LPs für den Einsatz im Unterricht.
Gut ein Viertel der Gesamtproduktion für Kinder in Kino und Fernsehen der DDR war dem Märchen verpflichtet – als Kinofilm, Fernsehspiel oder –film, als Animations- oder Handpuppenfilm.
Bei der DEFA wurden zwischen 1950 und 1988 31 Märchenfilme gedreht, beginnend mit Paul Verhoevens Das kalte Herz (1950) und Wolfgang Staudtes Die Geschichte vom kleinen Muck (1953) nach Wilhelm Hauff. Ein wechselvolles Schicksal war dem Märchen auch im Kinder- und Puppentheater beschieden. Dort behauptete es nach anfänglichen Ressentiments seinen festen Platz im Repertoire für die unterste Altersstufe (5- bis 9jährige). Von 1980 – 1988 waren z.B. von 207 Inszenierungen der fünf professionellen Kindertheater 122 Märchenaufführungen.
Zum Standard gehörten Dramatisierungen der Grimmschen Texte wie auch internationaler, vor allem russischer Volksmärchen. Kennzeichnend für die 50er Jahre waren tendenziöse, sozial-didaktische Märchenbearbeitungen mit dem Versuch vordergründiger politischer Aktualisierung. Von dieser Verengung löste sich das Kindertheater ab den 70er Jahren. Für das ‚Nischenbewusstsein’ in den 80er Jahre erwies es sich als ein hoch geeignetes Material für experimentelle Ästhetiken und für die Artikulation von Grunderfahrungen, die zum Schmerzbereich der DDR-Bürger gehörten: die Behauptung und Verteidigung von Individualität gegen Bevormundung, ja existentielle Bedrohung. Durch die Ikonografie des Märchens war die Kommunikation über dieses Konfliktpotential weitaus eher und radikaler möglich als im Zeitstück. Diese Art der versteckten Aktualisierung war ablesbar u.a. an der Gestaltung der Königsebene. So wurde u.a. vorgeführt, wie sich das von den Mächtigen geschaffene System nicht nur gegen die Beherrschten, sondern gegen die Herrschenden selbst richtet und diese pervertiert – eine Kritik, die unverkennbar auf die aktuelle Verfasstheit der DDR zielte.
Literatur:
Bennung, Isa: Das deutsche Märchen als Kinderliteratur. Untersuchung von den Anfängen bis zur Entwicklung in der DDR. Phil. Diss. Halle 1975.
Hüttner, H./ Levenhagen, J./ Matthies, M.: Was lesen unsere Kinder. Ergebnisse einer literatursoziologischen Studie zum Leseverhalten der Schulkinder der 1. – 4. Klasse in der DDR 1973 / 1974. DDR-Zentrum für Kinderliteratur. Berlin 1977.
Kahlo, Gerhard: Die Wahrheit des Märchens. Halle/Saale 1954.
Korn, Ilse: Zum deutschen Volksmärchen. In: Der Bibliothekar. Berlin 1952, Heft 7/8, S. 437-452.
Korn, Ilse: Märchen für die Jüngsten. Eine Märchensammlung für die Hand der Kindergärtnerinnen und der Eltern. Berlin 1955, Vorwort.
Lenonard, T.J.: First Steps in Cruelty. In: Hessische Blätter für Volkskunde und Kulturforschung. N.F. 18 1985, S. 111-116.
Marx, Jenny: Zwei Briefe an Joseph und Louise Weydemeyer. In: Lafargue, Paul: Karl Marx. Eine Sammlung von Erinnerungen und Aufsätzen. Berlin 1947.
Richter-de Vroe, Klaus: Zwischen Wirklichkeit und Ideal. In: Berger, E./Giera,J. (Hg.): 77 Märchenfilme. Ein Filmführer für jung und alt. Berlin 1990.
Siebert, Hans: Was sind Märchen? Eine kurze Anleitung für Erzieher, Lehrer, Pionierleiter und Eltern. Berlin 1952.
Wegehaupt, Heinz: Ausgaben der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, die in der DDR bzw. nach 1945 auf dem Gebiet der heutigen DDR erschienen. In: DDR-Zentrum für Kinderliteratur 1978, Bulletin 17.
Wardetzky, Kristin: Märchen – Lesarten von Kindern. Eine empirische Studie. Berlin 1992.
Wardetzky, Kristin: Märchen. In: Steinlein,R. /Strobel,H. /Kramer, Th.(Hg.): Handbuch der Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR, Stuttgart 2006, Sp. 555-628.
[1] Eine ausführliche Darstellung des Märchenstreits in den Nachkriegsjahren in: Wardetzky 2006.
[2] Nach Kahlo (1954) erschien dieser Erlass als Meldung des ADN am 07.08.1948 in der Niedersächsischen Zeitung Hannover.
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